„Es tut nicht weh, seine Meinung zu ändern.“

Barbara Bleisch im Gespräch mit Hanno Sauer

Die Entwicklung der menschlichen Moral hat schon viele Denker beschäftigt, allen voran natürlich Friedrich Nietzsche in seiner Genealogie der Moral. Dr. Hanno Sauer, Philosoph und außerordentlicher Professor für Ethik an der Universität Utrecht, hat mit seinem neuen Buch Moral. Die Erfindung von Gut und Böse eine weitere umfangreiche Globalgeschichte unserer Werte und Normen vorgelegt. Am interessantesten liest sich das Buch, wenn es um die neueste Geschichte geht. Sauer gibt sich nämlich trotz überreizter Debatten über „Wokeness“, „Tugendterror“ und „Moralismus“ versöhnlich: Die Polarisierung in der Gesellschaft hält er lediglich für eine „Sortierung“. Im Großen und Ganzen sei man sich über die zentralen moralischen Werte einig.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 4-11

Vollständiger Beitrag als:

Ihr Buch Moral. Die Erfindung von Gut und Böse behandelt die Geschichte der Moral. Dafür gehen Sie weit in der Zeitgeschichte zurück, genauer 5 Mio. Jahre. Damals haben sich die Savannen auf unserem Globus ausgebreitet und die Menschen waren gezwungen, in Gruppen in diese Graslandschaften vorzudringen und gemeinsam zu jagen. Eine Gesellschaft von Egomanen hätte das gar nicht geschafft.

Ja, so ist es. Ich wollte das genealogische Projekt in der Moralphilosophie, das mit Nietzsche verbunden wird, fortsetzen und auf den neuesten Stand der Dinge reartikulieren. Ich sage manchmal auch: „Nietzsche, aber in wahr.“

Vielleicht sollten wir kurz erläutern: Nietzsche hat die Genealogie der Moral vorgelegt …

Meine Idee ist nicht, dass wir a priori aus reinen Vernunftprinzipien ableiten, was unsere moralischen Pflichten oder Werte sind oder wie wir zusammenleben wollen, sondern dass man eine Art archäologisches Projekt hat. Man untersucht, was die Herkunft unserer Werte überhaupt ist. Und: Was sind die wichtigsten moralischen Transformationen, die die Menschheit durchlaufen hat? Nietzsche hat sich vor allem für den Wandel von der antiken aristokratisch-heroischen Moral hin zur christlichen Mitleids- und Demutsmoral interessiert. Ich habe sieben Transformationen herausgegriffen und versuche, die verschiedenen Elemente, die entscheidend sind für unsere Moral – Kooperation, Ungleichheit, Strafen, Abhängigkeit und Lernen von anderen, Vertrauen usw. –, zu entschlüsseln und zu erklären, welche Rolle sie für uns als biologisches, kulturelles und sozialpolitisches Wesen gespielt haben.
 


Meine Idee ist, dass man eine Art archäologisches Projekt hat. Man untersucht, was die Herkunft unserer Werte überhaupt ist..


 

Wie passt das zum Titel Die Erfindung von Gut und Böse? Denn Sie zeigen eigentlich eine Entwicklung von Gut und Böse, die fast schon notwendig erscheint, weil sie was zu tun hat mit unserer Evolution. Eine Erfindung ist das dann gar nicht.

Der Untertitel ist halb ironisch gemeint. Unsere Moral (Normen, Werte) ist im gewissen Sinne eine soziale Konstruktion. Prozesse – wie die biologische Evolution, kulturelle Entwicklungen, soziale Genese und institutionelle Reformen sowie soziale Bewegungen – führen zu den Bausteinen dieser normativen Infrastruktur (Moral). Und das alles entwickelt sich in Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen mit technischen Entwicklungen, mit Wirtschaftswachstum, strukturellen Reformen, sozialen Praktiken, Konventionen und natürlich auch Umweltbedingungen.

Wenn wir z. B. auf die früheste Phase schauen, die Savannenbildung, dann sehen wir drastische Umweltveränderungen in Ostafrika, die mit dem ostafrikanischen Grabenbruch zusammenhängen. Unsere noch nicht menschlichen Vorfahren sind gewissermaßen isoliert worden und fanden sich in diesem Gebiet wieder. Es gab eine adaptive Prämie darauf, unser Kooperationsvermögen zu verbessern, um mangelnde Ressourcen besser zu finden und sich anzueignen. Aber auch zum Schutz gegen klimatische Veränderungen und größere Raubtiere. Damit geht unsere Geschichte der Kooperationsfähigkeit, als eigentliches Fundament unserer Moral, los.

