Fernsehserien im medienkulturellen Wandel
Köln 2022: Herbert von Halem
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Fernsehserien im Wandel
Vielfach wird der Tod des Fernsehens beschworen. Aber es ist lebendiger denn je, auch „weil Fernsehen sich selbst überlebt und ständig neue Facetten hinzufügt“ (S. 332). Das heißt, das Fernsehen ändert sich laufend und integriert neue Entwicklungen. In der Medienwissenschaft ist noch umstritten, ob Streaming auch Fernsehen ist oder nicht. Jedenfalls gibt es mittlerweile so viele Ausprägungen des Fernsehens, dass Jana Zündel in ihrer Dissertation von den „Fernsehens“ (im Plural) spricht (vgl. S. 18). Viele einzelne Aspekte und Ausprägungen der „Fernsehens“, die im öffentlichen Diskurs und in der Wissenschaft diskutiert werden, stellen daher nur verschiedene Perspektiven auf das Medium dar und können „als Symptome für die Pluralität des Fernsehens“ betrachtet werden (ebd., H. i. O.). Die Autorin nimmt nun die Wandlung der Fernsehserien vom reinen TV-Event hin zum wichtigsten Inhalt von Abonnement-Streamingplattformen als exemplarisch für den Wandel des Fernsehens zu den „Fernsehens“: „Ziel ist es, den medialen Wandel des Fernsehens sowohl anhand der verschiedenen Möglichkeiten fernzusehen als auch am Text der Serie selbst nachzuvollziehen“ (S. 16). Wobei sie sich vornehmlich auf den deutschen Fernsehmarkt konzentriert, internationale Entwicklungen aber nicht unberücksichtigt lässt. Um es vorwegzunehmen: Es ist ihr ganz hervorragend gelungen, das Ziel der Arbeit zu erreichen.
Zündel geht davon aus, dass eine audiovisuelle Serie „weder ein geschlossener noch vollständiger Text“ ist: „Durch ihre Multitextualität hat eine Serie niemals nur einen Anfang oder einen Schluss, sondern zahlreiche Wiederanfänge und vorläufige Enden“ (S. 19). Dieser Struktur von Serien geht sie im zweiten Teil des Buches anhand der Veränderungen von klassischen Fernsehserien hin zu Streamingserien am Beispiel von drei – wie sie es nennt – Randerscheinungen nach: dem Recap (von Rekapitulation), dem Intro oder Serienvorspann und dem Outro oder Episodenabspann.
Zunächst setzt Zündel sich jedoch mit dem Wandel der Fernsehserien und des Fernsehens auseinander, die eng miteinander verbunden sind. Im wissenschaftlichen Diskurs werden Serien oft vom Fernsehen getrennt diskutiert. Dazu stellt Zündel fest: „Auch in der tatsächlichen Produktion und Distribution werden Fernsehserien sukzessive vom Fernsehen getrennt. Angesichts dessen, dass heute unzählige Serien exklusiv auf Streamingplattformen vertrieben werden, scheint diese ‚Auseinanderentwicklung‘ sich auf ihrem Höhepunkt zu befinden“ (S. 27). Im Folgenden beschreibt sie die Entwicklungen von Serien als TV-Sendungen, als Marken, als Artefakte und als Daten. Als Daten sind Serien auf DVD-Boxen und auf Streamingplattformen verfügbar, wobei Zündel eine Lanze für die DVD-Box bricht: „Dabei sind DVD-Boxsets die dauerhaft archivierbare und […] beständigste Form einer Serie“ (S. 53, H. i. O.).
Das „Überangebot“ (S. 57) an Serien führt auch in der Rezeption zu einer Fragmentierung, die nur gezielt überwunden werden kann: „Die gemeinsame Erfahrung von Serien im Freundes- und Familienkreis lässt sich heute häufig nur noch in Eigenregie wiederherstellen, indem man sich gezielt zum DVD-Schauen oder Streamen verabredet“ (S. 65). Die Veränderung der Produktion, Distribution und Rezeption ist mit und durch den Wandel zu den „Fernsehens“ bestimmt. Während das klassische lineare Fernsehen nur eine Rezeption über die Programmstruktur der Sender zulässt, ermöglichen Streamingplattformen „ein breites Spektrum an Rezeptionshaltungen und ‑handlungen“ (S. 167), vom Glotzen aus Langeweile bis zum konzentrierten Binge-Watching. Serien wollen auch jenseits von Algorithmen gefunden werden. Dabei spielen dann sogenannte Paratexte von Serien in verschiedenen Medien eine Rolle, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen.
Diese Paratexte, die Zündel an den Rändern der Serien verortet, müssen sich aber auf deren Markenkern beziehen, denn der Wiedererkennungswert ist besonders wichtig. Nur mit den Paratexten als „Kitt“ werden Serien quasi zu einem Ganzen (vgl. S. 220). Am Beispiel der Veränderungen von Recap, Intro und Abspann zeigt die Autorin dann sehr kenntnisreich und detailliert die Veränderungen der Serientexte und ihrer Paratexte auf, die eng mit dem Wandel des Fernsehens verbunden sind. Die Zuschauer:innen sollen auf ein gemeinsames Verständnis von den Serientexten eingeschworen werden. „Nicht allein der Serienkonsum, sondern sämtlicher Medienkonsum soll serialisiert und ‚verganzheitlicht‘ werden“ (S. 329). So kommt Zündel zu dem Schluss: „Am und durch Fernsehen vollziehen sich permanent Transformations- und Umwertungsprozesse“ (S. 330, H. i. O.). Die „Fernsehens“ sind keine Einzelmedien mehr, „sondern Teil eines techno-, produktions-, narrato- und rezeptionslogischen Netzwerks“ (S. 334). Die öffentlichen Diskussionen über das Fernsehen werden weiter bedeutend sein, ja vielleicht bedeutender werden.
Jana Zündel hat nicht nur sehr detailliert den Wandel der Serien selbst anhand ihrer Paratexte analysiert, sondern so ganz nebenbei auch eine Theorie des Fernsehens im 21. Jahrhundert entwickelt. Das Buch kann als bedeutendes Grundlagenwerk zum neuen Fernsehen und zu neuen Serien gelten. Ihm ist eine breite Rezeption zu wünschen. Wer sich für den Wandel des Fernsehens zu den „Fernsehens“ interessiert, kommt um die Lektüre dieses Buches nicht herum.
Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos