Governance

Internetregulierung muss alle Beteiligten mitnehmen

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Jeanette Hofmann

Die Zeiten, in denen sich das Internet aus sich selbst heraus organisiert hat, sind vorbei. Ob Urheberrecht, Jugendschutz, der Umgang mit Daten oder Hate Speech: Die Staaten haben längst begonnen, auch das Internet mit Gesetzen zu ordnen. Dabei stoßen sie allerdings auf das Problem, dass es im Netz keine nationalen Grenzen gibt: Wird in einem Land etwas verboten, was in einem anderen erlaubt ist, verlegen große Unternehmen ihren Sitz dorthin, wo die Gesetze ihre Geschäfte am wenigsten stören. Hinzu kommt, dass durch die enorme Dynamik des Netzes Regulierung oft schon veraltet ist, wenn sie nach jahrelanger Beratung endlich in Kraft tritt. Prof. Dr. Jeanette Hofmann ist Forschungsdirektorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft. tv diskurs sprach mit ihr über neue Formen der Regulierung, die sich im Diskurs aller beteiligten Gruppen entwickeln und so für mehr Akzeptanz sorgen soll.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 32-35

Vollständiger Beitrag als:


Es geht darum, eine effektive Regulierung zu erreichen, ohne dass es zu Missbrauchsmöglichkeiten des Staates kommt.


In den Anfängen galt das Internet als eine freie und offene Alternative zu einer überregulierten Gesellschaft. Inzwischen heißt es, das Internet sei kein rechtsfreier Raum. Passt das zusammen?

Das sind meines Erachtens zwei verschiedene Diskurse. Der eine entspringt einer Kritik an der Gatekeeper-Funktion der traditionellen Medien. Hier hat das Internet ja tatsächlich enorme Freiheitsgewinne erbracht in dem Sinne, dass die professionellen, traditionellen Medien nicht mehr über die Relevanz von Nachrichten entscheiden, sondern dass dies heute sehr viel dezentrierter passiert: Viele Menschen können sich artikulieren, viele Mechanismen sind an der Auswahl dessen beteiligt, was jeder zu hören und zu sehen bekommt. Wir reden auch vom „Kuratieren“ von Nachrichten, was häufig algorithmisch geschieht. Der zweite Diskurs betrifft die Forderung, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sein darf. Das bezieht sich auf die ursprüngliche Vorstellung, der Cyberspace sei transnational und deshalb nicht an die Regeln des Nationalstaates gebunden. Somit versprach er auch Freiheit vom Rechtsstaat. Das hat sich eindeutig als falsch erwiesen. Der Nationalstaat ist in der Durchsetzung seiner Regeln sehr viel besser geworden, wenn er denn will und bereit ist, die notwendigen Kapazitäten dazu aufzuwenden, d.h. die Einhaltung seiner Regeln auch überprüft und gegebenenfalls Verstöße sanktioniert.

Aber die Anbieter können immer dorthin gehen, wo sie möglichst wenig Regulierung zu befürchten haben.

Die großen Plattformen betreiben ihr Geschäft zwar global, müssen sich aber in den unterschiedlichen Ländern an geltende Gesetze halten. Facebook, Google u.a. zieht es in Länder, in denen die Steuern möglichst niedrig sind, z.B. nach Irland. Da gibt es einen großen Streit mit der EU, in welchem Umfang diese Länder gezwungen werden können, Steuern für die IT-Industrie zu erheben und bei diesen einzutreiben. Das korrespondiert in Irland wiederum mit einer sehr laxen Durchsetzung der EU-Datenschutzregelung, wogegen die Europäische Union aufgrund der Klage eines EU-Bürgers irgendwann eingeschritten ist. Auch in der Durchsetzung nationaler Regeln gehen die Länder sehr unterschiedlich vor. Frankreich z.B. scheint gewillt zu sein, nicht nur im Hinblick auf Steuern, sondern auch bei der Content-Regulierung – etwa im Hinblick auf das Urheberrecht – Maßstäbe in Europa zu setzen. Die Regulierungstraditionen sind in der EU sehr unterschiedlich. Besonders auffällig wird das im Vergleich mit den USA, wenn man den Datenschutz oder das Verständnis von Meinungsfreiheit betrachtet. Das US-amerikanische First Amendment, der erste Zusatzartikel der Verfassung, ist eine derart heilige Kuh, dass man sich selbst in Zeiten, in denen es wirklich notwendig wäre, nicht traut, dieses zu überdenken. Deshalb müssen in diesem Bereich wohl die Regeln in Europa gesetzt werden.

