Helikoptermoral

Empörung in sozialen Netzwerken reduziert die Differenzierung

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Michael Schmidbauer

Alles, was in dieser Gesellschaft passiert, wird in den sozialen Netzwerken bewertet. Wer auffallen will, darf in der Wortwahl nicht zimperlich sein und muss die Empörung über Äußerungen oder Verhaltensweisen, die man zutiefst ablehnt, eindeutig und ohne jede Einschränkung zum Ausdruck bringen, gelegentliche Beleidigungen und Herabwürdigungen eingeschlossen. Daumen hoch oder Daumen runter: Für Differenzierungen bleibt kein Platz mehr. Wer sich auf der richtigen Seite wähnt, stellt sich gerne über andere, er will sich selbst aufwerten, indem er auf andere herabschaut. Der Psychotherapeut Dr. Wolfgang Schmidbauer bezeichnet dieses Phänomen in seinem neuen Buch gleichnamigen Titels als „Helikoptermoral“. tv diskurs sprach mit ihm.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 22-27

Vollständiger Beitrag als:

Sie beginnen Ihr Buch mit einer Erfahrung, die Ihre Tochter vor langer Zeit gemacht hat …

Meine Tochter wollte, als sie 10 Jahre alt war, riskieren, sich alleine in der U-Bahn auf den Weg zu machen. Ich habe es erlaubt. Als sie nach Hause kam, erzählte sie, es sei alles gut gelaufen. Das einzige Problem sei allerdings gewesen, dass sie von einer älteren Dame in der U-Bahn angesprochen worden sei: „Kind, weißt du nicht, wie gefährlich es ist, in deinem Alter ganz alleine unterwegs zu sein?!“ Das ist für mich ein gutes Beispiel dafür, was man dekontextualisierte Moral nennen könnte: Die alte Dame hat sich überhaupt nicht überlegt, was ihre moralisierende Position bei ihrem Gegenüber auslöst. Sie demonstriert vielmehr eine Art überlegenes Wissen, eine überlegene Kenntnis, sie wertet sich selbst durch das Moralisieren auf, bedenkt aber dabei nicht, dass ihr Gegenüber dadurch irritiert und verängstigt wird. Die Angst wird also durch das Bestreben des Moralisten, sich selbst zur Geltung zu bringen, erst geschaffen. Es ist ein schlichtes Beispiel, und es ist schon sehr lange her. Aber es hat mich deshalb interessiert, weil es genau dem Muster folgt, nach dem heute sehr viele und auch immer radikalere moralisierende Äußerungen in der Öffentlichkeit auf uns einströmen. Das moralische Urteil fällt uns ganz schnell ein. Es stellt immer eine Art Geborgenheit her, weil es das Unbekannte und Befremdliche nicht verstehen will und sich auch nicht dafür interessiert. Es wird als negativ klassifiziert und häufig eben auch als wertlos oder gar wertfeindlich dargestellt.

Die Empörung über eine bestimmte Situation oder ein Verhalten erfolgt unmittelbar. Wie ist das psychologisch zu erklären? Es scheint doch eine Art spontane Reaktion auf eine normativ als falsch empfundene Verhaltensweise zu sein. Ist das die Folge einer Art Konditionierung auf bestimmte, besonders wichtig angesehene Normen?

Wichtig ist dabei vor allem, dass die Empörung sofort und unreflektiert geäußert wird. Das geht sehr schnell und ohne Rücksicht auf das, was ich Kontext nenne. Im Beispiel mit meiner Tochter geht die Empörung gar nicht an die richtige Adresse. Wenn, dann müsste man ja mit den Eltern die Diskussion anfangen, die Eltern sind aber nicht dabei gewesen. Die doch sehr wichtige Trennung zwischen dem Boten und der Botschaft wird in diesem Falle aufgegeben. Wir geraten in Gefahr, wieder in die emotionalen, affektiven Mechanismen von primitiven Kulturen oder Primitivreaktionen in entwickelten Kulturen zurückzufallen, wenn derjenige, der die Nachricht überbringt, bestraft wird, weil die Nachricht als unangenehm empfunden wird.

