Jugendschutz aus der Sicht von Eltern
Als 2010 der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) novelliert werden sollte, gab es eine breite öffentliche Diskussion darüber. Letztlich scheiterte die Novelle am Landtag in Nordrhein-Westfalen. 2014 starteten die Länder einen erneuten Versuch, das Gesetz trat dann im Oktober 2016 in Kraft. Dieses Mal war die öffentliche Reaktion gleich null. Hat die Öffentlichkeit das Interesse am Jugendschutz verloren?
Ein Unterschied mag gewesen sein, dass die sogenannte Netzgemeinde sich nicht so stark eingebracht hat. Aber auch von anderer Stelle gab es offenbar den Wunsch, die Regelungen in Kraft zu setzen. Dass das Interesse verloren gegangen ist, würde ich nicht sagen. Denn die Studie1 verdeutlicht ein Problembewusstsein. So nennen circa drei Viertel der befragten Eltern konkrete Sorgen, die sie bezüglich der Onlinenutzung ihres Kindes haben.
Ist für die Eltern Jugendschutz also immer noch ein relevantes Thema?
Der Schutz der Kinder ist für die Eltern durchaus ein wichtiges Thema. 90 % der Eltern stimmen beispielsweise der Aussage zu, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen im Alter des eigenen Kindes wichtiger ist als ein leichter Zugang zu allen Onlineangeboten. In der Befragung benannten sie auch konkrete Bereiche, in denen sie Risiken sehen. Und dabei zeigen sich durchaus interessante altersbezogene Muster. Die Sorgen der Eltern beziehen sich teilweise auf Inhalte, die im Bereich der Jugendschutzregulierungen liegen, also beispielsweise die verstörende Darstellung von Gewalt oder Sexualität. Die Eltern sprechen aber auch Sorgen an, die über den Regulierungsbereich des klassischen Jugendmedienschutzes hinausreichen. Dieser bezieht sich ja vornehmlich auf inhaltebezogene Probleme. Aus Sicht der Eltern geht es aber auch um den Kontakt mit nicht vertrauenswürdigen Personen oder auch den Zugriff auf private Daten der Kinder. Das sind Bereiche, die von den bisherigen gesetzlichen Regelungen im Jugendmedienschutz so nicht gefasst werden. Und es läuft auch eine Diskussion darüber, ob sie überhaupt gefasst werden können.
Aus meiner Erfahrung ist eine der Hauptsorgen der Eltern die, dass man manchmal den Eindruck hat, bei Kindern und Jugendlichen sei das Smartphone „angewachsen“. Immer online zu sein, führt oft zu Kommunikationsstörungen mit der realen Umwelt.
In unserer Befragung findet sich u.a. die von Eltern mit steigendem Alter der Kinder häufiger genannte Sorge, dass die Kinder zu viel Zeit mit Medien verbringen. Auf die offene Frage nach Sorgen wurde auch von einigen Eltern die Beeinträchtigung sozialer Beziehungen genannt. Und interessanterweise sehen auch zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen als Problem, dass Gleichaltrige zu viel Zeit online verbringen. Und dieses Problem trifft auch einen Kernpunkt der aktuellen Debatte. Denn man könnte die mit Medien verbrachte Zeit als ein Thema der Medienerziehung sehen und damit primär die Eltern in die Pflicht nehmen. Oder auch die Selbstregulation der Kinder im Fokus haben. Zugleich gibt es aber auch in bestimmten Angeboten enthaltene Mechanismen, die motivieren, häufig und auch länger auf das Smartphone zu schauen. Und nicht zuletzt wird es gesellschaftlich erwartet, immerzu erreichbar zu sein. Es geht also um eine geteilte Verantwortung von Eltern, Kindern, Anbietern – und das in einem geregelten Rahmen.
Welche Unterstützung erwarten die Eltern von den Anbietern? Spiele für Konsolen müssen z.B. nach dem Jugendschutzgesetz (JuSchG) gekennzeichnet sein. Die gehen allerdings zurück, und bei Onlinespielen sind die gesetzlichen Bestimmungen lockerer, die können die Anbieter selbst erteilen.
Die Frage, was sich Eltern von den Anbietern erwarten, haben wir so offen nicht gestellt. Wohl aber haben wir gefragt, wen die Eltern in der Verantwortung sehen und wie diese Verantwortung jeweils übernommen wird. Um es kurz zu machen: Die Eltern erwarten von den Anbietern, dass sie Verantwortung übernehmen, und haben den Eindruck, dass sie es im Onlinebereich nicht sehr ausgeprägt auch machen. Um auf die Alterskennzeichen zu kommen: Die sind tatsächlich weitgehend bekannt. Ob Eltern aber mit den genannten Unterschieden vertraut sind, lässt sich auf Basis der Daten nicht sagen. Ich persönlich bin da aber skeptisch.