Die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien oder auch der Brexit zeigen, dass sich in der EU durchaus Widerstand regt. Andere Beispiele sind Polen und Ungarn, die sich nicht mehr an die Meinungsfreiheit halten und sich von einer unabhängigen Justiz verabschieden. Und wenn wir nur auf Deutschland schauen: Auch hier erleben wir oft ein Machtgerangel zwischen Bund und Ländern. Gehen wir zurück in die Kleinstaaterei?

In der Kultur- und Medienpolitik ließ sich das Gerangel zwischen Bundesländern und Bundesregierung schon immer beobachten. Doch insgesamt betrachtet, kann man in vielen Ländern eine Rückbesinnung auf den nationalen Souveränitätsgedanken feststellen. Auf individueller und auch auf kollektiver Ebene gewinnt die Frage nach öffentlicher politischer Kontrolle wieder mehr Gewicht. Das gilt aber nicht nur für das Internet, sondern ist eine generelle Reaktion auf das, was man heute als Hyperglobalisierung bezeichnet, also den radikalen Abbau von nationalen Regeln, um bestimmten Wirtschaftssektoren eine optimale Entfaltung zu ermöglichen. Das erweist sich inzwischen als starke Einschränkung für die nationale Gesetzgebung – und damit auch im Hinblick auf die Durchsetzung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit. Überall sieht man, dass die Handlungskapazitäten der Nationalstaaten an ihre Grenzen geraten. Deshalb ist nicht nur in Bezug auf das Internet eine Rückbesinnung zu beobachten – eine Rückbesinnung, von der wir nicht genau wissen, wie weit sie gehen und welche Kraft sie entwickeln wird. Im Moment findet noch sehr viel Wandel eher auf der rhetorischen Ebene statt.
 


Überall sieht man, dass die Handlungskapazitäten der Nationalstaaten an ihre Grenzen geraten.



Wir sind noch am Anfang der Internetentwicklung. Da lässt sich schwer prognostizieren, worauf es langfristig hinausläuft und ob die beängstigende Menge und Qualität von Hate Speech vielleicht eine vorübergehende Erscheinung ist.

Ja, das können wir im Moment nicht absehen. Das ist wie die frühe Phase des Buchdrucks. Die Medientechnik schafft Möglichkeitsräume. Wie diese aber gefüllt werden, wie wir Technik genau nutzen, liegt in unserer Hand und hat natürlich viel mit dem Zeitgeist zu tun. Für das Internet war es sehr prägend, dass es sich zu einer Zeit ausbreitete, als der wirtschaftliche Liberalismus die Oberhand gewann. Wir hätten heute einen anderen Typ von Datennetzen, wenn damals die Postbehörden nicht privatisiert worden wären. In Deutschland gab es zunächst BTX, ein damals hochmodernes Datensystem. Man dachte, dass auch digitale Netze von den klassischen Kommunikationsunternehmen wie der Post oder der Telekom betrieben werden. Es war dann die Hippiekultur der US-Westküste, die ein eigentlich militärisches Netz für dezentrale Kommunikationsdienste geöffnet hat. Die Idee des Personal Computers als Alternative zu großen zentralen Rechenzentren hat viel mit Individualisierung zu tun. Man hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es hier einen Raum gibt, in dem weder der Staat noch große Unternehmen den Ton angeben.

Heute scheint es ohne Regulierung, ohne Überprüfung und Sanktionen durch die Staaten, nicht mehr zu gehen. Doch kann man das allein den Staaten überlassen?