Amerikanische Forscher haben die schnelle Art der Empörung mit dem Ekel verglichen, der in vielen Fällen ja auch nicht rational begründbar ist, sondern affektiv und spontan erfolgt.

Das ist ein Teil des Problems. Die Szene mit meiner Tochter ist schon lange her. Inzwischen ist es so, dass heftige pädagogische Diskussionen darüber geführt werden, ob man 10-jährige Kinder überhaupt alleine lassen darf. Beispielsweise hört eine Patientin von mir mit ihrer Gruppentherapie auf, weil sie glaubt, ihre 11-jährige Tochter nicht für 90 Minuten in ihrer Wohnung alleine lassen zu können. Das ist schon ein Kontrast. Ich hatte damals keine Probleme, meine 10-jährige Tochter alleine mit der U-Bahn fahren zu lassen. Sie wollte es und hat es sich zugetraut. Heute kann die Mutter ihre Tochter ohne Babysitter nicht alleine in ihrer Wohnung lassen. Da hat sich ganz bestimmt etwas geändert an der Ausschließbarkeit von Angst. Ich hatte damals, ehrlich gesagt, keine Angst. Wenn ein Kind alleine unterwegs ist, sind die Menschen in der Regel hilfsbereit und kümmern sich, wenn etwas nicht klappt. Deshalb habe ich für mein Buch auch den Titel Helikoptermoral gewählt, quasi in Anlehnung an die Helikoptereltern. Der Titel impliziert, dass dieses überfürsorgliche Verhalten das Selbstvertrauen des Kindes schädigen kann. So ähnlich verhält sich das mit den Menschen, die heute spontan über irgendetwas erregt sind und das in teils übertriebener sprachlicher Form in die Tasten hauen, ohne darüber nachzudenken, wie das auf das Gegenüber wirkt und was sie damit möglicherweise anrichten. Sie wollen vor allem schnell ihren Affekt loswerden.

Wie kommt es dazu, dass wir ausgerechnet heute so viele Helikoptereltern haben? Während meiner Jugend und Ihrer wahrscheinlich auch war es völlig normal, dass Schulanfänger nach ein paar Tagen der Eingewöhnung den Schulweg alleine zurücklegen mussten. Heute werden z.T. noch 12-Jährige in die Schule gebracht und wieder abgeholt.

Das ist paradox. Eigentlich hätten sich die Eltern damals mehr sorgen müssen als heute, denn heute hat das 10-jährige Kind, das zum ersten Mal in der U-Bahn fährt, natürlich ein Handy dabei. Es kann also in jeder Krise sofort die Eltern erreichen. Trotzdem ist die Angst gewachsen. Auch meine Patientin, die ihr 11-jähriges Kind nicht für anderthalb Stunden alleine lassen kann, könnte ihm natürlich ein Handy geben und das Kind könnte sie jederzeit erreichen, wenn es Probleme geben sollte. Es ist beides parallel gewachsen: einerseits die Möglichkeit, per Handy Hilfsangebote zu holen, und die Angst, dass trotzdem etwas Schlimmes passieren könnte. Das hat möglicherweise auch mit den Medien zu tun, weil man natürlich sehr viel mehr Bilder von unangenehmen, schrecklichen Szenen und Geschichten zur Kenntnis nehmen muss und deshalb wahrscheinlich ein Klima entsteht, in dem die Fantasie stark in Richtung Gefahr stimuliert wird.

Der Wiener Psychologe Peter Vitouch geht in seinem Buch Fernsehen und Angstbewältigung davon aus, dass gerade Horrorfilme besonders häufig von angstneurotischen Menschen angesehen werden, weil sie mit Angst konfrontiert werden, die sie – im Gegensatz zur Wirklichkeit – kontrollieren können. Sie können wegschauen, sie könnten theoretisch den Film ausstellen, und sie wissen, dass der Spuk nach 90 Minuten zu Ende ist.

Die Angst ist ein ganz wichtiger Effekt. Es gibt Statistiken, die darauf hinweisen, dass immer mehr Menschen in der heutigen Gesellschaft unter Angststörungen leiden. Das hängt aber mit der allgemein wahrgenommenen Instabilität der Welt zusammen. Das Bedürfnis, sich durch schnell getätigte moralisierende Äußerungen aufzuwerten und sich so eine Art Sicherheit zu verschaffen, nimmt auch deshalb zu, weil die Welt in ihrer Realität immer komplexer geworden ist und sich nachdrücklich diesen einfachen moralischen Schwarz-Weiß-Entscheidungen verweigert. Ich kenne das von meiner Kolumne im „Zeitmagazin“: Man beschreibt eine komplexe Situation, in der jemand stark an einer Beziehung hängt, aber gleichzeitig die Beziehung als problematisch empfindet. Der Therapeut ist um eine differenzierte Lösung bemüht, die beide Seiten berücksichtigt. In den Leserbriefen wird dann meistens reagiert: Wie umständlich, in solchen Fällen trennt man sich doch einfach. Schnelle Reaktionen nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ sind natürlich während des Schreibens und in der Fantasie eine Entlastung. In der Realität ist es aber gefährlich und endgültig, einfach die Türen zuzuschlagen, wenn man von jemandem beleidigt worden ist.

Wir empören uns offenbar gerne. Das ist wohl ein Grund dafür, dass Medien selten über gut funktionierende Handlungen schreiben oder die Normalität darstellen, sondern eher über Phänomene berichten, bei denen Fehler gemacht, Sicherheitsvorkehrungen missachtet oder Kompetenzen überschritten wurden – über Phänomene also, über die man sich empören und aufregen kann …

Die Realität bei Behörden, die mit tatsächlichen Problemen von Familien zu tun haben – beispielsweise das Jugendamt –, sieht ja oft so aus: Sie handeln ziemlich langsam. Es sind die berühmten dicken Bretter, die gebohrt werden müssen, wenn es beispielsweise einem Kind in einer Familie nicht gut geht, die Eltern mit dem Kind nicht zurechtkommen und das Kind misshandelt oder vernachlässigt wird. Es stellt sich die Frage, ob das Kind aus der Familie herausgenommen werden muss. Da gibt es meistens nur eine Entscheidung: die Suche nach dem kleineren Übel. Wer sich in seinem realen Leben auch immer in Richtung auf das kleinere Übel entscheiden muss, der entwickelt natürlich in seiner Fantasie eine starke Sehnsucht danach, dass große Gute leidenschaftlich zu verteidigen. Das macht viel von dieser Entrüstung aus. Ich kann mich an eine Talkshow erinnern, an der man das ganz gut sehen konnte: Da war ein Schauspieler eingeladen, der eine schwierige Kindheit gehabt hatte. Es gab in der Talkshow auch einen Jugendamtsleiter, in dessen Zuständigkeitsbereich ein Kind vernachlässigt wurde und am Ende verhungert ist. Das Jugendamt hätte natürlich dem Vater das Kind wegnehmen müssen. Der Amtsleiter hat versucht, zu beschreiben, wie schwierig das ist und dass man gehalten ist, die Erziehung in der Familie zu stärken, dass man dies beobachten muss und das Kind erst dann herausnehmen darf, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn das Kind herausgenommen wird, bezieht das Jugendamt meist die Kritik, es würde den Eltern ihre Kinder wegnehmen. Lässt das Amt ein Kind aber zu lange in der Familie, kommt der Vorwurf, das Jugendamt sei schuld daran, dass das Kind verhungert ist. Auf diese Differenzierungsversuche des Jugendamtsleiters reagierte der Schauspieler vehement: Es könne doch nicht sein, dass in Deutschland ein Kind unter den Augen des Jugendamtes verhungere. Das Publikum klatschte daraufhin und war begeistert, denn mit einer so klaren Positionierung kann man sich gut identifizieren. Mit dem Jugendamtsleiter hingegen, der das Problem aus der Ferne real einschätzen muss – was oft sehr schwierig ist, da sich die Eltern bei Besuchen des Jugendamtes meist einsichtig verhalten –, kann sich niemand identifizieren. Er ist kein Held.

Bei terroristischen Anschlägen überschlagen sich die Reaktionen von Politikern, die die Morde als empörend, unmenschlich oder verabscheuungswürdig darstellen. Das ist eigentlich selbstverständlich, denn niemand findet solche Taten komisch oder belanglos. Will man damit die Täter treffen? Oder will man bedingungslose Solidarität mit den Opfern demonstrieren, wie Altkanzler Gerhard Schröder nach dem 11. September 2001?

Mit Moralisten eine Gemeinsamkeit herzustellen, trägt in der Regel nicht sehr weit. Als in Frankreich „Charlie Hebdo“ überfallen wurde, waren die landesweiten Solidaritätsbekundungen sehr stark, sie waren aber auch sehr schnell wieder zu Ende, als die Menschen meinten, das Benzin sei zu teuer geworden. Mein Hintergrundbegriff ist die manische Abwehr: Die Fantasie vom beherrschbaren Leben ist an sich unauffällig in unserer Gesellschaft. Auffällig wird die manische Abwehr erst dann, wenn sie zusammenbricht. Der Zusammenbruch der manischen Abwehr zeigt sich in Gestalt einer Depression oder des Burn-outs. Wer mit Personen arbeitet, die depressiv sind oder unter einem Burn-out leiden, und sich deren Geschichte genauer anschaut, der findet diese manische Abwehr. Er findet häufig die Lebenseinstellung: Wenn ich fleißig bin und mich anpasse, dann werde ich Erfolg haben und es wird mir gut gehen. Das funktioniert zunächst natürlich auch, wenn man das Arbeitsleben anfängt. Aber irgendwann gibt es Konflikte, und dann wird jemand mit dieser Einstellung, sich anzupassen und brav zu sein, bemerken, dass nicht er zum Projekt- oder Abteilungsleiter befördert wird, sondern ein anderer. Wenn sich solche Ereignisse häufen, bricht die Depression aus. Dann entsteht dieses Phänomen, dass jemand zu gar nichts mehr Lust hat und das Gefühl bekommt, er hätte alles falsch gemacht. Er fühlt sich als Totalversager. So lange man aber behaupten kann, dass diese Möglichkeit gar nicht existiert, dass man auf der guten Seite ist und dass so etwas nicht passieren darf, so lange kann man diese innere Gefahr der Depression in Schach halten. Das, denke ich, ist die Funktion dieser öffentlichen Erregungen: Man hofft, dadurch die Illusion einer machbaren, vielleicht siegreichen guten Welt aufrechterhalten zu können. Das klappt aber nur für kurze Zeit.

Je höher der Grad der gesellschaftlichen Empörung und je unangenehmer die Konsequenzen für den Brecher der Norm, desto mehr wird die Norm in der gesellschaftlichen Wahrnehmung gestärkt. Bleiben die Empörung und die Konsequenzen aus, ist es wahrscheinlich mit der Norm auch bald vorbei. Zu einigen Themen hat die Empörung stark zugenommen, was die Norm sehr gestärkt hat. In den 1970er-Jahren hat man darüber debattiert, ob sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen erlaubt werden sollten, wenn sie auf Freiwilligkeit beruhen. Heute wäre das undenkbar: Das stärkste Tabu ist gegenwärtig wohl die Pädophilie.