Sie sagen, wir sind die Nachkommen der Freundlichsten. Es ist eine Selektion, die die Moral bevorzugt hat, auch wenn es immer Einzelne gab, die sehr egoistisch gehandelt haben. Insgesamt gesehen wurden jedoch diejenigen belohnt, die kooperativ-altruistisch waren.

Einen guten roten Faden durch unsere Moralgeschichte kann man ziehen, wenn man sich auf die Entwicklung und Zunahme unserer Gruppengrößen konzentriert. Technisch bezeichnet man das als die Skalierbarkeit von Kooperationsstrukturen. Wie schafft man es, von kleinen Familien oder Stammesgesellschaften mit vielleicht 15 Mitgliedern, dann 50, dann 600, 1.200 usw. zusammenzuleben? Da braucht man oft ganz neue institutionelle Lösungen und neue normative Werkzeuge, um diese Skalierungsschritte durchlaufen zu können. Ein wichtiger Schritt ist, dass Gruppen unter dem Druck zu großer Impulsivität oder Aggression und Tyrannei zu kollabieren drohen. Das heißt, man muss irgendwie eine Lösung dafür finden, wie man mit den aggressivsten, unkontrolliertesten und antisozialsten Mitgliedern der Gruppe umgeht. Man will ja den nächsten Skalierungsschritt, das Anwachsen der Gruppe, mitmachen. Eine große Gruppe, die mit disziplinierteren, freundlicheren, auch konformistischeren Mitgliedern ausgestattet ist, hat da einfach bessere Chancen, stabil zu sein. Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass die Aggressivsten z. B. einfach ermordet worden sind. Später kamen dann bestrafende Institutionen dazu.
 


Eine Gruppe, die mit disziplinierteren, freundlicheren, auch konformistischeren Mitgliedern ausgestattet ist, hat bessere Chancen, stabil zu sein..


 

Machen wir den Schritt zu vor 500 Jahren. Das war eine extreme Zäsur, weil wir da aufgrund der gewachsenen Gruppengrößen gelernt haben, auch Fremden zu vertrauen. Wie ist uns das gelungen und was ist daran der krasse Schritt?

Dieses Phänomen bezeichnet man als impersonale Prosozialität, das ist verwandt mit dem Gedanken des expandierenden Kreises der moralischen Gemeinschaft nach Peter Singer. Die Frage dabei ist, wie wir es schaffen, über unser eigenes Individuum hinauszukommen, und was dabei die Mechanismen sind. Wenn die Evolution angeblich „survival of the fittest“ ist, dann ist jede Hilfeleistung, die ich anderen Menschen angedeihen lasse, erst mal erklärungsbedürftig, denn das stellt einen Nachteil und Kosten für mich dar, die irgendwie kompensiert werden müssen. Man hat vor nicht allzu langer Zeit erst wirklich verstanden, wie das funktionieren kann. Das wird inzwischen erklärt mit inklusiver Fitness. Man lässt anderen Individuen Sympathie und Hilfe angedeihen, weil sie unsere eigenen Gene tragen. Es ist Verwandtschaft.

Ich glaube, dass die korrekte Erklärung dafür erst vor kurzer Zeit von Joseph Henrich vorgeschlagen wurde. Sein Buch: The Weirdest People in the World ist 2020 erschienen. „Weird“ ist ein Akronym, das für „western“, „educated“, „industrialized“, „rich“ and „democratic“ steht.

Die Frage ist: Woher kommt diese besondere Formation, dieses Individualismus-Paket, das wir in manchen Weltregionen finden, vor allem in Zentraleuropa und den kolonialen Projekten von Zentraleuropa? Was macht das Paket aus und was ist die kausale Erklärung des Entstehens?

Der Vorschlag, den Henrich macht, ist, dass es eine tausendjährige Entwicklung war, in der die westliche Kirche die Verwandtschaftsstrukturen in Zentraleuropa zerstört hat. Das hat dazu geführt, dass die ganze westliche Gesellschaft auf ein ganz neues Paket von Institutionen verfallen ist, die mehr auf freiwilliger Partizipation beruhen und weniger auf Verwandtschaft und Blutsbeziehungen.

