Filmische Prekaritätsdiskurse

Wer spricht, was wird gezeigt, was empfinden wir dabei?

Guido Kirsten, Elisa Cuter, Hanna Prenzel

Zentrale Themen des Kinos über Prekarität und Klassenfragen sind die persönlichen und gesellschaftlichen Dimensionen von Arbeitslosigkeit, Ausbeutung oder Armut. Durch filmische Entscheidungen wie die Erzählperspektive, die Behandlung des Themas und Strategien der Empathie können Filme zur Bedeutungsproduktion in Debatten zu sozialer Ungleichheit beitragen.

Online seit 17.05.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/filmische-prekaritaetsdiskurse-beitrag-772/

 

 

Spiel- und Dokumentarfilme, die sich sozialer Prekarität und Klassenfragen widmen – also Themen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, unsicherem Aufenthaltsstatus oder Wohnungsmangel –, tragen mit ihren Mitteln zum gesellschaftlichen Diskurs über diese Themen bei. Anders als Nachrichtensendungen und Zeitungsberichte geht es dabei nicht um Statistiken und objektive Zahlen oder um politische Maßnahmen. Vielmehr vermitteln die filmischen Werke ein Bild der Lage, in der sich die Betroffenen befinden, von deren Schwierigkeiten und ihrem subjektiven Erleben. Damit eröffnen Filme (ebenso wie manche Romane oder TV-Serien) einen anderen Zugang zu Prekarität.

Um zu verstehen, wie in einer Gesellschaft Prekarität diskursiv verhandelt wird, müssen wir auch verstehen, welche Bilder Filme und andere audiovisuelle Werke davon zeichnen. Das impliziert, dass solche Werke nicht nur gewisse Aspekte und Ausschnitte der Gesellschaft „widerspiegeln“, sondern dass sie mit ihren Mitteln aktiv zur Bedeutungsproduktion und zur Debatte beitragen.
 


Damit eröffnen Filme (ebenso wie manche Romane oder TV-Serien) einen anderen Zugang zu Prekarität.“



Mit welchen Mitteln die Filme diskursiv Einfluss nehmen, lässt sich anhand verschiedener Fragen untersuchen. So ist zum Beispiel relevant, weraus welcher Position spricht – wer die filmischen Diskurse artikuliert, aus welcher Perspektive und mit welcher persönlichen, eventuell auch biografischen Involviertheit. Zweitens stellt sich die Frage, welche Themen präsentiert und welche diskursiven Ziele dabei verfolgt werden: Werden die Ursachen für die prekäre Lage der Figuren adressiert und sind diese eher individueller oder struktureller Art? Sollen die Zuschauer:innen in erster Linie Betroffenheit angesichts der Lage von prekären Figuren empfinden? Oder werden auch politische Möglichkeiten zu tiefgreifender Veränderung angedeutet? Drittens können wir analysieren, welche Gefühlslagen und affektiven Involvierungen aufseiten der Zuschauer:innen angestrebt werden: Was empfinden wir, wenn wir mit den Schicksalen konfrontiert werden? Werden wir durch die filmischen Erzählungen und Porträts in die Lage versetzt, uns in die Figuren oder Personen wirklich einzufühlen, ihre Situation also gewissermaßen von innen heraus zu verstehen?
 

Wer spricht aus welcher Position?

Der Politikwissenschaftler Stephen Pimpare stellt in seiner Monografie Ghettos, Tramps, and Welfare Queens (2017), in der er die filmische Darstellung von Armut und Wohnungslosigkeit im Hollywoodkino untersucht, das Konzept des Propertied Gaze vor – also des „Blicks der besitzenden Klasse“. Angelehnt an Laura Mulveys Begriff des Male Gaze bezeichnet Pimpare damit die Objektivierung von armen Menschen auf der Leinwand, wobei er feststellt, dass die Zuschauenden selbst nie als arm, wohnungslos oder bedürftig imaginiert werden. Einen Grund für diese unmarkiert bürgerliche Perspektive sieht er im privilegierten Zugang der wohlhabenden Klasse zu den Mitteln der Filmproduktion.

