Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale
Leverkusen 2021: Budrich
Rezensent/-in:
Hans-Dieter Kübler
Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale
Sämtliche Lebensverhältnisse sind von Technik, vor allem von (digitalen) Medien nahezu vollständig durchdrungen, auch die von Kindern und Jugendlichen, so lautet die Hauptthese der Herausgeber*innen dieses Handbuches, das einem vor gut 20 Jahren in englischer Sprache mit dem Titel Children, Technology and Culture. The Impacts of Technologies in Children’s Everyday Lives (Ian Hutchby und Jo Moran-Ellis 2001) herausgegebenen nacheifert. Das Aufwachsen, Leben, Agieren und Lernen von Kindern in unserer Gesellschaft wird in 25 Beiträgen, eingeteilt in vier Schwerpunkte, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Analysen unterzogen. Neben den neuen Medien wie Smartphones und PCs prägen gegenwärtig biotechnologische Verfahren der Reproduktion als aktuelle, digitale Technologien das Leben von Kindern und Jugendlichen, das vornehmlich an Universitäten lehrende Autor*innen mit kultur-und kapitalismuskritischen Perspektiven untersuchen. Vor allem im ersten Abschnitt, mit Technik und Gesellschaft überschrieben, werden gesellschaftstheoretische, historische und ökonomische Aspekte zwischen Digitalisierung, Technik, Demokratie, Erziehung und nicht zuletzt der „verbetrieblichten Lebensführung als Subsumption des Lebens unter den Produktionsprozess“ (S. 124 ff.) beleuchtet. In der Nachfolge von soziologischer Kulturkritik und Kritischer Theorie wird gezeigt, dass technologische Rationalität sich zur Herrschaftsform verselbstständigt und nur fremdbestimmte Lebensperspektiven zulässt. Die digitalen Technologien potenzieren diese Entfremdung hin zum „Überwachungskapitalismus“ und Datenkolonialismus.
Der zweite Abschnitt, Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit, nähert sich stärker dem eigentlichen Thema, bleibt aber auch theoriegesättigt und abstrakt. Er beginnt mit einer Analyse der brisanten Thematik des biotechnologisch erzeugten Kindes, also von reproduktionstechnologisch erzeugten Schwangerschaften und den daraus entstehenden Kindern. Es folgen sozialisationstheoretische Beiträge: einmal zur Reproduktion des symbolisch-strukturellen Dominanzverhältnisses von Technik und Männlichkeit, zum anderen zur medial strukturierten Entwicklung von Persönlichkeiten vor allem in den 1950er- bis 1970er-Jahren. Wie Kinderkultur ebenfalls weitgehend durch globale Spielprodukte und Medienverbünde mediatisiert wird, illustriert der nächste Beitrag. Welche sozialen Praxen im Umgang mit Social Media sich ausbilden, zeigt dann eine empirische Studie. Doing Family belegt die Vorbild-, Regulations- und Filterfunktionen der Eltern bei der Mediennutzung. Schließlich thematisiert der letzte Beitrag fotografische Familien- und Kinderbilder in verschiedenen historischen Epochen.
Der dritte Abschnitt, Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln, kommt endlich zur wohl meist erwarteten Thematik. Der erste Beitrag untersucht den scheinbaren Widerspruch zwischen traditionellem und digitalem Spiel und kann zeigen, dass sich die pädagogisch geschätzten Merkmale freien Spiels auch in digitalen Spielumgebungen durchsetzen. Mit dem Verhältnis von Kindern und Dingen befasst sich der nächste – psychologische – Beitrag und zeigt anhand des Fabrication Laboratory, wie Kinder ihre subjektiv-biografischen Themen anschaulich materialisieren. In einem explorativen Forschungsprojekt werden Aneignungsmöglichkeiten von digitalen Spielangeboten beleuchtet. Anhand des Onlinespiels Fortnite wird entdeckt, dass Kinder für sich solch gewalthaltige Spieldramaturgien eher auf Distanz halten und sich selten damit identifizieren. In einer qualitativen Befragung von 10- und 11-jährigen Jungen über ihren Umgang mit dem PC-Spiel Minecraft, in dem es um die technisch-digitale Gestaltung von Lebenswelten geht, wird sodann eruiert, wie die Probanden beim Bauen und Entwerfen miteinander kreativ, kompetitiv, aber auch harmonisch umgehen.
Der vierte und letzte Abschnitt widmet sich der digitalen Bildung in den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Eingangs untersuchen zwei Medienpädagog*innen die vielfältige Ausformung von Medienkompetenz entsprechend dem Alter, dem soziokulturellen Milieu und den Bildungsvoraussetzungen von Kindern. Wie sich Bildungsprogramme und Tagesverläufe in der Kindertagesbetreuung durch digitale Angebote verändern, illustriert der nächste Beitrag in der Aufarbeitung von bisherigen Forschungsergebnissen, Modellprojekten sowie an einem bayerischen Modellversuch. Pädagogische Ziele und Voraussetzungen einerseits sowie Handlungsoptionen und Praktiken andererseits in der Elementar- und Primarbildung betrachten die folgenden drei Beiträge. Wiederum bestätigt sich, dass viele Komponenten wie eine optimale technologische Infrastruktur, pädagogisch-didaktische Konzepte sowie einschlägige Qualifizierungen des Lehrpersonals aufeinander abgestimmt sein müssen, um angestrebte Bildungsziele zu erreichen. Die beiden letzten Beiträge runden diesen pädagogisch-didaktischen Abschnitt mit außerschulischen Diskursen über das Thema „Technik und Schutz“ ab.
Insgesamt schlägt dieses Handbuch womöglich einen zu weiten, nicht ganz stimmigen Bogen über die gesamte Thematik, der den nach sachlicher und pragmatischer Orientierung suchenden Leser*innen eher mit den beiden letzten Abschnitten entgegenkommt, während gesellschafts- und technikkritische Interessent*innen wohl beim ersten Teil verharren. „Kontrovers“ – wie die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung betonen – ist der Band in jedem Fall.
Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler