Guilty Pleasure

Die Lust am Überschreiten moralischer Grenzen

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Margreth Lünenborg

Reality-Formate erzeugen Emotionen – auf dem Bildschirm und auch davor. Worin genau besteht das Vergnügen, sich Rituale der Beschämung oder Demütigung immer wieder anzuschauen? Dr. Margreth Lünenborg, Professorin für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin, hat sich mit ihrem Team genauer mit dem Affektgenerator Reality-TV beschäftigt. Die Ergebnisse sind unter dem Titel Affektive Medienpraktiken. Emotionen, Körper, Zugehörigkeiten im Reality TV gerade erschienen.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 38-41

Vollständiger Beitrag als:

 

Was ist im Zusammenhang mit Reality-TV der Unterschied zwischen Affekten und Emotionen?

Ich verstehe Affekte als etwas, was zuerst körperlich wahrgenommen wird, etwas Vorsprachliches, eine Empfindung, die noch nicht bewusst ist. Das äußert sich als eine Spannung oder Erregung, als Unmut oder Unwohlsein. Emotionen sind demgegenüber komplexe kulturell geformte Muster. Dort wirken Bewertungen, Wahrnehmungen und auch die Selbstwahrnehmung zusammen. Aber ich gehe nicht von einer scharfen Differenz zwischen Affekten und Emotionen aus: Der Affekt ist etwas stärker Körperliches, Latentes, er fließt in Emotionen ein. Diese sind spezifischer und konkreter geformt: Ich spüre, wenn ich mich freue oder wenn ich wütend bin.

Bei Deutschland sucht den Superstar ist die Frage, ob jemand schwul, lesbisch, Araber, schwarz oder weiß ist, völlig irrelevant. Ist dies nicht auf die Dauer eine Gewöhnung an Vielfalt als Normalität?

Nein, ich habe auch schon öfter argumentiert, dass in Reality-TV-Formaten die Diversität unserer Gesellschaft am stärksten sichtbar wird. Genau diese Frage hat uns auch interessiert: Wie viel Diversität wird bei Casting-Formaten sichtbar? Und wie wird sie sichtbar gemacht? Es geht also um Bedingungen der Sichtbarkeit. Und da fanden wir z.B. Muster von typischer Exotisierung, also die Brasilianerin, die als feurig inszeniert wird, oder Markierungen von Andersartigkeit, die als Rituale der Beschämung inszeniert werden. Gleichheit und Vielfalt sind eben nicht die Grundnarrative dieser Formate. Es sind Wettkampf- und Wettbewerbsformate, die auf ökonomischen Erfolg der Fernsehproduzenten und der Sender abzielen und nicht auf bessere Menschen. Die Muster, nach denen selektiert wird und Beschämung oder Verehrung verteilt wird, sind dramaturgisch vorbestimmt: Wenn eine bestimmte Fallhöhe erzeugt werden soll, müssen Protagonisten auch sehr tief fallen, damit sich andere entsprechend strahlend davon abgrenzen können.

Wenn wir Medien nutzen, übernehmen wir die Gefühle der Akteurinnen und Akteure und fragen uns, wie wir uns in einem vergleichbaren Setting verhalten würden. Gibt es da einen Unterschied zwischen Reality-TV und fiktionalen Stoffen?

Beim Reality-TV gibt es eine spezifische Dynamik und Struktur der Erzeugung von Affekten. Das reicht deutlich über Formen des Mood Managements hinaus, also die Nutzung von Medien, um unsere Stimmung zu regulieren. Reality-TV setzt auf den affektiven Exzess: Es muss immer dick aufgetragen werden, es muss geheult werden, und dann hält die Kamera ganz nah drauf. Es muss gestritten und gejubelt werden. Und schließlich müssen sich die Antagonistinnen und Antagonisten in den Armen liegen – je länger, desto besser. Das ist die besondere Funktion als Affektgenerator. So dick aufgetragen finden wir das im bürgerlichen Roman sicherlich nicht. Dort wird feiner moduliert.
 

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Und interessanterweise finden wir diesen Exzess auch nicht aufseiten des Publikums gespiegelt. Wir haben in unserer Untersuchung Menschen im Wohnzimmer mit Videoaufzeichnung beobachtet, wie sie gemeinsam auf dem Sofa Reality-Formate angeschaut haben. So konnten wir genauer analysieren, was auf der Ebene der Körper passiert. Denn genau dort werden Affekte sichtbar. Und nach der ersten Sichtung des Materials waren wir ganz enttäuscht und frustriert, weil dort quasi nichts passiert ist. Germany’s Next Top Model dauert ja mehr als drei Stunden. Das sind ritualisierte Abende, an denen man sich gern im Kreis von Freundinnen oder auch der Familie trifft, um das Ereignis gemeinsam als Fernsehabend zu zelebrieren. Das ist ein soziales Ereignis, aber da chillt man eben auch, also finden wir sehr viel entspannte Lean-Back-Posen auf dem Sofa im Gegensatz zur Aufregung auf dem Bildschirm.

