Fremdeln mit Staat und Medien?

Menschen mit Migrationsgeschichte haben gute Gründe, misstrauisch zu sein

Tanjev Schultz

Dr. Tanjev Schultz ist Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Für eine liberale, de facto multikulturelle Gesellschaft ist ein Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Medien und die staatlichen Institutionen wichtig. Doch dieses Vertrauen wird in Deutschland immer wieder erschüttert. Menschen mit Migrationsgeschichte sehen es durch rassistische Angriffe, aber auch durch eine fehlende Vielfalt in den Medien infrage gestellt.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 35-39

Vollständiger Beitrag als:

 

Wer krakeelt, wird beachtet – darum bekommen „Lügenpresse“-Rufer und die AfD mit ihrem Protest gegen „Systemmedien“ und „Altparteien“ so viel Aufmerksamkeit. Was aber ist mit denen, die sich in ihrem Frust zurückziehen? Was ist mit denen, die keine laute Stimme haben, keine Lobby oder schlicht keinen Drang, aufzufallen und das Wort zu ergreifen? Was ist mit denen, die sich still abwenden und lieber unter sich bleiben, im eigenen sozialen Netz?

Solche Fragen drängen sich auf, sobald die Entwicklung der Bundesrepublik als Einwanderungsland aus der Perspektive von Menschen und Familien mit einer Migrationsgeschichte betrachtet wird. Viele von ihnen haben einen besonderen Blick auf die deutschen Medien und die deutschen Institutionen. Obwohl sie völlig andere Erfahrungen und Einstellungen haben als die migrations-allergischen „Lügenpresse“-Krakeeler: Gefühle der politischen und medialen Entfremdung kennen auch sie.
 

 

Schärferer Sinn für Diskriminierung

In der ersten Generation der sogenannten „Gastarbeiter“ herrschte und herrscht oft ein großes Grundvertrauen in den deutschen Staat. Von den Medien der Bundesrepublik wird diese Gruppe aber nur bedingt erreicht, viele orientieren sich an den Zeitungen und Sendern ihrer Herkunftsländer. Das änderte sich bereits in der zweiten und erst recht in der dritten Generation. Bei ihnen spielen (auch) deutsche Medien eine große Rolle, zugleich ist der Sinn für Diskriminierung schärfer geworden. So hat es der Autor bereits vor 20 Jahren erlebt, als er für eine Studie über die Identitäten von Familien mit türkischen Wurzeln Interviews sowohl mit Älteren als auch mit Jüngeren führte (vgl. Schultz/Sackmann 2001; Sackmann u.a. 2005). Schon damals fiel auf, dass Jüngere weniger Vertrauen in den Staat hatten. In Diskriminierung und „Ausländerfeindlichkeit“ sahen die Kinder ein größeres Problem als ihre Eltern.

So verwundert es wenig, wie hellhörig viele Jugendliche und junge Erwachsene, deren Eltern nicht aus Deutschland kommen, auf den Rassismus-Diskurs in den USA reagieren. Mit der „Black Lives Matter“-Bewegung können sich hierzulande viele identifizieren. In den deutschen Medien sehen sie sich nicht ausreichend repräsentiert. Von Teilen der Politik und der Sicherheitsbehörden fühlen sie sich abgestempelt oder sogar kriminalisiert.

Es fällt schwer zu sagen, wie groß das Ausmaß der empfundenen Distanz zum Staat, seiner Verfassung und seinen Institutionen insgesamt ist. Aus der Tatsache, dass in den vergangenen Monaten Jugendliche u.a. in Stuttgart und Frankfurt randalierten, lässt sich nicht auf ganze Generationskohorten schließen. Umfragen zeigen, dass Zuwanderer alles in allem große Stücke auf die deutsche Demokratie halten. Allerdings sind es keineswegs nur eigene Erfahrungen und anekdotische Evidenzen, die darauf hindeuten, dass es zumindest in Teilen sogenannter „Migrantengruppen“ gärt. So haben Befragungen von Schülerinnen und Schülern schon vor gut zehn Jahren ergeben, dass Jugendliche mit Migrationsgeschichte im Durchschnitt weniger Vertrauen in die deutsche Polizei haben als ihre Mitschüler ohne familiäre Migrationsgeschichte. Besonders ausgeprägt war die Kluft bei jungen Leuten, deren Eltern aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion, aus Südeuropa oder einem afrikanischen Land gekommen waren. Bei Jugendlichen aus türkischen Familien war das Vertrauen noch vergleichsweise hoch.
 

 

NSU und rechter Terror

Das könnte sich weiter zum Schlechten verändert haben. „Unser Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist zutiefst erschüttert“, sagte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, im Zusammenhang mit dem NSU-Prozess. Das Verfahren und die mediale Berichterstattung über den Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) legten offen, wie türkische Familien jahrzehntelang zu Unrecht von den Behörden und der Öffentlichkeit verdächtigt wurden – während in Wahrheit Neonazis sie tyrannisierten und ihre Angehörigen ermordeten (vgl. Schultz 2018). Kein Wunder, dass sich Türken, Juden und andere in Deutschland fragen, ob der Staat genug dafür tun kann und tun will, sie zu schützen.

