„Information ist die größte Chance.“

Das niederländische Kijkwijzer-System führt die Altersfreigaben „ab 14 Jahren“ und „ab 18 Jahren“ ein

Claudia Mikat im Gespräch mit Tiffany van Stormbroek

Kijkwijzer ist das seit 2001 in den Niederlanden verwendete algorithmenbasierte Klassifikationssystem, mit dem Kino- und Videofilme, DVDs und Fernsehprogramme mit Informationen über ihre potenzielle Schädlichkeit für Kinder und Jugendliche versehen werden. Das System hat mit den Altersgruppen „0“, „6“, „12“ und „16“ begonnen und bereits in 2009 eine weitere Alterskategorie „ab 9 Jahren“ eingeführt. Seit dem 1. Januar 2020 ist Kijkwijzer zusätzlich um die Alterskategorien „ab 14 Jahren“ und „ab 18 Jahren“ erweitert worden. tv diskurs sprach mit Tiffany van Stormbroek, der Direktorin des zuständigen Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media ( NICAM), über die Hintergründe und die Akzeptanz des Systems.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 4-7

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In den Niederlanden teilen sich Medienanbieter und Regierung die finanzielle und politische Verantwortung für den Jugendmedienschutz und für das Kijkwijzer-System. Nun hat Kijkwijzer die neuen Altersstufen „ab 14 Jahren“ und „ab 18 Jahren“ eingeführt. Wer gab den Anstoß für diese Veränderung?

Das war nicht eine Initiative der Anbieter oder der Regierung, sondern der Wunsch der Eltern. Wir haben Eltern befragt, welche Informationen sie benötigen, um Medienentscheidungen für ihre Kinder zu treffen. Dabei haben wir festgestellt, dass die bestehenden Altersklassifizierungen „12“ und „16“ den aktuell von Jugendlichen rezipierten Medieninhalten oft nicht angemessen sind und auch dem Medienverhalten junger Menschen in dieser Altersgruppe nicht entsprechen. Die audiovisuellen Produktionen, die mit „16“ bewertet wurden, deckten nach Art und Inhalt ein sehr breites Spektrum ab – sie können das Fantasygenre und historische Actionfilme ebenso umfassen wie harte Pornografie und Produktionen mit extremer Gewalt. Hier wünschen sich Eltern differenziertere Informationen und bei extrem gewalttätigen oder pornografischen Inhalten auch eine reine Erwachsenenkategorie „ab 18 Jahren“. Auch im Bereich zwischen den Freigaben „12“ und „16“ gibt es Grenzfälle, die eine weitere Differenzierung sinnvoll erscheinen lassen.

Welche wissenschaftlichen Hinweise gibt es, die für eine stärkere Differenzierung in der Adoleszenz sprechen?

Wir können die Ergebnisse der Befragung der Eltern und der Heranwachsenden selbst mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen in Verbindung bringen. Die Adoleszenz umfasst die Altersgruppen von etwa 12 bis 18 Jahren, also eine große Zeitspanne, die durch zahlreiche tiefgreifende physische und mentale Veränderungen gekennzeichnet ist. Junge Menschen durchlaufen zwischen Kindheit und Erwachsensein nicht nur zwei, sondern mehrere Stufen. Auch die Medienpräferenzen und ‑umgebungen verändern sich zwischen 12 und 18 Jahren ganz erheblich. Heranwachsende haben mehr Bedürfnis nach Autonomie und verlassen sich in der Medienwahl weniger auf ihre Eltern. Freunde spielen eine immer wichtigere Rolle in ihrem Leben. Die Jugendlichen werden in ihrem Medienkonsumverhalten immer unabhängiger, da sie über ihre eigenen Endgeräte verfügen und andere Plattformen nutzen als die Erwachsenen. Insgesamt gibt es also gute Gründe, zwischen früher und später Adoleszenz zu unterscheiden und mit den Altersgruppen „12“, „14“ und „16“ den Beginn, die Mitte und das Ende der Pubertät zu markieren. Für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen bedarf es präziserer Information.