Wie sehr übernehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Emotionen der Protagonistinnen?

Solche Formen affektiver Ansteckung haben wir vor allem gesehen in Momenten des Mitjubelns. Dann gibt es kurzzeitig steile Kurven von Erregungen. Auf der anderen Seite sehen wir flache Kurven der Entspanntheit, die durch einzelne kurze Höhepunkte unterbrochen werden. Das ist eine durchaus typische Fernsehsituation, die in die Häuslichkeit und in ein abendliches Wohlfühlen eingebettet ist. Nach der ersten Enttäuschung über diese „langweilige“ Beobachtung haben wir uns die Videoaufzeichnungen noch einmal kleinteilig angeschaut. Dabei konnten wir feststellen, dass auf der Ebene des Körpers tatsächlich Affekte vom Bildschirm auf das Publikum übergehen. Wir sehen, dass Posen der Kandidatinnen in den Körpern der Zuschauerinnen und Zuschauer reproduziert, z.T. sogar vorweggenommen wurden. Wir bezeichnen das als Pre-Enactment. Also einige Sekunden bevor wir eine Pose der Freude oder der Scham „on screen“ sahen, haben Zuschauende sie vor dem Bildschirm performt. Diese Formate und ihre Erzählweisen, aber auch ihre performative Struktur sind mittlerweile in bestimmten Generationen so bekannt, dass auch diese körperlichen Posen vertraut sind. Sie werden – oftmals auch ironisch – am eigenen Körper erprobt. Genau das bezeichnen wir als „affektive Medienpraktiken“. Das machte für uns empirisch sichtbar, dass tatsächlich durch Affekte eine Regulation von Körpern stattfindet. Ich halte das für die zentrale Wirkmächtigkeit dieser Formate. Das erzeugt noch tiefere Einflüsse, hinterlässt tiefere Spuren als rein kognitive Prozesse.

Auch wenn jugendliche Zuschauerinnen und Zuschauer die Sendung gut finden, akzeptieren sie nicht immer, wie sich beispielsweise Dieter Bohlen und Heidi Klum verhalten.

Die Sorge, dass das Medienhandeln von Zuschauenden nur affirmativ ist und die Stars nur bejubelt werden, habe ich auch nicht. Ich finde es affekttheoretisch interessant, dass die Gemachtheit dieser Formate und die Inszenierung aller Konflikte auch den sehr jungen Zuschauerinnen und Zuschauern durchaus bewusst ist. Der kognitiv und kritisch reflektierte Umgang mit der Medialität dieser Formate geht gleichwohl einher mit dem vergnüglichen Simulieren, Imitieren und Persiflieren. Das ist eine hohe Medienkompetenz, ein Wissen um das Genre. Ich will damit die Formate keineswegs adeln. Aber Medienhandeln ist sehr viel komplexer, es gibt keine simple Wirkmechanik.

Da singt ein Kandidat wirklich schrecklich, macht sich aber große Hoffnungen, zu gewinnen. Und dann fühle ich als Zuschauer: Oh Gott, der Arme wird gleich von der Jury fertiggemacht.

Ja, Fremdschämen ist für das Publikum ein zentrales emotionales Muster in diesen Formaten. Es ermöglicht uns, voyeuristisches Vergnügen an den Missgeschicken anderer zu haben und sich genau dafür auch ein wenig zu schämen. So ist es möglich, sich selbst überlegen zu fühlen gegenüber den Protagonistinnen und Protagonisten. Mit Blick auf diese medialen Affektdynamiken ist das eigentlich Bemerkenswerte, dass genau in dieser Gleichzeitigkeit sich widersprechender emotionaler Regungen die Attraktivität der Formate besteht. Und deshalb wird genau diese Art der Kommunikation ökonomisch verwertbar gemacht. Eine unserer Grundthesen war, dass das Format Topmodel jetzt in der 16. Staffel läuft und es längst nichts Neues mehr auf der Ebene des Inhalts gibt. Jede und jeder weiß, wie es ablaufen wird. Gleichwohl: Die Quoten nehmen zwar ab, aber sie reichen offensichtlich, um eine neue Staffel auszustrahlen. So liegen Sehmotive ganz maßgeblich darin, genau diese Gefühlswechselbäder immer wieder auch in sich selbst zu erleben. Das ist einerseits ein Stellvertreter-Erleben, aber auch eine Art von Durcharbeiten möglicher Affekte, was ich für durchaus komplex und wertvoll halte. Aber darin liegen auch die ökonomischen Triebkräfte genau dieser Formate.

Dahinter stecken auch reale ethische Dilemmata: Wie deutlich darf ich das artikulieren, wenn ich jemanden negativ wahrnehme?