Hier kommen wir auf den Begriff „Governance“, der in einer Zeit der Privatisierung staatlicher Aufgaben zunächst in der Forschung aufkam. Der Staat hatte sich seinerzeit von sehr vielen Aufgaben zurückgezogen, viele Entscheidungen wurden nicht mehr allein vom Staat verantwortet, sondern auch von der Wirtschaft. Regierungshandeln stand in vielen Bereichen nicht mehr im Zentrum der Ordnungsbildung. Um für eine neue Form der Regulierung einen Begriff zu finden, wurde aus dem Englischen der Begriff „Governance“ eingeführt. Heute ist mit Governance gemeint, dass der Staat in der Regulierung nur noch einer unter vielen Akteuren ist, um Ordnung und Erwartungssicherheit zu schaffen. Das Kernelement ist also die Vorstellung, dass „Governance“ keine allein staatliche Angelegenheit, sondern der Staat nur ein Akteur unter mehreren ist. Die Wege, wie Regeln zustande kommen, verlaufen nicht mehr hierarchisch „top down“, sondern können auch von unten oder eben aus Bereichen der Wirtschaft in Form von Selbstregulierung kommen. Ihre Organisation, die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, ist ja auch ein Beispiel für Selbstregulierung, die man als Governance-Mechanismus beschreiben kann. Im Bereich von Internet Governance ging es immer um die Frage, wie man ein globales Medium wie das Internet eigentlich regulieren kann. Auf der einen Seite gibt es den traditionellen Modus: eine UN-Organisation, in der alle Mitgliedsstaaten versuchen, sich auf internationale Regeln zu einigen für die Aufgaben, die auf nationalstaatlicher Ebene nicht zu lösen sind. Die Infrastruktur des Internets ist eine solche Aufgabe, weil sie, anders als das Telefonnetz oder der Postbetrieb, nicht auf nationalstaatlichen Säulen beruht, sondern länderübergreifend konzipiert worden ist. Die UN ist allerdings in der Verwaltung des Internets nicht zum Zuge gekommen. Stattdessen wurde der Weg der transnationalen Selbstregulierung gewählt. Vertreter aus Wirtschaft, Technik, Zivilgesellschaft und der Regierungen verhandeln Regeln für die Vergabe von Internetadressen, Domainnamen. Auf internationalen Konferenzen wird auch über den Ausbau des Netzes oder den Umgang mit Desinformation gesprochen. Für diese breite Beteiligung von Akteuren hat sich der Begriff „Multi-Stake­holder-Ansatz“ durchgesetzt.

Sehen Sie das heute nicht mehr als sinnvollen Ansatz?

Ich glaube heute, dass der Multi-Stake­holder-Ansatz überschätzt wurde, weil er die Machtmechanismen, die er überwinden sollte, nicht aushebeln konnte. Die ressourcenstarken Stake­holder – wirtschaftliche Verbände oder Regierungen – haben im Vergleich zu zivilgesellschaftlichen Organisationen immer bessere Möglichkeiten, ihre Interessen durchzusetzen. Vor allem gilt das für Organisationen des globalen Südens, die oft gar nicht über genügend Mittel, Personal und Zeit für eine regelmäßige Mitarbeit in den Gremien verfügen.

Letztlich entscheidet die Politik, welche Gesetze verabschiedet werden. Aber häufig sind die von der Politik gewollten Regelungskonzepte in der Praxis nicht durchsetzbar.

Die vorgesehene Herausgabe von unseren Passwörtern im Rahmen des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und der Hasskriminalität ist dafür ein Beispiel. Soziale Netzwerke dürfen Passwörter gar nicht als Klarnamen speichern, weil das gegen die Datenschutz-Grundverordnung verstieße. Trotzdem sollen sie unter bestimmten Bedingungen herausgegeben werden. Das Justizministerium schlägt also ein Gesetz vor, das einem anderen Gesetz unmittelbar widerspricht.

Im Bereich des Jugendmedienschutzes arbeitet man mit Selbstkontrollen, bei Trägermedien sind die Behörden im Wege der Koregulierung direkt beteiligt, bei Fernsehen und Internet gibt es eine nachgeschaltete Aufsicht, die im Bedarfsfall nachjustieren kann. Hier gibt es einen Beurteilungsspielraum, die Behörde kann nur dann etwas aufheben, wenn das Urteil offensichtlich falsch ist. Könnte man nach dem System der Koregulierung vielleicht auch andere Bereiche im Netz regulieren?