Das bedeutet: Je mehr der elterliche Einfluss schwindet, desto mehr richtet sich die Information an die Heranwachsenden selbst?

So ist es. Eltern berichten, dass die großen Veränderungen in der Entwicklung ihrer Kinder mit dem Eintritt in die Sekundarstufe beginnen. Über 12-Jährige können über ihre Mobiltelefone rund um die Uhr online sein und eine Menge Inhalte ansehen. Die Eltern verlieren an Einfluss und hoffen, dass sie ihren Kindern genügend Werte und gesunden Menschenverstand vermittelt haben, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen. Dafür benötigen sie aber auch die richtigen Informationen. Vor allem mit Blick auf die Altersstufe „ab 16 Jahren“, die früher die höchste Alterskategorie darstellte, waren viele Eltern der Ansicht, dass ihre Teenager mit einigen der so gekennzeichneten Inhalte noch überfordert sind.
 

IFC Films: Trailer The Painted Bird



Können Sie ein Beispiel nennen? Was macht heute einen 16er‑Film zu einem 18er?

Extreme Gewalt und Pornografie werden jetzt in die Erwachsenenkategorie eingeordnet. Der erste Film, der in den Niederlanden eine Freigabe ab 18 Jahren erhielt, war The Painted Bird über einen jüdischen Jungen, der während des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa unfassbare Grausamkeiten zu erdulden hat. Der Film zeigt Missbrauch und Vergewaltigung, Tierquälerei und andere explizit dargestellte Gewaltexzesse und Qualen – Szenen, die selbst Erwachsenen viel zumuten. Die Freigabe ab 18 Jahren und die Information über die relevanten Inhalte sind eine Warnung. Ab 16‑Jährige können den Film ansehen, aber sie sollten besser wissen, was auf sie zukommt.

Bleiben wir bei den Beispielen: Was macht einen 12er‑Film heute zu einem 14er?

Hier haben wir zum einen Filme im Blick, die für einen Teil der ab 12‑Jährigen zu ängstigend sind, weil sie sich emotional noch nicht so gut distanzieren können oder weil sie sensibel auf bestimmte Inhalte reagieren. Manche Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren fürchten sich vor Vampir- oder Zombiegeschichten, andere finden sie lustig. In den Interviews haben die Jugendlichen daher selbst angegeben, dass sie sich mehr Information wünschen, um besser entscheiden zu können, ob sie sich einen Film ansehen oder nicht. Jugendliche in diesem Alter kennen ihre Grenzen und wissen gut, was sie vertragen. Neben einer ängstigenden Wirkung ist auch das im Film gezeigte Risikoverhalten relevant für die Frage „12“ oder „14“. Der Grad der Beeinflussbarkeit junger Menschen hängt von ihrem Entwicklungsstand ab. Hier gehen wir davon aus, dass Jugendliche in der frühen Adoleszenz anfälliger für fragwürdige Medienvorbilder sind, auch impulsiver und eher bereit zu risikoreichem Verhalten als junge Menschen in der späten Adoleszenz. Relevant sind also Filme, in denen gefährliches oder unsoziales Verhalten attraktiv erscheint oder Alkohol- und Drogenkonsum verharmlosend oder als völlig normal dargestellt werden. Temptation Island etwa hat nicht nur wegen der freizügigen Sexdarstellungen eine Freigabe ab 14 Jahren bekommen, sondern auch wegen des ungehemmten Alkoholkonsums.
 

20th Century Studios DE: Trailer Maze Runner. Die Auserwählten im Labyrinth



Sehr intensiv hinsichtlich der neuen Kategorie „ab 14 Jahren“ haben wir beispielsweise auch die Maze Runner-Reihe diskutiert. In dem Science-Fiction-Abenteuer muss eine Gruppe von Jugendlichen viele gefährliche Prüfungen bestehen. Die Handlung ist actionreich, das Setting klar irreal, aber es gibt auch bedrohliche Situationen und Horrorelemente. In einem späteren Teil spielt die Geschichte in einer dystopischen Welt, in der ein Großteil der Menschheit zu Zombies mutiert ist. Teil 1 erhielt eine Freigabe ab 12, die anderen Teile eine ab 16 Jahren – und beide Freigaben fanden wir nicht wirklich passend, bezogen auf den Inhalt. Heute würde die Reihe vermutlich ab 14 Jahren freigegeben.