Anbieter wie Netflix haben ihren Sitz nicht in Deutschland, sondern z.B. in den Niederlanden. Dadurch sind die Zugriffsmöglichkeiten deutscher Regulierer ziemlich gering. Dagegen werden die 10 bis 20 % der Mediennutzung, die auf Kino, DVD und Fernsehen entfallen, mit erheblichem Aufwand reguliert. Ist das den Eltern bewusst und was erwarten sie hier vom Gesetzgeber?
Die Tatsache, dass die Eltern die Auffassung äußern, die Anbieter würden nicht genügend Verantwortung übernehmen, zeigt ja, dass sich die Eltern schon Gedanken darüber machen, dass die Kinder im Netz mit Inhalten konfrontiert werden, die man so aus den klassischen Medien nicht kennt. Aber auch hier gilt: Inwieweit den Eltern die unterschiedlichen Regelungshintergründe bekannt sind, kann ich nicht sagen. Und wenn wir jetzt kurz träumen dürfen, sollte es ja eigentlich in einem Idealzustand für die Endverbraucher des Jugendmedienschutzes auch egal sein. Vielmehr wäre die Erwartung ein gleiches Schutzniveau in der konvergenten Medienwelt.
Wenn man Menschen fragt, ob ein Dritter versagt hat oder mehr Verantwortung übernehmen müsste, ist es leicht, diese Frage zu bejahen. Nehmen wir beispielsweise die Frage der Installation eines Jugendschutzprogramms: Hier könnten die Eltern konkret etwas tun. Faktisch scheint aber die Nutzung z.B. von JusProg unter 2 % zu liegen.
Die Akzeptanz für Jugendschutzprogramme ist allerdings recht hoch. Wenngleich auch die Bewertung durchaus ambivalent ist. So gehen 55 % der befragten Eltern davon aus, dass sie ihr Kind mit einer Filtersoftware guten Gewissens allein im Netz surfen lassen können. Fast genauso viele gehen aber auch davon aus, dass Kinder und Jugendliche technische Jugendschutzmaßnahmen leicht umgehen können. Auf die Frage, ob Eltern ein Jugendschutzprogramm installiert haben, zeigt sich ein deutlicher Alterseffekt. Bei den 9- bis 10-Jährigen sind es noch 38 % der Eltern und bei den 15- bis 16-Jährigen nur noch 9 % der Eltern. Allerdings wissen wir nicht, ob hier unter Jugendschutzprogrammen JusProg verstanden wurde oder ob die Eltern an Jugendschutzfunktionen in Virenprogrammen oder Betriebssystemen dachten. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Ja, Eltern könnten mehr tun. Das geht aber auch über die Installation eines Jugendschutzprogramms hinaus.
Die Idee, dass nur geprüfte Programme oder solche, die auf einer Whitelist zu finden sind, von den Kindern oder Jugendlichen entsprechender Altersgruppen abgerufen werden können, funktioniert ja bei den anderen Jugendschutzprogrammen nicht.
Interessant ist auch, dass als Begleiteffekt neue Herausforderungen entstanden sind. So war im letzten Jahr eine Folge der Serie Game of Thrones, die vom Sender „ab 18“ gelabelt wurde, in der Mediathek den ganzen Tag über verfügbar. Da der Inhalt für ein Jugendschutzprogramm gekennzeichnet war, konnten alle, die kein solches Programm installiert haben, den Inhalt rund um die Uhr in der Mediathek abrufen. Das ist natürlich aus medienpädagogischer Sicht sehr unbefriedigend. Und das, obwohl sich der Sender wahrscheinlich gesetzeskonform verhalten hat. Zu dieser Problematik gibt es sicherlich noch Wissensdefizite in der Bevölkerung. Denn um entsprechend zu handeln, müssen Eltern erst einmal wissen, dass es diese neue Herausforderung gibt.
Was nicht gekennzeichnet ist bzw. was die Jugendschutzprogramme nicht von sich aus auf die Liste setzen, kommt bei den Nutzern nicht an, wenn das jeweilige Jugendschutzprogramm für ihr Alter scharf gestellt wurde. Nun kennzeichnen die Anbieter nicht, weil zu wenige Eltern Jugendschutzprogramme installiert haben. Denn die Jugendschutzprogramme würden alle komplett harmlosen Inhalte blockieren, wenn sie nicht gekennzeichnet sind.