Obwohl auch heute der Besuch von Kunst- und Filmhochschulen weiterhin an die Klassenherkunft gekoppelt ist, muss der von Pimpare beschriebene Propertied Gaze aktualisiert und differenziert werden. Mit Blick auf das gegenwärtige „Kino der Prekarität“ ist es wichtig, die Regisseur:innen nicht nur entlang ihrer Herkunft zu kategorisieren und ihnen somit die Legitimität ihrer Perspektive zu- oder abzusprechen, sondern das Spektrum verschiedener Perspektiven zu berücksichtigen. Inwieweit gelingt es der filmischen Narration, subjektiv Erlebtes mit gesellschaftspolitischen Analysen zu verschränken? Welche Strategien der Authentizität werden eingesetzt, wenn die Regisseur:innen, die die filmischen Bilder und Diskurse über Prekarität oder Klassenverhältnisse produzieren, auf eine ihnen vertraute Welt blicken?

Autobiografische und autofiktionale Erzählungen zu Klassenfragen stehen im Literaturbetrieb seit einigen Jahren hoch im Kurs. Obwohl manche der Werke eine filmische Übersetzung erfahren haben wie in L'événement (2021, nach dem Buch von Annie Ernaux) oder Retour à Reims (Fragments) (2021, nach Didier Eribon), ist die explizit autosoziobiografische Reflexion von Klassenfragen im Film bisher deutlich weniger zu finden. Eine Ausnahme bildet Klassenverhältnisse am Bodensee (2022), in dem – angelehnt an Eribons politisch-persönliche Analyse – eine sehenswerte, poppig-sarkastische Befragung des Herkunftsmilieus am Bodensee unternommen wird. Auch im Kurzfilm Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater (2006) stehen die eigene Biografie und die Befragung von Super‑8-Material am Anfang, um über ein eindringliches Voiceover den wirtschaftlichen Zerfall der eigenen Familie nachzuzeichnen.
 

Trailer Return to Reims [fragments] / Retour à Reims [fragments] (2022) (Unifrance, 26.09.2022)



Ein weiteres Beispiel ist Ray & Liz ( 2018) des Fotografen und Künstlers Richard Billingham, der sich darin seinem von Alkoholismus, Armut und Gewalt geprägten Elternhaus widmet. Interessanterweise geht Billingham nicht offensiv im filmischen Text mit dem Bezug zur eigenen Biografie um, sondern fiktionalisiert sein Aufwachsen in extremer Armut durch die Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen.

Weniger unmittelbar autobiografisch, aber in gewisser Weise ähnlich funktionieren manche Werke der britischen Filmemacherin Andrea Arnold, deren Karriere mit ihrem oscarprämierten Kurzfilm Wasp (2003) über eine alleinerziehende vierfache Mutter in sehr prekären Verhältnissen begann. In darauffolgenden Filmen wie Fish Tank (2009) entwickelte Arnold eine besondere Erzählweise, in die ihr eigenes Aufwachsen in einer Sozialwohnung im Unterklassenmilieu einfließt.

Bei anderen Filmemacher:innen basieren ähnlich authentische Porträts prekärer Milieus nicht auf eigener Erfahrung, sondern auf jahrelanger Beschäftigung damit oder Recherche dazu. Das gilt etwa für Jean-Pierre und Luc Dardenne aus dem industriell geprägten Seraing in Belgien, die sich mit Filmen wie Rosetta (1999), Deux jours, une nuit (2014) oder Tori et Lokita (2022) marginalisierten und gesellschaftlich vulnerablen Figuren in ihrer Heimatregion widmen und das Publikum zu politischer Bewusstwerdung aufrufen.