Da muss man unterscheiden: Im Bereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes wäre das eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung, weil es hier um das Strafrecht und dessen Anwendung geht. Das ist schon etwas anderes als Selbstkontrolle. Wir wollen in der deutschen Medienpolitik eine staatsferne Medienregulierung. Das ist in einer Zeit, in der die Demokratie etwas fragil erscheint und man sich gegenwärtig politisch auch ganz anders ausgerichtete Regierungen vorstellen muss, wichtiger denn je. Die Möglichkeiten des Machtmissbrauchs durch den Staat im Bereich der Medien sollten so gut es geht minimalisiert werden. Das kann aber im Gegenzug natürlich nicht heißen, dass Medien alles sagen und tun dürfen, was ihren Nutzerinnen und Nutzern in den Sinn kommt. Insofern geht es tatsächlich darum, eine effektive Regulierung zu erreichen, ohne dass es zu Missbrauchsmöglichkeiten des Staates kommt, sie muss sozusagen dazwischen angesiedelt sein. Wie dieses Dazwischen jenseits von rein markt- oder staatsbasierten Lösungen aussehen könnte, interessiert uns in vielen digitalpolitischen Feldern. Dies betrifft etwa auch das Thema „Inhalteregulierung“ auf sozialen Netzwerken. Da geht es um das gleiche Prinzip: Wir möchten ja nicht, dass der Staat zu einer Wahrheitsbehörde wird und entscheidet, was richtig und was falsch ist und was jeweils auf den Plattformen im Einzelnen gesagt werden darf. Der Staat soll die Grenze des Sagbaren formulieren und diese dann zur Not mithilfe des Strafrechts durchsetzen. Darüber hinaus stellen verschiedene Akteure, auch die sozialen Netzwerke selbst, Überlegungen zur künftigen Regulierung von nutzergenerierten Inhalten an. Vorgeschlagen werden neue Organisationen und Prozesse zwischen Staat und Eigenverantwortung. Ob das effektiv ist, muss langfristig ausprobiert werden. Hier könnten Vorbilder wie der Multi-Stake­holder-Ansatz durchaus eine Rolle spielen.

Man kann das auch mit dem Gedanken der Selbstkontrolle verbinden, indem man verschiedene fachkundige, neutrale Personen mit an den Tisch holt, also nicht nur die Unternehmen, sondern beispielsweise auch Wissenschaftler, Ethiker oder andere gesellschaftlich relevante Akteure.

Das wird ja z.B. in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bereits praktiziert. Allerdings gibt es dabei immer ein Gefälle zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Beteiligten. Dieses Kompetenz- und Zeitgefälle ist bei jeder Organisation gegeben, die hauptamtliche Mitarbeiter hat und zugleich gesellschaftliche Kräfte in unterschiedlicher Art einbindet. Doch gibt es immer wieder Versuche, dieses Missverhältnis zu reduzieren. Mit Interesse beobachte ich gerade die neue Initiative von Mark Zuckerberg: Facebook richtet derzeit ein unabhängiges Oversight Board ein, das strittige Entscheidungen im Bereich der Inhalteregulierung entscheiden soll. Für dieses Gremium hat Facebook 130 Mio. Dollar bereitgestellt, auch um einen Stab an Mitarbeitern aufzubauen. Sie sollen Menschen unterstützen, die gegen die Entfernung ihrer Beiträge auf Facebook Einspruch erheben wollen, diesen Widerspruch überhaupt zu formulieren. Es müssen also Ressourcen bereitgestellt werden, um das Kompetenzgefälle zwischen geschultem Personal und Bürgerinnen und Bürgern oder Interessengruppen auszugleichen. Dieses Kompetenzgefälle kann Gruppen ausschließen, die eigentlich ausdrücklich beteiligt werden sollten. Die Literatur zu Multi-Stake­holder-Prozessen ist reich an Beispielen dazu. Ganz egal, ob es um den Erhalt des Regenwaldes oder um die Verhinderung von Staudämmen geht: Das Bemühen um legitime und inklusive Entscheidungsprozesse führt paradoxerweise häufig zu solch aufwendigen Organisationsstrukturen und -verfahren, dass Interessierte abgeschreckt werden oder der erforderliche Zeitaufwand zu groß ist, um eine ehrenamtliche Mitarbeit zu ermöglichen. Mein Eindruck ist, dass Multi-Stake­holder-Prozesse häufig in diesen Teufelskreis geraten und deshalb ihre Arbeitsweise überdenken müssen. Es gibt hier nicht die gute Lösung. Aber es gibt viele Akteure, die über gute Regulierungsformen zwischen Markt und Staat nachdenken.

