Fake News und Desinformation

Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung

Ralf Hohlfeld, Michael Harnischmacher, Elfi Heinke, Lea Sophia Lehner, Michael Sengl (Hrsg.)

Baden-Baden 2020: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Marian T. Adolf

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 91-92

Vollständiger Beitrag als:

Fake News und Desinformation

Wer sich zu lange in den sozialen Medien, egal ob auf Facebook, Twitter, TikTok oder gar Telegram, Parler u. a. aufhält, den befällt bald der dringende Verdacht, dass die Welt verrückt geworden sein könnte. Und nicht nur dort – überall in der zeitgenössischen digitalen Medienökologie – wird man heute Zeuge einer Kommunikationskakofonie, einer Flut an Falschmeldungen, Spekulationen, Meinungen, Verdächtigungen und bald Beschimpfungen oder gar Drohungen, die mit dem Ideal eines vernünftigen Diskurses, einer Selbstverständigung der (Welt‑)Gesellschaft über sich selbst, nichts mehr gemein haben. Im Zusammenhang mit der Coronapandemie etwa spricht die WHO mittlerweile von der Existenz einer parallel ablaufenden „Infodemie“.

Was ist da los? Wie können wir das Dickicht der zeitgenössischen Fake-News- und Desinformationskrise begrifflich durchdringen? Und: Was können wir tun, damit sich dieser Zustand wieder bessert?

Diesen und vielen weiteren damit verbundenen Fragen widmet sich der gegenständliche Band. Als kommunikationswissenschaftliches Werk beschäftigt er sich insbesondere mit der Rolle des Journalismus und der Öffentlichkeit unter diesen Bedingungen, aber „richtet sich dabei nicht ausschließlich an die kommunikationswissenschaftliche Scientific Community, sondern versucht auch für Kommunikationspraxis und Medienpädagogik den state of the art des gesellschaftlichen Diskurses und der empirischen Befunde zu ‚Fake News‘ und Desinformation zu sichern und Anstöße für Lösungsansätze zu liefern“ (S. 14, H. i. O.).

Dazu versammelt das Buch ein ausführliches Vorwort sowie 18 Beiträge, aufgeteilt in fünf thematische Abschnitte, die sich von der Phänomenologie und Geschichte über Anwendungsfälle, das Erkennen und die Folgen bis hin zu Maßnahmen gegen die Desinformationskrise erstrecken. Empirische Ergebnisse und Fallstudien werden präsentiert, Mechanismen der Desinformation diskutiert und gesellschaftliche Konsequenzen von Falschnachrichten beleuchtet. Wir lesen Argumente für und wider verschiedene Konzepte zur Erfassung der Situation, lernen, dass Medienkompetenz auch bei „digital natives“ kein Selbstläufer ist, erkennen, dass der zugrunde liegende Wandel des Mediensystems ein umfassendes, strukturelles Geschehen ist, und erfahren, welch eminent politisches Phänomen der Kampf um Informations- und Deutungshoheit geworden ist.

Als – notwendig subjektive – „Anspieltipps“ könnte man etwa den Beitrag Quelle gut, alles gut? Glaubwürdigkeitsbeurteilung im digitalen Raum von Stefanie Holzer und Michael Sengl empfehlen, der der Frage nach der Glaubwürdigkeit von Informationen nachgeht; oder den Text Schlechte Nachrichten: „Fake News“ in Politik und Öffentlichkeit von Romy Jaster und David Lanius, der die zahlreichen Mechanismen der Desinformationskrise zusammenfasst und einen guten Überblick über das Geschehen in kompakter Form bietet; und nicht zuletzt den Beitrag, der wohl am tiefsten in die epistemologischen Implikationen von Wissen als sozialer Kategorie vordringt, nämlich „Fake News“: neue Bedrohung oder alter Hut? Grundlagen für ein Strategisches Diskursmanagement von Julian Hajduk und Natascha Zowislo-Grünewald.

Doch auch in seiner Gänze fällt der Band sehr lesenswert aus, weil er sein Versprechen hält, den Stand der Forschung zu dieser wichtigen und dynamischen Problemstellung zusammenzufassen, dazu zahlreiche empirische Daten liefert, die dabei helfen, ein Gesamtbild des Problemzusammenhangs zu erstellen. Was ist der „hostile media“-Effekt, liegt die Zukunft des Journalismus im „gate advising“, und was meint der Begriff des „dark social“? Haben wir es mit einem neuen Zeitalter der Propaganda zu tun? Was macht Falschinformationen so attraktiv und auf welchen Mechanismen fußen ihre Verbreitung und Wirkung? Am Ende der Lektüre bleibt der Eindruck dichter und hilfreicher Informationen und ein besseres Verständnis dafür, was da zurzeit in unserer Informations- und Medienumwelt gerade vor sich geht.

Daher sei die Lektüre all jenen empfohlen, die sich angesichts der Konjunktur von „fake news“, „alternativen Fakten“, „post truth“ und der Konjunktur von Verschwörungstheorien und digitaler Propaganda aller Art einen Überblick verschaffen wollen – und vor der Lektüre originär sozialwissenschaftlicher Texte nicht zurückschrecken.

Wie gefährlich diese Phänomene sind, können wir längst am Weltgeschehen ablesen, egal ob beim Sturm auf das US-Kapitol, im Kontext der Radikalisierung extremistischer Attentäter oder in der Desinformationsschlacht rund um den Angriffskrieg auf die Ukraine. Die langfristige Bedrohung dieser Entwicklungen liegt in der Polarisierung und Spaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, im Auseinanderdriften handlungsanleitender Wirklichkeitsvorstellungen. Denn eins ist gewiss: Wer einer demokratischen Gesellschaft die gemeinsame – wie auch immer aushandlungsbedürftige und stets fragile – Wirklichkeit entzieht, raubt ihr die Grundlage, auf der sie fußt. Egal ob dieser Zusammenhang als Desinformationskrise, „fake news“, „post truth“ oder sonstwie tituliert wird: Es geht um die Zukunft freiheitlicher Demokratien.

Prof. Dr. Marian T. Adolf