Sie sind Philosoph und Ethiker. Normalerweise befassen sich diese Menschen mit der Begründung von Normen und Werten. Sie interessieren sich aber eher für die Genese.

Ja, ich glaube, es gibt die scharfe Trennung zwischen Genese und Geltung, zwischen Herkunft und Rechtfertigung gar nicht. Ein Wissen darum, was die Ursprünge eines Prozesses, einer Meinung, einer sozialen Praxis sind, kann uns etwas darüber mitteilen, ob diese Überzeugung, diese Theorie, diese soziale Praxis eine gute Idee ist. Das ist kein Vernunftsskeptizismus, ich glaube absolut an das Aufklärungsprojekt. Ich glaube nur, dass Vernunft nichts Gottgegebenes ist, sondern etwas, was wir als soziale Wesen miteinander etablieren.
 


Vernunft ist nichts Gottgegebenes, sondern etwas, was wir als soziale Wesen miteinander etablieren.



Wenn man das verstehen will, muss man auch die Genealogie auf eine empirisch solide Art und Weise verstehen. Und dann sieht man, dass die Verbindung zwischen Genese und Geltung enger wird.

Gibt es moralischen Fortschritt? Was für ein Moralzeugnis haben wir im Moment? Markus Gabriel konstatiert z. B. dunkle Zeiten. Schauen Sie optimistisch in die Zukunft?

Das ist eine schwierige Frage. Ich bin zu 51 % Optimist. Ich bin intragenerationell pessimistisch und intergenerationell optimistisch. Ich glaube, dass jede Generation aus Menschen mit derselben moralischen Qualität besteht; mittelmäßig eigentlich. Aber zwischen den Generationen, also im sozialen Wandel, wenn man ein bisschen herauszoomt und sich größere Zeitabschnitte anschaut, scheinen Mechanismen zu greifen, die ein Fortschrittspotenzial haben. Es mag sein, dass wir in dunklen Zeiten leben, aber für die Fortschrittsfrage ist ja nicht die Frage entscheidend, wie dunkel die Zeiten sind, sondern ob sie heller sind als früher. Und das ist, glaube ich, definitiv der Fall! Es gibt ganz viele Parameter, die man sich dafür anschauen kann: menschliches Wohlergehen, Freiheiten und Möglichkeiten. In so gut wie jeder Hinsicht und so gut wie an jedem Ort – natürlich mit Ausnahmen und nicht so schnell, wie wir das gerne hätten, und oft unvollkommen – finden diese Verbesserungsentwicklungen statt.

Heute scheinen wir mehr Möglichkeiten als früher zu haben, die Welt zum Besseren zu verändern, nutzen sie aber vielleicht nicht hinlänglich. Insofern kann man fragen: Was vergleicht man womit und bleiben wir nicht heute stärker als früher hinter unseren Möglichkeiten zurück?

Das ist richtig. Was sicherlich nicht stimmt, ist, dass es eine lineare Fortschrittsgeschichte ist. Es gibt keine Notwendigkeit, keine Gesetzmäßigkeiten, keinen Weltgeist, der das auf ein Ziel hin diktiert. Es gibt immer das Potenzial des Regresses in noch dunklere Zeiten. Das ist die große Lektion, die das 20. Jahrhundert uns beigebracht hat. Es gibt eigentlich keine Garantien – egal wie modern eine Gesellschaft ist, egal wie ausgebildet die wissenschaftlichen Institutionen sind oder der Kunstbetrieb – gegen den Rückfall in die Barbarei. Aber ich glaube schon, dass am Ende instabile moralische Normen und instabile politische Gemeinschaften aus Gründen instabil sind. Nämlich, weil diese Gesellschaften so organisiert sind, dass Gruppen von Menschen von den Institutionen nicht so profitieren, wie sie profitieren könnten. Sie sind nicht inklusiv genug.

Damit sind wir in den heutigen Verhältnissen. Sie sagen, der Fortschritt hat eine Art Überschuss in unserer Zeit erfahren. Wir sind gereizter, wir sind in einer Überschüssigkeit gefangen und oft wird das unter dem Stichwort der sogenannten Wokeness gelabelt. Was ist genau passiert?