 

Trailer Deux jours, une nuit (metropolefilms, 10.12.2014)



Auf extensiver Recherche fußen auch die meisten Filme von Ken Loach, deren Drehbücher von Paul Laverty stammen und die im Zeichen einer politisierenden Empathie oder empathischen Politisierung stehen. Während Bread and Roses (2000) einen von weiblichen Putzkräften geführten Arbeitskampf aus den 1990er-Jahren verhandelt, werden in I, Daniel Blake (2016) die gerade gegenüber älteren Menschen extrem ungerechten Strukturen und Absurditäten des britischen Sozialhilfesystems vorgeführt. Loachs Filme wollen das Publikum affizieren und es zu einem solidarischen politischen Handeln gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse aufrufen.

Führen wir uns das Spektrum der genannten Filmbeispiele vor Augen, wird deutlich, dass die Frage der politischen Haltung gegenüber Klassenfragen und Prekaritätserfahrungen ein ebenso relevanter Faktor für die Perspektive ist wie die Frage nach der persönlichen und politischen Situiertheit der Regisseur:in. Wir kommen daher zu unserer zweiten großen Frage: Welche Aspekte der Prekarität und der Klassengesellschaft werden thematisiert und mit welchen politischen Zielen und Implikationen geschieht dies?
 


Führen wir uns das Spektrum der genannten Filmbeispiele vor Augen, wird deutlich, dass die Frage der politischen Haltung gegenüber Klassenfragen und Prekaritätserfahrungen ein ebenso relevanter Faktor für die Perspektive ist, wie die Frage nach der persönlichen und politischen Situiertheit der Regisseur:in.“


 

Was wird gezeigt und mit welchen Intentionen?

Der von Lauren Berlant geprägte Begriff des „Kinos der Prekarität“ ist eine analytische Kategorie, die eine Idee der Repräsentation impliziert (Berlant 2011; Kirsten 2022a). Trotz formaler Unterschiede teilen die Filme dieses Kinos eine enge Beziehung zur sozialen Realität, auf die sie verweisen: Es sind Filme mit einer stark referenziellen Dimension, die daher eine diskursive Lektüre anregen (zum Begriff der der diskursiven Lektüre siehe Kirsten 2022b). Somit betrifft die Frage der Darstellung einerseits die realen sozialen Themen, die den Zuschauer:innen durch die Filme zugänglich werden, und andererseits die argumentative Position, die mit der Auswahl der dargestellten Realität einhergeht.

In Bezug auf den ersten Aspekt lässt sich im zeitgenössischen europäischen Film zunächst eine kritische und umfassende Kartierung der Auswirkungen der Prekarität feststellen: Beispiele hierfür sind die Werke von Pedro Costa zu Themen wie Migration, Marginalisierung und Sucht; die Darstellung von Arbeitslosigkeit in Los lunes al sol (2002), Sommer vorm Balkon (2005) oder La loi du marché (2015); die Auseinandersetzung mit Gentrifizierung in Betongold (2013) und im experimentellen Dokumentarfilm Miete essen Seele auf (2016); die Untersuchung des Underclass-Milieus in britischen Vorstädten in Fish Tank; die Thematisierung des Rassismus, dem die Protagonist:innen von Epizoda u životu berača željeza (2013, dt.: Aus dem Leben eines Schrottsammlers) ausgesetzt sind; Auswirkungen von Prekarität auf die psychische Gesundheit in Deux jours, une nuit.

Der letztgenannte Film kann darüber hinaus als Parabel über eine prekäre Lage schlechthin verstanden werden, denn die Protagonistin tritt als Bittstellerin auf: Sandra ist gezwungen, ihre Kolleg:innen zu bitten, auf ihre Bonusprämie zu verzichten, damit sie ihren alten Job zurückbekommen kann. Etymologisch verweist das lateinische Wort „precarius“ auf eine Position, in der man andere um etwas bitten muss, also auf deren Gunst angewiesen und damit unmittelbar von ihnen abhängig ist.