Haben Sie den Eindruck, dass sich auch der Markt verändert hat? Gibt es in der heutigen Film- und Fernsehlandschaft mehr Inhalte, die sich nicht an 12-, sondern eher an ab 14‑Jährige richten?

Ja, ich habe schon den Eindruck, dass sich durch Video-on-Demand- und Streamingdienste das Inhalteangebot in diese Richtung erweitert hat. Gerade im Fantasy- und Mysterygenre gibt es heute mehr Produktionen wie beispielsweise Stranger Things, die gezielt Jugendliche in der Pubertät ansprechen, indem sie Coming-of-Age-Geschichten erzählen.

Wie werden die neuen Alterskategorien angenommen? Haben Sie Eltern und Heranwachsende schon dazu befragt?

Wir evaluieren das neue System und analysieren alle Bewertungen „ab 14 Jahren“ und „ab 18 Jahren“, aber die Ergebnisse werden erst Anfang 2021 vorliegen, wir teilen sie dann gern. Unser Eindruck nach den ersten Reaktionen ist, dass die Eltern und die Kinder und Jugendlichen selbst ein Mehr an Information schätzen.
 

Netflix: Trailer Strange Things



Kijkwijzer hat sich schon immer auf die Information über die Inhalte konzentriert. Hat es sich bewährt, Inhalte nicht von Kindern und Jugendlichen fernzuhalten, sondern sie über mögliche Gefahren zu informieren?

Angesichts der allgemeinen Verbreitung und Verfügbarkeit von Angeboten im Internet ist Information über die Inhalte jedenfalls die größte Chance, die wir haben, vor allem auch Informationen für die Heranwachsenden selbst. Wir versuchen daher, unseren Ansatz weiter auszubauen und nicht nur Eltern, sondern auch Kinder und Jugendliche anzusprechen. Dazu erweitern wir das Onlineangebot und ergänzen die Piktogramme mit detaillierten Informationen zu den einzelnen Wirkungsrisiken. Außerdem möchten wir Eltern mehr Instrumente an die Hand geben, um sich aktiv mit den Medien in Bezug auf ihre Kinder auseinanderzusetzen. Filme sind Diskussionsanlässe, sie bieten die Möglichkeit, bestimmte Themen an die Öffentlichkeit zu bringen und auch auf lustige und positive Art und Weise über das zu sprechen, was man sieht. Wir vermitteln daher den Eltern, dass es auch für Jugendliche in der Pubertät immer noch sehr wichtig ist, Fragen zu stellen und offene Ansprechpartner zu haben. Wir möchten Kijkwijzer weiter verbessern: Mit den differenzierten Alterskategorien und gezielten Informationen wollen wir die Glaubwürdigkeit des Systems erhöhen und sicherstellen, dass es auch in Zukunft ein wirksames Schutz- und Informationswerkzeug bleibt.

Haben Minderjährige die Chance, an diesen Prozessen teilzunehmen?

Wir möchten eine Art Kinderkommission aufbauen, aber das ist im Moment natürlich sehr schwierig. Zurzeit beschränken wir uns auf Gespräche mit einigen wenigen Fokusgruppen. Wir fragen sie, was sie über bestimmte Inhalte denken, auf welche Art von Inhalten sie stoßen, wenn sie online sind, und welches Rating sie angemessen finden. Direkt mit den Kindern und Jugendlichen darüber zu sprechen, welche Art von Informationen sie benötigen und was ihnen im derzeitigen System fehlt, ist natürlich sehr aufschlussreich – wir werden das fortführen.

Tiffany van Stormbroek ist Direktorin des Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media (NICAM).

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).