Man muss es nicht Wokeness nennen, man kann es Identitätspolitik nennen oder progressive moralische Reformvorschläge. Es geht darum, einen Versuch zu machen, die normativen Ideale, die unsere moderne Gesellschaft ausmachen, auch wirklich umzusetzen. Man muss das als einen sozialen Prozess sehen, in dem wir alle miteinander darum ringen, zu verstehen, was das heißen könnte. Das Problem ist, dass die Gesellschaft, die wir ererbt haben, diesen Idealen an vielen Stellen in keiner Weise genügt – was beispielsweise Gleichheit zwischen Geschlechtern oder Ethnien betrifft. Wir wollen herausfinden, wie wir von A nach B kommen. Wie dieser Übergang zu meistern ist, weiß keiner so recht. Und manchmal kommt es dabei zu Übergriffen oder Exzessen oder einem übertriebenen Moralisieren.
 


Es geht darum, einen Versuch zu machen, die normativen Ideale, die unsere moderne Gesellschaft ausmachen, auch wirklich umzusetzen.



Wir wissen, und das ist empirisch gut belegt, dass je ökonomisch reicher und politisch stabiler Gesellschaften werden, auch ein Wertewandel stattfindet. Die Werte stellen sich von einer großen Betonung überlieferter Traditionen, religiöser Autoritäten und existenzieller Sicherheit um – hin zu individualistischen Werten wie Authentizität, Freiheit, Autonomie und Toleranz gegenüber Diversität. Dieser Trend findet immer in dieser Art und Weise statt. Das ist global zu beobachten, nicht nur regional. Dieser Trend tritt ein, weil die relative Wichtigkeit postmaterieller Werte zunimmt – in dem Maße, in dem unsere materiellen Nöte im Großen und Ganzen befriedigt sind.

Also wir brauchen nicht noch mehr Geld, um genug zu essen zu haben oder um heizen zu können, sondern wir investieren in unsere Identität, unser Standing, unseren Status.

Genau. Diese postmateriellen Werte werden relativ wichtiger und daraus entstehen neue Kämpfe um Anerkennung und um Identität. Das ist die Identitätspolitik, von der ich gerade sprach. Das ist ein großer Trend in der jüngeren Geschichte unserer Moral. Warum es irgendwann diesen identitären Twist bekommen hat, ist nicht ganz klar.

Konkret hat die Wokeness-Bewegung, selbst wenn sie sehr kritisch gesehen wird, auch viel Gutes. Gewisse Anliegen werden sehr deutlich formuliert, beispielsweise Alltagsrassismus. Es gibt aber auch die Kritik, dass es eine Diskursverarmung geben würde. Der Begriff „Cancel Culture“ ist ein Stichwort. Stimmt das? Erleben wir eine Diskursverarmung?

Vielleicht, aber für wen? Neue Normen führen immer auch Einschränkungen mit sich. Manchmal profitieren Menschen davon, dass andere Menschen bestimmte Dinge nicht mehr tun dürfen. Natürlich ist es eine Einschränkung, wenn ich meiner Sekretärin nicht mehr einen Klaps auf den Po geben darf. Das ist eine Sache, die ich vielleicht in den 70ern mal tun durfte. Sich darüber zu beklagen, wäre natürlich paradox, weil das einen klaren Vorteil für eine andere Gruppe darstellt. Also allein die Tatsache, dass es eine verarmende oder verengende Wirkung zu haben scheint, heißt noch nicht, dass es keine gute Idee ist. Manche Dinge sollen ja enger werden und als Handlungsoptionen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Und Cancel Culture ist nichts Neues. Normen werden immer überwacht und durchgesetzt. Es gibt immer schon soziale Konsequenzen dafür, dass man sich ungeschickt oder problematisch ausdrückt. Cancel Culture ist auch nicht schlimmer oder unser moralischer Diskurs überhitzter geworden, als er einmal war. An den strategischen Mitteln allerdings, die von den Mitgliedern dieser Wokeness-Bewegung gewählt werden, um ihre Ziele durchzusetzen, muss man legitime Kritik üben dürfen. Es gibt bei allen sozialen Bewegungen strategische Kräfte, die die guten Ziele der Bewegung mit schlechten Mitteln ausstatten können. Dann sieht man, dass bestimmte Formen von Kritik zu häufig angewendet werden, dass bestimmte moralische Elemente unseres Vokabulars ungenau verwendet werden.