Dass die Verachtung und Bekämpfung von Pädophilie heute gemessen an den 1950er- oder 1960er-Jahren einen so hohen Stellenwert hat und dadurch auch eine entsprechend starke Empörung hervorruft, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass wir damit eine Angst abhandeln, welche die Zukunft überhaupt betrifft. Das gegenwärtige Verhalten der Erwachsenen, der älteren Generation, vor allem das derer, die Macht besitzen, droht darauf hinauszulaufen, dass die heutigen Kinder in absehbarer Zeit keinen angenehm bewohnbaren Planeten mehr vorfinden. Das führt zu einem Gewissenskonflikt. Es entsteht diese Sehnsucht danach, eine heile Welt zu sichern, in der Kinder keine Angst mehr vor irgendwelchen sexuellen oder aggressiven Übergriffen haben müssen. Für jemanden, der sich solche Erlebnisse wie beispielsweise das Ansehen sexuell stimulierender Bilder von Kindern nicht verbietet, sind Kinder ja offensichtlich sexuell begehrenswert. Es ist für die Gesellschaft zu kompliziert, nachzuvollziehen, was die Fachleute sagen. Wie man z.B. mit Sebastian Edathy umgegangen ist, war ein Schlag ins Gesicht des gesamten therapeutischen Prozederes. Therapeutisch geht man davon aus, dass man zwar die Fantasien haben darf, diese aber auf keinen Fall in der Realität umsetzen darf. Es mag auch eine Abwehr eigener pädophiler Fantasien sein, wenn man sich da maximal empört. Das führt eben dazu, dass man Menschen, bevor überhaupt irgendein Übergriff ansatzweise bewiesen ist, schon an den Pranger stellt. Sicher schwingen da unterschiedliche Gründe mit, z.B. die Angst, dass den eigenen Kindern so etwas zustoßen könnte. Und natürlich ist in der Vergangenheit zu diesem Thema viel Unsinn gesagt worden: dass die Kinder sehr neugierig gewesen seien und sich eine Art erwachsene Sexualität selbst gewünscht hätten und darin eingeführt werden wollten, wie man das beispielsweise an der Odenwaldschule behauptet hat. Das ist aus meiner Sicht psychologischer Unsinn, der manchmal in den 1960er- und 1970er-Jahren produziert worden ist. Aber gegenwärtig geht das maximal in die andere Richtung. Es gibt ja heute das Netzwerk „Nicht Täter werden“, an das sich Menschen wenden können, die sexuelle Neigungen zu Kindern spüren und diese beherrschen wollen, ohne sie umzusetzen. Einer der Gründer, Prof. Dr. Klaus Michael Beier, hat in einem Interview einmal den Vergleich gezogen, dass es etwas ganz anderes ist, ob ein Alkoholiker, dem Alkohol angeboten wird, ablehnt mit den Worten: „Sorry, ich bin trockener Alkoholiker!“ Oder ob ein Pädophiler, den beispielsweise ein Nachbar bittet, auf sein Kind aufzupassen, das mit den Worten ablehnt: „Das kann ich leider nicht, denn ich bin abstinenter Pädophiler.“

Dieses Beispiel zeigt auch, dass das Plus-Minus-Denken zwar eine schnelle Empörungsbereitschaft schafft, für differenziertes Denken und für differenzierte Lösungen aber kein Platz gelassen wird.

Ja, es gibt eine fatale Verbindung zwischen der Schnelligkeit der elektronischen Medien und der Schnelligkeit von primitiven Emotionen. Ängste und Aggressionen sind die schnellsten Affekte. Die haben wir immer gebraucht, um uns in der Steppe zurechtzufinden und um schnell zu entscheiden: Ist das jetzt meine Beute oder muss ich Angst haben, dass ich Beute werde?! Das muss in Sekundenschnelle geschehen, während das, was uns heute weiterhilft, die komplexe Wirklichkeit zu bewältigen, eine zeitraubende Mischung aus Emotionen und Denken ist. Dazu spielt auch noch Empathie eine große Rolle. Das dauert. Man kann sehr schnell eine Beziehung beenden, wenn man vorher gekränkt worden ist; aber eine Beziehung weiterzuführen und die Kränkung zu verstehen oder zu verarbeiten, das dauert. Wenn beispielsweise ein Patient betrogen worden ist und sich dann beklagt, dass die Verletztheit so lange dauert, dann sage ich ihm, dass die einzige schnelle Lösung darin besteht, eine Keule zu nehmen und den anderen totzuschlagen. Alles andere ist eben langwierig und schwierig. Das passt natürlich auch gut zu den Reden über die Politik: Das Bohren dicker Bretter dauert immer länger! Recht haben geht schnell, aber um komplexe Zusammenhänge vernünftig zu lösen, muss man sich Zeit nehmen und Verständnis entwickeln.

