FilmZeit

Zeitdimensionen des Films

Stefanie Kreuzer (Hrsg.)

Marburg 2021: Schüren
Rezensent/-in: Michael Wedel

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 90-91

Vollständiger Beitrag als:

Film und Zeit

Film gilt als das Zeitmedium schlechthin. Es war das erste Medium, das die technische Aufzeichnung und ästhetische Darstellung komplexer prozessualer Abläufe und Zusammenhänge ermöglichte. Nicht umsonst hat die Frage nach der Hervorbringung einer filmspezifischen Zeitlichkeit die Theoriebildung zu diesem Medium seit ihren Anfängen begleitet. Das Vokabular, das der analytischen Beschäftigung mit einzelnen Filmen oder Gruppen von Filmen zugrunde liegt, ist jedoch noch immer eher an räumlichen Kategorien orientiert. Ersichtlich ist dies allein schon an der Vorherrschaft raumgebundener Grundbegriffe zur Beschreibung filmischer Gestaltungsmittel wie Einstellungsgrößen (von der Nahaufnahme bis zur Totale), Blick-Konstruktionen (vom Point-of-View bis zur Anschlussmontage) oder Inszenierungen im On oder Off gegenüber vergleichsweise wenigen zeitbasierten Fachtermini (wie Rückblende, Zeitlupe oder Zeitraffer).

Der vorliegende Sammelband setzt dieser hergebrachten Unwucht mit seinem dezidiert filmanalytischen Schwerpunkt ein massives Bollwerk an Fallstudien entgegen. Auf einem historisch und kulturell weit gesteckten Feld führen sie die Produktivität systematischer Untersuchungen der vielfältigen Zeitdimensionen des Films einmal mehr eindrucksvoll vor Augen. Hervorgegangen aus einer Reihe von wissenschaftlichen Fachveranstaltungen, die Stefanie Kreuzer an verschiedenen universitären Standorten im Laufe der letzten zehn Jahre organisiert hat, bietet das Buch naturgemäß keinen kohärenten Zugriff auf filmische Zeitphänomene, sondern bindet einen bunten Strauß an methodischen Ansätzen zusammen, die jeweils mehr oder weniger für sich stehen. Die Anordnung der Beiträge folgt dabei einer entsprechend grobmaschigen Gliederung.

In der ersten Sektion werden gängige Zeitkategorien des Films einer kritischen Revision unterzogen. Markus Kuhn sondiert entlang der brasilianisch-französisch-amerikanischen Koproduktion Cidade de Deus (City of God [2002]) das narrative Verhältnis von Unmittelbarkeit und Nachzeitigkeit. Julia Eckel nimmt an einer Reihe einschlägiger Filme von Back to the Future (1985) bis zu Tenet (2020) komplexes Erzählen als zeitgebundenes Stilphänomen in den Blick. Hans Jürgen Wulff öffnet die Diskussion anschließend auf rezeptionsästhetische Überlegungen hin, indem er das Augenmerk von Prozessen der Zeitdarstellung auf solche der Zeiterschließung verlagert.

Während die Beiträge zur ersten Sektion – wenn auch selektiv – den methodischen Rahmen zwischen Narratologie, Stilanalyse und Rezeptionsästhetik abstecken, fokussieren die in der zweiten Sektion versammelten Aufsätze vor diesem Horizont einzelne, z. T. gattungsspezifische Zeitstrukturen: An einer Fülle von Filmbeispielen näher betrachtet werden die Effekte von Echtzeit (Susanne Kaul) und Gleichzeitigkeit (gleich in zwei Beiträgen von Sabine Zubarik und Lucia Krämer), rekursive Erzählformen (Matthias Brütsch) und Formen der Achronie (Stefanie Kreuzer) sowie typische Zeitmodellierungen des Musikvideos (Henry Keazor).

Unter der wenig eleganten Containerüberschrift „Zeitdokumentation/-konstruktion und filmisches Material“ folgen im nächsten Teil des Buches drei Beiträge zur Profilierung einer ästhetischen Eigenzeitlichkeit des Films als gezielter Überschreitung klassischer Narrativik (Jörg Schweinitz am Beispiel von Fellinis E la nave va [1983]), zum Chronotopos der filmischen Zeitreise (Stefan Tetzlaff) und zur bildkünstlerischen Verwendung von Film als „Zeitmaterial“ (S. 359) bei Andy Warhol, Peter Roehr und Morgan Fisher (Birk Weiberg).

Die letzte Sektion schließlich setzt sich aus drei Studien zusammen, die nicht nur an äußerst unterschiedlichen Gegenständen – internationalen Großstadtfilmen der 1920er-Jahre (Thomas Köhler), Yasujirō Ozus Tōkyō monogatari von 1953 (Andreas Becker), US-amerikanischen TV-Serien der Jahrtausendwende (Susanne Marschall) –, sondern auch mit ganz unterschiedlichen Methoden und stark variierender Konsequenz der Frage nachgehen, inwiefern verschiedene Konventionen filmischer bzw. televisueller Zeitdarstellung kulturell vorgeprägt sind.

So disparat vor allem die letzte Sektion des Bandes auch komponiert erscheint und so wenig deutlich der Kulturbegriff wird, mit dem hier jeweils operiert wird: Sie erfüllt doch zumindest die Funktion, daran zu erinnern, dass die Frage nach der spezifischen historischen und kulturellen Verortung filmischer Zeitinszenierungen (und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen und Fantasien) auch an die übrigen Fallstudien des Buches zu stellen wäre, in denen sie gegenüber dem theoretischen und analytischen Interesse in den Hintergrund tritt. Das ist umso bedauerlicher, als die damit einhergehende Frage, welche Rolle die historische Zeit als Material und Dimension der filmischen spielt, nicht zuletzt ein theoretisches Problem und eine methodische Herausforderung der film-bzw. kulturanalytischen Modellierung darstellt.

In der Zusammenschau bietet die großzügig illustrierte und mit ausführlichen biblio- und filmografischen Angaben versehene Aufsatzsammlung ein gewichtiges Kompendium, das, ohne in irgendeinem Sinne systematischen Anspruch zu erheben, vielfältige Anregungen zur Weiterarbeit enthält. Ob sich dabei die hier noch einmal zum Programm erhobene kategorische Unterscheidung zwischen den Dimensionen von Raum und Zeit, die der Kunsthistoriker Erwin Panofsky schon in den 1930er-Jahren gerade im Film auf ebenso nachhaltige wie faszinierende Weise ins Wanken geraten sah, als heuristische Ausgangsbasis unangefochten bewähren wird, bleibt abzuwarten.

Prof. Dr. Michael Wedel