Während der Begriff der Prekarität bis in die 1980er-Jahre hinein nur extreme Armut bezeichnete, beschreibt er nun, wie Berlant festgestellt hat, „eine affektive Atmosphäre, die alle Klassen durchdringt“ (Berlant 2011, S. 201). Damit stellt sich zunehmend – neben der Kartierung der Folgen von Prekarität – auch die Aufgabe einer Reflexion ihrer Ursachen, die unter anderem in Filmen geleistet wird, die systemische Phänomene untersuchen, wie die Deindustrialisierung in A Fábrica de Nada (2017) oder die Flexibilisierung der Arbeit in Work Hard Play Hard (2011) oder Sorry We Missed You (2019).
 

Trailer Sorry We Missed You (eOne UK, 19.06.2019)



Wie bereits anhand der wenigen genannten Beispiele zu erkennen ist, kann der formale und diskursive Ansatz zu Themen der Prekarität enorm variieren. Im Allgemeinen lassen sich aber auf der Darstellungsebene zwei Tendenzen im „Kino der Prekarität“ feststellen: Die erste ist das Aufkommen des intersektionalen Bewusstseins. Während politisch engagierte Filme früher dazu neigten, die Arbeiterklasse mit weißen heterosexuellen Männern zu identifizieren, scheint sich die Wahrnehmung verstärkt zu haben, dass die Unterdrückung marginalisierter Subjekte viel bezeichnender für die allgemeine Prekarisierung ist (Entin 2023). Beispiele hierfür wären die weiblichen Hauptfiguren in Filmen wie Eine flexible Frau (2010) und Bande de filles (2014) oder in der Netflixserie Maid (2021). Die Wahrnehmung der Heterogenität des „Prekariats“ (zu diesem Begriff: Standing 2011) spiegelt sich in Darstellungen wider, die die Besonderheiten situierter Erfahrungen nutzen. Sie vermeiden bewusst, Identitäten zu verfestigen und zu verdinglichen, indem sie auf stereotype Bilder der dargestellten Subjekte verzichten.

Der soziale Konflikt ist im gegenwärtigen Kino sehr präsent, wie der Oscargewinn von Gisaengchung (Parasite, 2019) im Jahr 2020 zeigt. Der Film stellt ein stilisiertes Theorem über die Klassenfrage dar und weist damit auf eine Verschiebung des öffentlichen Diskurses zu einer erneut expliziten Reflexion über Ungleichheiten hin. Doch zeigt sich die zweite Tendenz des „Kinos der Prekarität“ darin, dass dieser Konflikt eher selten in Formen kollektiver Kämpfe und Proteste dargestellt wird (bemerkenswerte Ausnahmen wären En guerre [2018] und das Ende von Retour à Reims [Fragments]). Gewerkschaften, politische Parteien und selbst Demonstrationen und Bewegungen sowie unterschiedliche Formen institutioneller Vermittlung und Solidarität tauchen tendenziell nur in historischen Rekonstruktionen auf, beispielweise in Billy Elliott (2000) oder Made In Dagenham (2010). Ken Loach selbst ist von einem Film wie Bread And Roses, der sich explizit auf einen Gewerkschaftskampf konzentrierte, zur Verzweiflung an den Arbeitsbedingungen in der Gig-Economy in Sorry We Missed You übergegangen. Zweifellos reflektieren die Filme damit treu eine Realität, in der Atomisierung und politische Desillusionierung zunehmen. Doch wenn wir bedenken, dass die Repräsentation niemals neutral, sondern immer diskursiv ist, dann ist das Fehlen kollektiver Kämpfe möglicherweise ein Anzeichen für eine Phase tiefgreifender Schwierigkeiten bei der Vorstellung einer anderen Zukunft – auch im Kino.
 

Trailer A Fábrica De Nada (GRANDFILM, 04.08.2018)



Was empfinden wir dabei?