Hier finden wir grundlegende soziale Distinktionsmechanismen. Man erkennt eigene Facetten oder Konflikte in den Personen wieder, aber man ist sich zugleich der entscheidenden Differenz bewusst: Die Figur in der Sendung muss leiden, ich sitze zum Glück sicher auf meinem Sofa. Hier werden oftmals Personen ausgestellt, die sich einer öffentlichen Bewertung aussetzen, was man selbst auf keinen Fall freiwillig machen würde. Im Vergleich zu den Protagonistinnen und Protagonisten im Reality-TV ist mein Leben stabil und solide. So findet mit Bourdieu Distinktion statt. Einige der von uns Befragten betonen auch immer wieder, dass sie gar nicht das „eigentliche Publikum“ des Reality-TV seien – so wird Differenz markiert.
 


Die Figur in der Sendung muss leiden, ich sitze zum Glück sicher auf meinem Sofa.



Unsere weitergehende These: Wir leben aktuell in einer gesellschaftlichen Formation, in der wir alle mit einem hohen Maß an Ungewissheit und Instabilität in einem steten Wettbewerb leben. Wir navigieren also mit Unsicherheit. Durch diese Abgrenzung von Protagonistinnen und Protagonisten, die häufig in sozial spannungsreichen Bedingungen leben, lässt sich für die Zuschauenden ein Stück Sicherheit gewinnen. In gewisser Weise liefert das die Suggestion von Sicherheit.

Kommen wir zu den Produzenten. Wissen diese genau, welche Emotionen sie erzeugen müssen und wie das geht?

Bei Interviews mit Produzentinnen und Produzenten aus aller Welt haben wir einerseits ein etwas schlicht gestricktes universalistisches Verständnis von Emotion gefunden: Liebe ist etwas, das sich überall erzählen lässt und universell verständlich ist. Interessant waren auch kulturelle Zuschreibungen wie: „In Deutschland müssen Emotionen mehr atmen, das hat der Zuschauer lieber.“ Da unterstreicht melodramatische Musik emotional aufgeladene Momente, durch Slow Motion oder Very-Close-ups wird das dann in der Postproduktion noch intensiviert – so werden Emotionen gedehnt und einem vermeintlich deutschen Empfinden angenähert. Grundlegend aber verstehen sie Emotionen als eine Währung, die sich global vermarkten lässt. In der Konsequenz werden deshalb sehr basale Muster bespielt: grandioser Sieg oder enttäuschende Niederlage. Romantische Liebe und unerbittlicher Neid. Dabei beschreiben die Produzentinnen und Produzenten recht eindeutig, dass sie mit dem Casting bestimmte emotionale Positionierungen erreichen wollen. Bauchgefühl spielt eine große Rolle, im Zweifel fragen sie die Sekretärin, was sie am stärksten empfindet. Da greift man auf eine Küchenpsychologie zurück, das Prinzip von Trial and Error.

Und kommt das, was sich die Produzenten überlegen, beim Publikum auch so an?

Wir haben unterschiedliche Typen von Zuschauergruppen identifiziert, die wir bei der Rezeption per Video dokumentiert haben. Nach ein paar Tagen haben wir noch einmal gezielt durch „lautes Denken“ bestimmte Sequenzen angeschaut und gefragt, wie es ihnen dabei ging und was ihnen durch den Kopf gegangen ist. Wir wollten die im Video sichtbaren Affekte und die körperlichen Reaktionen nicht ohne Reflexionen mit den Betroffenen interpretieren. Später haben wir in Fokusgruppen-Diskussionen noch einmal eine stärker versprachlichte, diskursive Auseinandersetzung nachgezeichnet. Während die Videobeobachtung also Aussagen über körperlich sichtbare Affekte ermöglicht, werden in den Befragungen die subjektiv erlebten Emotionen zur Sprache gebracht.
Es ist einmal mehr deutlich geworden, dass gemeinschaftliches Fernsehen ein zutiefst sozialer Prozess ist. Wir finden dabei unterschiedliche Formen von Vergemeinschaftung – gemeinsam vor dem Fernseher, aber auch translokal mit anderen Fans des Formats. Dabei sind unterschiedliche Formen von Emotionsgemeinschaften sichtbar geworden: Es gibt z.B. die Lästergemeinschaft, die ein gemeinschaftliches Vergnügen daran empfindet, über die Kandidatinnen und Kandidaten zu lästern – sie gerieren sich dabei als eine Art Co-Jury: „Guck dir das doch mal an, die kann ja nicht mal anständig laufen.“ Sie erleben in diesen gemeinschaftlichen Abwertungsprozessen ein großes Vergnügen. Wir finden auch die klassische Fangemeinschaft mit ritualisierten Abenden, bei denen das Fernsehen nur ein Baustein in einem sozialen Arrangement ist, mit dem eine gewisse rituelle Kontinuität hergestellt wird.

Dass man Vergnügen an Inhalten hat, für die man sich eigentlich schämt, wird als Guilty Pleasure bezeichnet …

Der Begriff beschreibt ein widersprüchliches emotionales Arrangement: die Gleichzeitigkeit von Vergnügen daran und dem Widerspruch zu meiner inneren moralischen Stimme, die mir sagt: Das ist eigentlich nichts für mich. Und diese emotionale Spannung kennzeichnet genau die Funktionsweise und auch den Erfolg von Reality-TV.
 

Dr. Margreth Lünenborg ist Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrft tv diskurs.