Auch im Ausland machte der NSU-Fall Schlagzeilen, vor allem in den türkischen Medien, die in Deutschland viel gelesen und geschaut werden. Angesichts der zahlreichen Ungereimtheiten und Ungewissheiten im komplexen NSU-Fall ist der Schritt von einer kritischen Berichterstattung zu Spekulationen und Verschwörungserzählungen über einen „tiefen Staat“ oft sehr klein.

Auch das trägt nicht gerade zu einer Stabilisierung des Vertrauens bei. Laut einer Studie der Hacettepe-Universität Ankara aus dem Jahr 2012 verfolgten 87 % der türkischen Migranten in Deutschland die Ereignisse rund um die Enttarnung der NSU-Terroristen sehr genau und nutzten dafür überwiegend türkische Medien. Viele hätten das Vertrauen in den deutschen Staat verloren, lediglich ein Drittel erkenne in der Entschuldigung durch Politiker eine glaubwürdige Reue und Trauer. Mehr als zwei Drittel der rund 1.000 Befragten würden weitere rassistische Anschläge befürchten, 40 % hätten konkret Angst davor, dass sie selbst oder Freunde und Bekannte Opfer rechtsextremer Gewalttaten werden könnten.

Diese Sorge war leider nicht unbegründet. In den vergangenen Jahren nahmen rechtsextreme Straftaten zu, mit einem vorläufigen Höhepunkt 2015/2016, als reihenweise Asylunterkünfte und Geflüchtete angegriffen wurden. Aufmärsche, Anschläge und Ausschreitungen gewaltbereiter Rechter treffen Menschen mit Migrationsgeschichte stärker als andere. Freital, Halle, Hanau – immer wieder entlädt sich der Rassismus in Gewalt und Terror. Die Angriffe und Morde signalisieren den Menschen, dass sie, entgegen der viel beschworenen „Willkommenskultur“, hierzulande keineswegs von allen gern gesehen sind – und dass sie auch nicht unbedingt sicher hier leben können.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es fast schon erstaunlich, wie loyal sich viele Betroffene weiterhin zur Bundesrepublik äußern und verhalten. Offenbar differenzieren sie trotz allem, wer wofür verantwortlich gemacht werden kann. Und vielen ist wohl bewusst, dass die Verhältnisse in anderen Staaten – nicht zuletzt im jeweiligen Herkunftsland – oft auch nicht gerade vorbildlich sind.
 

 

Gefahren einer Vertrauenskrise

Die Bundesrepublik sollte sich des Rückhalts der Menschen allerdings nicht zu sicher sein. Eine liberale, de facto multikulturelle Gesellschaft muss sich auf ein Grundmaß an Vertrauen stützen, das den zentralen Institutionen wie ein Vorschuss gewährt wird. Es braucht zwar wache und wachsame, also kritische Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht alles gefallen lassen – naives, blindes Vertrauen kann für eine Demokratie daher keine Tugend sein. Aber ohne ein gewisses Grundvertrauen geht es eben auch nicht. In einer differenzierten Gesellschaft müssen alle damit leben, dass sie Macht abgeben und nicht alles selbst kontrollieren oder überhaupt verstehen und nachvollziehen können. Die Menschen müssen darauf vertrauen, dass die Dinge (ohne ihr Zutun) halbwegs laufen und es funktionierende Regeln und Routinen gibt, die für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen.

Kommt es zu Enttäuschungen, ist die Frage, wie die Auslöser eingeordnet und bewertet werden: als Fehler, als ein Versehen oder eine Böswilligkeit? Wird dahinter Zufall vermutet, Schlamperei oder Perfidie? Wie typisch ist der Vorfall, handelt es sich um eine Ausnahme, ein Symptom, einen typischen Fall? Betreffen das Versagen und die Enttäuschung nur einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich oder ist es ein flächendeckendes Phänomen und damit Beleg für ein grundfalsches System?

Die Konjunktur des Verschwörungsglaubens und die Fundamentalopposition gegen etablierte Parteien und „Systemmedien“, wie sie derzeit Rechtspopulisten und Rechtsextremisten anheizen, zeigen die Gefahren einer Vertrauenskrise: Sie kann zu einer Radikalisierung führen, die am Ende in Terrorismus mündet.

Ohne „Systemvertrauen“, wie der Soziologe Niklas Luhmann (2014) es nannte, ist eine moderne Gesellschaft kaum denkbar. Wer dem System grundsätzlich nicht traut und es sogar überwinden will, entwickelt sich zum Systemfeind und bläst öffentlich zur Revolution oder gründet konspirative, militante Zellen. Der Terror kann eine bedrohliche Dynamik in Gang bringen. Indem er Angst und Schrecken verbreitet, untergräbt er – wie skizziert – seinerseits das Vertrauen in die öffentliche Ordnung und den ohnmächtig wirkenden Staat.