Die Frage danach, was wir bei der Betrachtung von Erzählungen über Prekarität und Klassenherrschaft empfinden, ist deswegen besonders schwierig zu beantworten, weil es sich dabei um individuelle, oft sogar situative Phänomene handelt. Die Neigung dazu, sich affektiv auf die Lage der dargestellten Figuren einzulassen, variiert nicht nur von Zuschauer:in zu Zuschauer:in, sondern hängt auch davon ab, in welcher emotionalen Situation wir uns selbst befinden, während wir den Film gucken. Ein Schicksal, das uns an einem Tag kalt lässt, kann uns am nächsten Tag zutiefst berühren. Zielführender ist es daher, danach zu fragen, welche Involvierungen Filme erlauben und zu welchen Gefühlsübertragungen sie einladen.

Wesentlich dafür sind meistens die narrativen Gestaltungen: Filme wie Rosetta, Fish Tank oder Deux jours, une nuit sind dramaturgisch so aufgebaut, dass wir eng an die weiblichen Hauptfiguren gebunden sind. Wir begleiten sie auf ihren Wegen durch die Diegese; mit ihnen erleben wir das Geschehen und nur das, was sie erfahren, können auch wir erfahren. In diesem Sinn dienen sie als „Filter der narrativen Information“, um ein Konzept des Erzählforschers Gérard Genette (1998) zu benutzen, der dafür den Begriff der „Fokalisierung“ geprägt hat. In den drei genannten Filmen, die unterschiedliche Aspekte von Prekarität thematisieren, wissen wir zu Beginn weniger als die Protagonistin (bezüglich der narrativ wichtigen Informationen). Erst nach und nach und durch ihre Handlungen und Konflikte lernen wir die Gesamtsituation besser zu verstehen. Dabei müssen wir der Figur allerdings ein Stück weit projektiv entgegenkommen, also aktiv versuchen, ihre Handlungsmotive nachzuvollziehen. Wenn uns dies gelingt, versetzen wir uns kraft unserer Imagination in ihre Lage, beginnen die Probleme aus ihrer Sicht zu erleben und auch ihre Gefühle zu teilen. (Gleichwohl gibt es immer wieder Handlungen, die wir nicht augenblicklich begreifen können und aufgrund derer die Figur teilweise opak bleibt.) Auf diese Weise können Filme über prekäre Lebenslagen eine besondere Wirkung entfalten: Sie lassen uns intensiv am Schicksal von Figuren teilhaben, deren Lebenswelt von der Unsrigen manchmal sehr weit entfernt ist. Und diese Erfahrung muss nicht ein momenthafter Affekt bleiben. Vielmehr können wir in einem emphatischen Sinn lernen, was Wohnungs- und Arbeitslosigkeit konkret bedeuten können.
 


Auf diese Weise können Filme über prekäre Lebenslagen eine besondere Wirkung entfalten: Sie lassen uns intensiv am Schicksal von Figuren teilhaben, deren Lebenswelt von der Unsrigen manchmal sehr weit entfernt ist.“



Natürlich sind längst nicht alle Filme über Prekarität und die Klassengesellschaft so aufgebaut, dass nur eine Figur im Zentrum steht. Loach und sein Drehbuchautor Laverty haben sich im Fall von Sorry We Missed You dafür entschieden, zwischen den vier Mitgliedern einer Familie hin- und herzuspringen, um zu zeigen, wie sich der neue Job des Vaters Ricky (Kris Hitchen) auf die gesamte Familie auswirkt: Seine Frau Debbie, die als Pflegerin arbeitet, muss ihr Auto verkaufen, damit sich Ricky den Van leisten kann, den er als Paketzusteller braucht. In der Folge haben beide, Debbie und Ricky, kaum noch Zeit für ihre pubertierenden Kinder, die eigentlich ihrer Zuwendung dringend bedürften. Auf diese Weise führt der Film argumentativ vor, wie sich prekarisierte und flexibilisierte Beschäftigungsverhältnisse nicht nur auf das direkt betroffene Individuum auswirken, sondern auch den Zusammenhalt einer Familie unterminieren können. In unserem empathischen Nachvollzug wechseln wir hier die Bezugspersonen, sind in einer Sequenz Ricky näher, in einer anderen Debbie oder einem der Kinder. Die Beziehung zu den Figuren ist hier in der Regel weniger intensiv als bei Filmen mit nur einer zentralen Hauptfigur, aber dafür ist die Erfahrung mehrdimensionaler.