Eine Begründung, sagen Sie, warum sich der Diskurs über Werte und Normen sehr stark ins Symbolische – wir streiten über Gendersterne, über Unisex-Toiletten – verschoben hat, ist, weil dabei schneller Land gutzumachen sei. Strukturen zu verändern, die soziale Ungerechtigkeit befördern, ist die viel härtere Arbeit, als die symbolischen Dinge zu verändern. Da ist natürlich die Frage: Land gutmachen für wen? Manchmal sind die ganzen Diskurse doch einfach dazu da, das eigene Image aufzuwerten – dann wären wir bei dem Begriff der Tugendprotzerei.

Ich denke, wir haben eine Art moralische Ungeduld. Wir scheinen doch zu wissen, wie unsere Gesellschaft sein sollte! Es ist frustrierend zu sehen, wenn es so schwer ist, die Gesellschaft zu steuern, dass sie den Idealen genügt. Das erzeugt Ungeduld und führt dazu, dass man sich, wenn die Frustration zu groß ist, irgendeinen Kanal sucht, den man ändern kann. Große Gesellschaften sind komplex und sehr steuerungsunwillig. Aber was man machen kann, ist, unser Vokabular zu modifizieren, was allemal viel leichter zu ändern ist als störrische, komplexe und träge Institutionen. Das ist zunächst einmal verständlich und ist ja auch gar nicht unwichtig. Inklusives Vokabular hat etwas Gutes. Aber es ist nicht die ganze Arbeit und lädt gern zur moralischen Selbstdarstellung und Affekthascherei ein.

Auf all diesen Streit antworten Sie mit: „Beruhigt euch mal.“ Denn Sie glauben, dass viele Meinungsverschiedenheiten oberflächlich sind. Und unten drunter sind wir uns eigentlich einig. Das ist eine schöne Nachricht, aber vielleicht glauben sie die meisten nicht …

Das mag sein, aber das ist das, was die empirischen Studien zeigen. Sie zeigen, dass die Polarisierungsdiagnose ein bisschen missverstanden wird. Polarisierung gibt es nicht in der Form, in der wir das normalerweise meinen. Ein Extremer-Werden von Meinungen findet nicht so sehr statt. Es gibt eine größere Sichtbarkeit der extremen Meinungen, eine größere Unsichtbarkeit der nicht so extremen Mitte. Wenn sich die extremsten 1 % der einen Seite mit den extremsten 1 % der anderen Seite anschreien, dann hat man den Eindruck, es gäbe nur diese extremen Meinungen. Das ist natürlich auch ein Phänomen, das durch soziale Medien noch verstärkt wird.

Und beispielsweise in einem Wahlkampf ist es ein probates Mittel, die Ränder zu bedienen, weil es viele Themen gibt, die parteienübergreifend ähnlich gesehen werden.

Es gibt sogenannte Spaltungsthemen in der Politik – und um Wähler zu binden, lohnt es sich, sich im Wahlkampf darauf zu konzentrieren. Das erzeugt den Eindruck, es gäbe nur diese Spaltungsthemen, dabei gibt es einen großen Hintergrundkonsens, der nur nie thematisiert wird, weil man damit keine Wähler gewinnen kann. Es ist ein Artefakt des politischen Wettbewerbs.

Ein Satz aus Ihrem Buch, der überall zitiert wird, lautet: „Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung, wir hassen einander nur.“ Ist das eine Beruhigung?

Ich dachte immer, es ist eine gute Nachricht. Weil die Polarisierung, die wir zu sehen glauben, nur ein Oberflächenphänomen ist. Robuste, verfeindete Ideologien gibt es eigentlich gar nicht. Ebenso wenig gibt es unterschiedliche Gesellschaftskonzepte, die diese Unversöhnlichkeit erzeugen, sondern es gibt Gruppenidentitäten und Aversionen zwischen diesen Identitäten.

Polarisierung ist kein ideologisches Phänomen – Politikwissenschaftler sagen, die meisten Menschen sind ideologisch unschuldig, sie haben eigentlich gar keine durchdachte politische Ideologie. Sie wählen das, was der Vater gewählt hat, oder wählen das, was die Freunde wählen. Die Polarisierung, die wir sehen, ist eher ein affektives Phänomen. Also man kann die anderen Leute, die vermeintlich zur anderen Gruppe gehören, nicht sehr leiden. Es sind eher oberflächliche Identitätsaversionen gegenüber Menschen der anderen Gruppe. Wenn man das als solches durchschaut hat, sind diese Aversionen auch leichter zu überwinden, glaube ich.