Radikalisierungsprozesse und die mit ihnen einhergehende Dynamik sind nicht die einzige mögliche Konsequenz einer Vertrauenskrise. Der Verlust von Vertrauen – darauf hat der Philosoph Martin Hartmann (2011) hingewiesen – kann auch in Gleichgültigkeit übergehen. Eine Vertrauenskrise kann in Resignation münden und einen Rückzug aus der (Mehrheits‑)Gesellschaft auslösen.
 

Vielfalt in den Medien

Wie gut erreichen die deutschen Medien und Parteien die Menschen? Erreichen sie auch die Jüngeren – und solche, deren Familien in Deutschland eingewandert sind? Das Wort „erreichen“ ist hier in seiner doppelten Bedeutung zu verstehen: erstens im schlichten Sinne der Reichweite und Rezeption. Schauen die Zielgruppen beispielsweise die Tagesschau? Zweitens ist das Wort im Sinne von Bindung und Verständnis gemeint – und von Vertrauen. Findet die Zielgruppe die Tagesschau gut, kann sie damit etwas anfangen? Hält sie die Sendung und ihre Nachrichten für vertrauenswürdig?

In großen Studien zum Medienvertrauen – wie in der Mainzer Langzeitstudie (siehe das Interview mit Dr. Nikolaus Jackob, S. 40 ff. in tv diskurs, Ausg. 95, 1/2021) an welcher der Autor beteiligt ist – werden „Migranten“ nicht eigens erfasst. Aus anderen Untersuchungen ist aber bekannt, dass viele Einwanderer auf einen Medien-Mix setzen und je nach Sprachkompetenzen mal mehr, mal weniger deutschsprachige Angebote wahrnehmen. Vor allem für jüngere und in Deutschland geborene Personen sind deutschsprachige Medien ein selbstverständlicher Teil ihres Alltags. Das bedeutet jedoch umgekehrt noch lange nicht, dass sie mit ihren Themen und ihrem Leben auch ein selbstverständlicher Teil der Berichterstattung und der Medienrealität sind.

Bilden die Zeitungen, Magazine und Rundfunkprogramme die Vielfalt in der Gesellschaft ab? Zahlreiche Studien sind in den vergangenen Jahrzehnten zu dem Ergebnis gekommen, dass die Medien Stereotype und Klischees transportieren. Kommen Menschen mit anderer Herkunft oder Hautfarbe vor, geht es oft gleich wieder explizit um Themen wie Migration, Islam oder Rassismus. Es fehlt eine Repräsentation, die in der Lage ist, hybride Identitäten und die Individualität jeder Person angemessen anzuerkennen und abzubilden. Das würde u.a. bedeuten, Menschen mit Migrationsgeschichte (was ja auch schon eine etwas hilflose Kategorisierung ist) nicht immer nur als Exemplar einer Gruppe zu sehen (und dabei zu exotisieren).
 

Starke Vorbilder

Wer Identifikation oder wenigstens ein Mindestmaß an Vertrauen aufbauen möchte, muss deshalb in den Medienhäusern darauf achten, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft thematisch und personell auf ungezwungene Weise in den Redaktionen und ihren Produkten wiederfinden kann. In diese Richtung weist auch eine aktuelle Studie der WDR-Medienforschung. Ein zentraler Wunsch der befragten jungen Migranten seien „starke Vorbilder mit Zuwanderungsgeschichte“.

Selbst dort, wo die Sehnsucht nach solchen Vorbildern gestillt werden kann, lauert in einer Gesellschaft, in der Chancen ungleich verteilt sind, jederzeit die Erinnerung an erlittene Demütigungen.

Für viele Menschen, deren Eltern als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, war es beispielsweise eine Genugtuung, als die Öffentlichkeit den Durchbruch bei der Entwicklung eines Coronaimpfstoffs bejubelte – und damit die Karriere von Uğur Şahin, der die Mainzer Firma Biontech führt. Es wurde von vielen allerdings auch genau registriert, was Şahin, das „Gastarbeiter-Kind“, über seinen deutschen Bildungsweg sagte: Sein Lehrer habe damals gewollt, dass er auf die Hauptschule komme. Erst durch das Einschreiten eines deutschen Nachbarn habe er es doch aufs Gymnasium geschafft.

Dieser Nachbar hat offenbar an den Jungen geglaubt. Es kann wunderbar sein und manchmal Großes bewirken, anderen Vertrauen zu schenken.
 

Literatur:

Hartmann, M.: Die Praxis des Vertrauens. Berlin 2011

Luhmann, N.: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Konstanz 2014

Sackmann, R./Schultz, T./Prümm, K./Peters, B.: Kollektive Identitäten. Selbstverortungen türkischer MigrantInnen und ihrer Kinder. Frankfurt am Main 2005

Schultz, T.: NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. München 2018

Schultz, T./Sackmann, R.: „Wir Türken …“ Zur kollektiven Identität türkischer Migranten in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43/2001, S. 40 – 46