Allerdings ist die gefühlte Nähe zu einzelnen Figuren auch kein zwingend entscheidendes Kriterium für gelungene Filme über die Klassengesellschaft. Vielmehr verfolgen manche Werke eine der Einfühlung bewusst entgegengesetzte Poetik, indem sie auf Mittel der Distanzierung setzen. So inszeniert etwa A Fábrica de Nada eine Gesangs- und Tanzsequenz der Belegschaft in einer bankrotten Aufzugfabrik wie in einem Musical und unterstreicht so die Künstlichkeit des Inszenierten. Außerdem wird die Figur eines Intellektuellen eingeführt (möglicherweise ist er ein Filmemacher, das wird nicht ganz klar). Erst befragt er die Fabrikbesetzer:innen, in anderen Szenen diskutiert er mit linken Intellektuellen über den vorgeführten Arbeitskampf und den Kapitalismus im Allgemeinen. Er scheint aber auch die Musical-Nummer zu choreografieren und in diesem Moment stellvertretend für den realen Regisseur Pedro Pinho zu stehen. Auf diese Weise wird das Geschehen auf eine gewisse Distanz gebracht und es werden neue Perspektiven auf das Gezeigte eröffnet.

Es ließen sich noch viele andere Beispiele für unterschiedliche Erzählweisen über die weitverbreitete Prekarität und das Klassengefüge unserer Gesellschaft anführen, die zwischen großer Nähe zu einzelnen Figuren, verteilter Empathie und eher distanzierenden, reflektierenden Ästhetiken angesiedelt sind. Entscheidend erscheint uns, dass wir in allen Fällen, wenn auch auf verschiedene Weise, in einem emphatischen Sinn lernen können, was beispielsweise Arbeitslosigkeit konkret bedeuten kann oder welche Schwierigkeiten Arbeitskämpfe mit sich bringen. Das auf diese Weise sinnlich Erlernte begleitet uns, wenn wir erneut – etwa durch Nachrichten, Reportagen oder politische Debatten – mit diesen Themen konfrontiert sind. Die Erfahrungen, die wir bei der Sichtung eines Films gemacht haben, können also entscheidend dazu beitragen, was wir damit assoziieren, was wir zu wissen meinen und was wir dabei empfinden. So bereichert der spezifisch filmische Diskurs unsere soziale und politische Sensibilität für zentrale Probleme unserer Gesellschaft.
 

Literatur:

Berlant, L.: Cruel Optimism. Durham 2011

Entin, J. B.: Living Labor. Fiction, Film, and Precarious Work Ann Arbor 2023

Genette, G.: Die Erzählung [frz. 1972/1983]. Frankfurt a. M. 1998.

Kirsten, G. (a): Studying the Cinema of Precarity: An Introduction. In: E. Cuter, G. Kirsten und H. Prenzel (Hrsg.): Precarity in European Film: Depictions and Discourses. Berlin/Boston 2022, S. 1–29

Kirsten, G. (b): Zur Analyse des Armutsdiskurses in Shoes. In: Montage AV, 2/2022/31, S. 41–69

Pimpare, S.: Ghettos, Tramps, and Welfare Queens. Down and Out on the Silver Screen. Oxford 2017

Standing, G.: The Precariat: The New Dangerous Class. London/New York 2011
 

Hanna Prenzel arbeitet künstlerisch forschend als Filmemacherin und Wissenschaftlerin. Sie promoviert mit einem wissenschaftlich-künstlerischen Projekt zu Formen kollektiver Filmarbeit und feministischen Arbeitskämpfen an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Elisa Cuter promoviert an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF zur Darstellung von Prekarität im Kultursektor.

Dr. Guido Kirsten leitet seit Oktober 2018 das Emmy-Noether-Projekt „Filmische Diskurse des Mangels: Zur Darstellung von Prekarität und Exklusion im europäischen Spiel- und Dokumentarfilm“ an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.