Aber es bleibt die Frage, wieweit jeder Einzelne dazu bereit ist? Durchdacht am konkreten Beispiel der Migration: Es macht doch einen Unterschied, auch einen ideologischen, und es ist nicht nur die Frage, zu welcher Gruppe ich gehöre, ob ich der Ansicht bin, für den ganzen Globus verantwortlich zu sein, und daraus eine humanitäre Pflicht ableite, dass alle hierherkommen können. Oder ob wir sagen: Nein, zuerst sind wir verantwortlich für unsere Tribes. Wir müssen schauen, dass es unserem Staat gut geht. Da sehe ich nicht nur Hass, sondern da sehe ich grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten!

Ja, aber das ist kein Widerspruch. Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob man offene Grenzen hat und Migration erlaubt oder ob man geschlossene Grenzen hat. Vor allem für die betroffenen Menschen, die an bestimmte Orte wollen, um sich ein Leben aufzubauen. Aber der Grund dafür, warum die meisten Menschen das eine oder das andere glauben, ist nicht, weil die Leute das tief durchdacht haben, sondern weil sie dieser oder jener Gruppe angehören und deswegen für oder gegen Immigration sind. Wenn man auf das Level kommt, dass man sich mit den Argumenten auseinandersetzt, dann, glaube ich, gibt es ein viel größeres Versöhnungspotenzial.

Den zweiten Teil glaube ich noch nicht. Ich denke, die Bereitschaft ist nicht so sehr da, sich auf die Argumente einzulassen … Den ersten Teil Ihres Arguments finde ich deshalb interessant, weil in Tat und Wahrheit unsere politischen Überzeugungen viel volatiler sind, als wir meinen. Wir halten uns für unglaublich firm in unseren Überzeugungen. In einer Studie der Universität Lund, die Sie zitieren, wurden 2016 anlässlich des Präsidentschaftswahlkampfes in Amerika Passanten gebeten, auf einem Schieberegler einzustellen, ob sie Hillary Clinton oder Donald Trump für erfahrener halten (gemeint war die politische Kompetenz). Da gab es z. B. einen Probanden, der eingestellt hatte, dass Hillary Clinton 94 % erfahrener ist. Der Schieberegler wurde anschließend geheim manipuliert und der Person zeitversetzt erneut vorgelegt, jetzt eingestellt auf 56 %. Die Person wurde nun gebeten, die 56 % zu begründen, obwohl sie 94 % eingestellt hatte. Das Interessante daran ist, dass die Person das problemlos tun konnte – sie hat nicht moniert, dass sie eigentlich 94 % eingestellt hatte, sondern hat die 56 % begründet. Damit sollte gezeigt werden, dass uns die Umgebung massiv beeinflusst.

Das ist das Phänomen politischer Choice Blindness, also Entscheidungsblindheit. Man weiß eigentlich gar nicht so recht, welche Entscheidung man getroffen hat. Und wenn man ein falsches Feedback bekommen hat, dann sagt man: „Na gut, dann wird das wohl meine Entscheidung gewesen sein!“ – So funktioniert unser Denken im Übrigen ganz allgemein! Wir haben gar nicht den introspektiven Zugang zu unserem eigenen Verstand. Wir nehmen immer externe Signale, um uns selbst zu deuten, was wir eigentlich glauben. Wir haben keinen guten Zugang zu unseren eigenen Überzeugungen, sondern wir nutzen genau die gleichen Hinweise, die auch andere Menschen haben, wenn sie unsere Überzeugungen zu deuten versuchen. Politische Meinungen sind noch mal instabiler, oberflächlicher und volatiler.
 


Es ist rational, politisch irrational zu sein.



Das kann eigentlich auch gar nicht anders sein. Das hängt mit der Logik kollektiven Handelns zusammen. Manchmal bezeichnet man dieses Phänomen als rationale Irrationalität. Es ist rational, politisch irrational zu sein. Der Grund dafür ist, dass die Vorteile meiner politischen Überzeugungen an mich gehen. Die Nachteile meiner irrationalen evidenzfreien politischen Meinung kann ich quasi abgeben. Auf meine Wahlentscheidung kommt es nicht so an. Weil das für alle von uns gilt, konsumieren wir alle zu viel politische Irrationalität, was nicht gut ist für unser Gemein-wesen. Bei den meisten Konsumentscheidungen ist das anders. Wenn ich mir einen Fernseher kaufe, dann gehen die Vor- und Nachteile dieser Entscheidung beide an mich.