Aus der Nutzersicht betrachtet, ist die Tatsache, dass, wenn man ein Fernsehgerät mit Internetzugang hat, Sendungen über den einen Kanal nicht verfügbar sind, auf dem anderen dagegen schon, sehr unbefriedigend. Da muss man sich natürlich fragen, wie bei den Angeboten im Internet eine solche Vorsperre funktioniert. Und dabei ist ein wichtiger Faktor, wie das in den Familien gehandhabt wird. Wenn eine PIN freizügig innerhalb der Familie weitergereicht wird, erfüllt das auch nicht den gewünschten Zweck. Und gerade, wenn ein Tablet tagsüber von Kindern und abends von den Eltern genutzt wird, stellt sich die Herausforderung, dass jeweils ganz unterschiedliche Anforderungen bestehen. Das wäre interessant, genauer in den Blick zu nehmen, wie das bei mobilen Medien in Familien gehandhabt wird. Grundsätzlich ist es natürlich interessant, gerade jüngeren Kindern einen Zugang zu altersangemessenen Inhalten zu ermöglichen und ihnen damit die Chancen eines Onlinezugangs zu eröffnen. Filter können da ein Baustein sein, aber es muss auch eine entsprechende Angebotslandschaft geben.
Man hört relativ häufig, dass 15-Jährige einen 16er-Film gesehen haben und dabei so viel Angst hatten, dass sie schwören, in Zukunft die Altersfreigabe zu beachten.
Die Alterskennzeichnung ist ein etabliertes Instrument des Jugendmedienschutzes. Und nahezu alle befragten Eltern wünschen sich, dass man auch Onlineangeboten durch entsprechende Kennzeichen ansehen können sollte, für welche Altersgruppe sie geeignet sind. Dennoch, die große Zustimmung zeigt, dass die Alterskennzeichnung für Eltern und auch Kinder und Jugendliche einen wichtigen Orientierungsanker bietet. Zugleich gehen auch mehr als die Hälfte der Eltern – und etwa gleich viele Heranwachsende – davon aus, dass Alterskennzeichen den Reiz für Kinder und Jugendliche erhöhen können, Angebote zu nutzen, die für das Alter nicht geeignet sind.
Ist das nicht vielleicht einfach auch ein Stück Provokation? Vor einigen Jahren gab es beispielsweise den Film Jackass, der fast jedes gesellschaftliche Tabu brach. Dann gab es ein Interview mit den Autoren und Produzenten, und die waren so harmlos, dass ihnen jeder sofort einen Bausparvertrag abgekauft hätte.
Die Abgrenzung von Erwachsenen und Provokationen gehören sicher auch zum Heranwachsen dazu. Und genau darum geht es ja auch beim Jugendmedienschutz, hier einen Rahmen zu setzen, dass Kinder und Jugendliche nicht in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. Und da kommt es zum einen darauf an, die inszenierten Darstellungen von Jackass als solche zu erkennen und es eben nicht als bare Münze zu nehmen. Die Fähigkeiten hierzu sind einfach altersbedingt verschieden und es liegt auch nahe, dass unterschiedliche Vorbilder in den verschiedenen Milieus unterschiedlich attraktiv erscheinen. Soziale Kontexte spielen damit auch eine Rolle. Eine Herausforderung in der aktuellen Medienwelt ist dabei, dass Jugendliche sich auch in sozialen Netzwerken immer Räume suchen, in denen sie ungestört und von den Eltern unbeobachtet interagieren können. Aber da können in der Interaktion oder durch die Datensammlung auch neue Probleme entstehen, die der Jugendmedienschutz bislang noch nicht im Fokus hatte.
Nach meinem Eindruck werden die FSK- und USK-Altersfreigaben von Jugendlichen durchaus akzeptiert. Könnte nicht auch ein System funktionieren, das Altersgrenzen mit zusätzlichen Informationen über deren Hintergründe verpflichtend macht?
Ich bin mir nicht sicher, ob sich das empirisch belegen lässt. Wir haben ja 2008 an der Evaluierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags teilgenommen. Da gab es durchaus Eltern, die die Verarbeitungsfähigkeiten ihrer Kinder deutlich überschätzt haben.
Anmerkung:
Der Jugendmedienschutzindex ist abrufbar unter https://www.fsm.de/de/jugendmedienschutzindex
Niels Brüggen (Foto: JFF)
Joachim von Gottberg (Foto: Sandra Hermannsen)