Das Problem liegt heute vielleicht auch darin, dass es viele Themen gibt, bei denen die Positionen sehr weit auseinandergehen. Beim Flüchtlingsthema beispielsweise meinen die einen, Hilfsbereitschaft und Solidarität stünden über allem, während die anderen jede Hilfe ablehnen, weil sie die vielen Fremden als Bedrohung für ihr Leben ansehen. Auch beim Klimawandel befürchten die einen als Folge unseres Umweltverhaltens eine gigantische Klimakatastrophe, während andere wie beispielsweise der amerikanische Präsident Donald Trump das alles für ein Hirngespinst halten. Wollen wir uns klar positionieren, um nicht ständig unsere Meinung überdenken zu müssen?

Ich glaube schon, dass es Lösungen gibt, dass aber diese Lösungen leider nie paradiesisch sein werden. Die Sehnsucht nach etwas Paradiesischem wächst natürlich, je mehr wir fürchten, dass wir Abstriche von dem hinnehmen müssen, was wir uns quasi als Vorstufe zum Paradiesischen bereits aufgebaut haben. Es ist viel bedrohlicher, etwas zu verlieren, was man sicher zu haben glaubte, als sich an einen Zustand von Armut oder an ein Gleichgewicht mit der Umwelt zu gewöhnen, das eben auf Kosten unseres Luxus geht. Vor allem diejenigen, die viel haben, möchten nicht zu einer Lösung beitragen, indem sie auf ihren Wohlstand verzichten. Deshalb ist der US-Präsident so überzeugt, dass es diesen Klimawandel gar nicht gibt. Dass jemand so etwas denkt, ist reine Affektlogik. Aber dass so viele Menschen das glauben und ihn wählen und dass sich die Menschen, die anders denken, so schwertun, sich durchzusetzen, obwohl sie eine viel größere Nähe zur Realität und tatsächlich eine Lösung im Auge haben, ist beängstigend. Momentan stecken wir in einer Zwischensituation, in der die Verleugnung der Gefährdung unserer Zukunft noch möglich ist, weil die Zeichen noch nicht völlig eindeutig sind und noch verdrängt werden können. Wenn der Wandel eindeutig ist, werden wir in eine neue Situation geraten. Der Mensch ist unglaublich kompetent darin, mit realen Problemen umzugehen – auch mit realen Katastrophen –, aber er kann ganz schlecht mit Eventualitäten fertigwerden. Da wir derzeit in einer extremen Übergangssituation leben, ist diese Mischung aus Realität und Eventualität so schwer durchschaubar.

Glauben Sie, dass wir in der Lage sind, eine Kultur im Umgang mit Medien zu entwickeln, die eine vernünftige Integration der Medien in unsere Gesellschaft ermöglicht?

Es gab ja immer solche Medienkatastrophenszenarien. Zu Goethes Zeit war man der Meinung, das Lesen von Romanen würde die Jugend verderben, Comics, Schmutz- und Schundromane wurden mir als Kind verboten. Heute freuen sich die Pädagogen eher über jedes Wort, das die bildhungrigen Kinder noch lesen. Man kann Technik begrenzen, wo sie nachweislich gefährlich ist, denken wir an den TÜV. Wir brauchen viel und objektive Forschung außerhalb der Interessen von Kapitaleignern und vielleicht auch mehr Selbstvertrauen und weniger Quotenhörigkeit im öffentlich-rechtlichen Bereich. Was schädlich ist, muss begrenzt werden; noch wichtiger wäre es aber im Grunde, zu fördern und zu unterstützen, was an Medieneinfluss die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft fördert. Da stehen wir ganz am Anfang.

Dr. phil. Dipl. Psych. Wolfgang Schmidbauer ist Autor, Lehranalytiker, Psychotherapeut und Supervisor.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur von tv diskurs.