Ich bin eine überzeugte Demokratin. Sie sagen mir nun eigentlich, mein Wählerwille ist nicht wirklich eine autonome Entscheidung. Ich mache einfach, was meine kleine Gruppe mir als gut vorstellt.

In aller Regel ist das so, ja.

Nein!

Doch. Das sagen die empirischen Belege zu Wahlverhalten. Natürlich gibt es eine kleine Gruppe, die sehr gut informiert ist und sich sehr gut auskennt. Aber die überwältigende Mehrheit kommt nicht einmal annähernd in die Nähe von politischem Allgemeinwissen oder konkreterem tagespolitischen Wissen, was deren Wahlentscheidung als qualitativ hochwertig auszeichnen würde. Das sind wirklich die Fakten.

Als Philosoph müssten Sie doch den Anspruch haben, dass wir empfänglich sind für rationale Argumente und dass wir uns weiterbilden und weiterentwickeln und dass wir interessiert daran sind, das Richtige zu vertreten.

Ja, aber wir sind nicht sehr empfänglich für rationale Argumente. An Ansprüchen kann man auch scheitern. Der Anspruch bleibt gut und es lohnt sich, weiter darüber nachzudenken, wie wir diesem Anspruch gerechter werden können.

Sie machen dafür auch einen Vorschlag – den Ideologischen Turing-Test. Der stammt von Bryan Caplan. In dem Turing-Test aus den 1950er-Jahren geht es darum, dass man hinter einer Wand sitzt. Auf der anderen Seite unterhält sich eine KI mit einem echten Menschen. Man hört zu und von dem Moment an, wo man nicht mehr unterscheiden kann, ob zwei Menschen oder eine KI und ein Mensch miteinander sprechen, hat diese KI menschliche Intelligenz – in einer bestimmten Art und Weise – erlangt. Der Ideologische Turing-Test, wie Sie ihn vorschlagen, funktioniert so, dass ich meinem Gegner erklären soll, was er denkt, sodass er sagen kann: „Genauso denke ich!“ Dann haben wir den Test bestanden. Das ist eine gute Übung, oder?

Ja, und viele Leute sind überrascht, wie schwer ihnen das fällt. Wir neigen dazu, die andere Seite zu dämonisieren und als korrupt, verblödet oder bösartig darzustellen, und haben wenig Verständnis dafür, dass die politischen und moralischen Überzeugungen der Gegenseite gar nicht so übel sein können. Der Test ist ein Vorschlag, an politischen Debatten erst dann teilzunehmen, wenn man die Position der Gegner so artikulieren kann, dass die Gegner diese Artikulation akzeptieren. Erst dann kann man eigentlich darüber reden, wer eigentlich recht hat. Es geht gar nicht darum, die Position der anderen Seite zu übernehmen, sondern erst einmal auf ein Level zu kommen, auf dem dann vernünftige Meinungsverschiedenheiten ausdiskutiert werden können.

Sie haben den Test selbst gemacht. Sie haben ein Paper publiziert und kurze Zeit später eine anonyme Gegendarstellung zu sich selbst geschrieben. Das Paper wurde auch publiziert. War das Ihr Anliegen: Ich kann auch gegen mich, mit sehr guten Gründen, argumentieren?

Ja, ich bin ein sehr starker Anhänger der Idee, dass man mit seinen eigenen Thesen und Meinungen nicht verheiratet ist, dass man sich unpersönlich verhalten sollte gegenüber philosophischen Theorien, Konzepten und Begrifflichkeiten. Es ist keine emotionale oder persönliche Sache und es tut nicht weh, seine Meinung zu ändern.
 


Das Gespräch fand im Rahmen der Sendung Sternstunde Philosophie am 8. Oktober 2023 statt.

 

Dr. Hanno Sauer ist Philosoph und außerordentlicher Professor für Ethik an der Universität Utrecht.

Barbara Bleisch ist Philosophin und moderiert die „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Außerdem ist sie feste Kolumnistin beim „Tages-Anzeiger“ und Dozentin für Ethik in verschiedenen universitären Weiterbildungsstudiengängen.