Sie beschreiben in einem Ihrer Beiträge das Phänomen der Critical Moments: Zwei Autos kommen sich auf einer schmalen Straße entgegen, man kommt nicht aneinander vorbei. Es gibt keine anwendbaren Regeln dafür, wer ausweichen muss. Auch im Internet dauert es oft zu lange, wenn man auf den Staat warten würde …

Unbedingt. Allerdings ist auf einer Plattform wie Facebook keine Kommunikation, kein Verhalten wirklich ungeregelt. Alles, was in sozialen Netzwerken stattfindet, unterliegt klaren algorithmischen Regeln. Ich hatte einmal die Gelegenheit, an einer Policy-Sitzung von Facebook teilzunehmen, in der einzelne Aspekte der Inhalteregulierung diskutiert wurden. In dieser Sitzung wurde mir plötzlich klar, dass es im Bereich der digitalen Plattformen keine Handlungen gibt, die nicht geregelt werden. Alles muss ausdrücklich erlaubt, verboten oder zumindest toleriert werden, damit Algorithmen Filterentscheidungen treffen können. Dagegen ist die Eingriffstiefe des Staates in das Kommunikationsverhalten der Bürgerinnen und Bürger geradezu trivial.
 


Alles muss ausdrücklich erlaubt, verboten oder zumindest toleriert werden, damit Algorithmen Filterentscheidungen treffen können.



Der Fall Edward Snowden hat gezeigt, dass die Neugier des Staates sehr groß und er in Bezug auf die Einhaltung seiner eigenen Regeln nicht zimperlich ist. Hat Snowden zu einer Neubewertung des Governance-Prozesses beigetragen?

In welchem Umfang der Staat unsere digitale Kommunikation mithört, hat viele Menschen überrascht. Hinzu kommt, dass die Geheimdienste rechtliche Beschränkungen zur Überwachung der Bürgerinnen und Bürger auf nationaler Ebene umgehen, indem sie mit anderen Geheimdiensten zusammenarbeiten: So erlaubt die Auslandsüberwachung etwa, dass die deutschen Geheimdienste die Datenflüsse in Großbritannien mitschneiden und die Briten das Gleiche mit den deutschen Kommunikationsdaten tun. Im Wege des Austauschs gibt ein Geheimdienst dem anderen dann jeweils Zugang zu den eigenen Daten. Allen, die solche Praktiken vor den Enthüllungen durch Snowden angeprangert haben, hat man die Verbreitung von Verschwörungstheorien unterstellt. Gleichermaßen wichtig ist heute das Ineinandergreifen von staatlicher Überwachung und privatwirtschaftlicher Datensammlung. Die zunehmende Aushöhlung unseres Rechts auf informelle Selbstbestimmung durch das Geschäftsmodell der Internetwirtschaft ist insofern doppelt bedrohlich. Der Staat verschafft sich ja bei Bedarf Zugang zu diesen Daten, und wir beobachten derzeit eine schrittweise Ausdehnung der rechtlichen Grundlagen für Eingriffe in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger. Ein Beispiel dafür habe ich schon erwähnt, das geplante Gesetz zur Bekämpfung der Hasskriminalität.
 

Prof. Dr. Jeanette Hofmann ist Forschungsdirektorin des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der tv diskurs.