Jugendschutz in der digitalen Gesellschaft
Das Freigabesystem der klassischen Medien lässt sich nicht einfach übertragen
Im Jahr 1997 wurde in der EU die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ novelliert, deren Verabschiedung einen starken Einfluss auf die damalige niederländische Regierung hatte. Die Europäischen Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert, Minderjährige vor potenziell gefährdenden Medieninhalten zu schützen – und das nicht nur im Bereich des Kinos, sondern auch im Fernsehen. Gleichzeitig wurden auch Teile der Gesellschaft aktiv: Wissenschaftler und Eltern machten sich Gedanken über den Einfluss der unglaublichen Masse audiovisueller Inhalte. Die späten 1990er-Jahre waren auch jene Zeit, in der das Privatfernsehen in den Niederlanden immer wichtiger wurde.
Wann wurde das Privatfernsehen in den Niederlanden eingeführt?Es startete erst 1990, also ziemlich spät. Zusätzlich kamen Computerspiele und Videos auf den Markt und wurden immer beliebter. Wir aber hatten nur die Filmkeuring, die Altersfreigaben für Kinofilme vergab. Es musste also etwas passieren, und so führte die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Liberalen Gespräche mit Vertretern des privaten Rundfunks, Filmverleihern und Vertreibern von Spielen und DVDs. Diese Diskussionen dauerten eine ganze Weile, aber am Ende fasste man einen Entschluss: Die audiovisuellen Medien in den Niederlanden sollten ihre Verantwortung ernst nehmen und eine Institution ins Leben rufen – mit dem Ziel, ein einheitliches Klassifikationssystem für alle Medien zu entwerfen. Die Regierung sicherte dafür finanzielle Unterstützung zu und änderte das Mediengesetz, um eine solche Institution möglich zu machen. Festgelegt wurde auch eine Evaluierung, mit der man nach drei Jahren feststellen wollte, ob das neue System funktioniert. Ich arbeitete zu dieser Zeit in der Zuschauerforschung beim öffentlichen Rundfunk. Doch dann wurde ich gefragt, ob ich Interesse hätte, eine solche Institution aufzubauen und deren Direktor zu werden. Ich nahm den Job an und so wurde im Jahr 2000 das NICAM gegründet.
Warum verabschiedete man sich von der Methode der Ausschussprüfung und baute stattdessen das durch Fragebögen unterstützte System auf?Es war das Anliegen der Regierung, einen Jugendmedienschutz für alle audiovisuellen Produkte zu schaffen. Wie konnte das realisiert werden? In der Theorie hätte man natürlich eine solche Institution aufbauen können, indem man zum Beispiel die Kompetenzen der Filmkeuring einfach ausgeweitet hätte. Aber das hätte wahrscheinlich zu einer kafkaesken Situation geführt, denn die Menge an Inhalten hätte sicher große logistische Probleme verursacht. Diese Tatsache führte zu der Überlegung, die Firmen selbst für die Klassifizierung verantwortlich zeichnen zu lassen. Natürlich sollten diese Klassifizierungen nicht von beliebigen Personen durchgeführt werden, sondern von Menschen mit den dafür benötigten speziellen Kenntnissen. Und so begannen wir bei NICAM, die sogenannten „Coder“ auszubilden. Alle privaten und öffentlichen Sender, alle Filmproduktionsfirmen und -verleiher verfügen über eigene, von uns ausgebildete Codierer.
Müssen diese Codierer eine spezielle Qualifikation haben, etwa einen Studienabschluss in Pädagogik oder Psychologie?Nein, das müssen sie nicht. Es liegt im Verantwortungsbereich der jeweiligen Firma, welche Mitarbeiter sie uns schicken, oft kommen sie aus den Bereichen „Programmeinkauf“ oder „Marketing“. Im Laufe der Jahre haben wir spezielle Trainings entwickelt und jetzt gibt es sogar eine Prüfung, die aus einem theoretischen Teil, in dem die Codierer eine Reihe von Fragen richtig beantworten müssen, und einem praktischen Teil besteht, in dem sie eine Klassifizierung vornehmen müssen. Wir beurteilen dann, ob sie das gut machen. Mit dem Bestehen der Prüfung bekommen die Codierer ein Passwort für das Onlineklassifikationssystem, mit dem sie zukünftig arbeiten können.
Innerhalb des Klassifizierungssystems gibt es ein sehr ausgefeiltes Sicherheitssystem …Richtig. Es gibt zwei wichtige Grundpfeiler: erstens die ausgebildeten Codierer und zweitens das System. Es heißt Kijkwijzer und ist eine Kombination aus einer auf der Grundlage eines Fragebogens erhobenen Altersfreigabe und einem jeweiligen Symbol, das auf die Art des Risikos hinweist. Unser Fragebogen wurde von unabhängigen Wissenschaftlern entwickelt. Im Jahr 2000 entstand die erste Version auf der Grundlage von empirisch-wissenschaftlichen Daten über den möglichen Einfluss, den audiovisuelle Medien auf Kinder haben können. Ich kann mich noch sehr gut an den Moment erinnern, als wir den Fragebogen fertiggestellt hatten und uns fragten, ob er auch für die Klassifizierung von Computerspielen taugen würde. Wir wussten es nicht. Genau in dieser Situation, im Jahr 2001, gab es wiederum eine Initiative der Europäischen Kommission, in der die Frage gestellt wurde, ob es sinnvoll sei, ein einheitliches europäisches System für die Bewertung von Spielen aufzubauen. Am Ende der Gespräche war man so weit, es einfach zu probieren. Es wurden zwei internationale Arbeitsgruppen gebildet und – um es kurz zu machen – nach einem Jahr wurden die Ergebnisse vorgestellt, auf deren Grundlage PEGI, die Pan European Game Information, gegründet wurde.
Funktioniert PEGI nach einem ähnlichen System wie das NICAM?Das Vorbild für PEGI war Kijkwijzer. Auch hier gibt es Prüfer, einen speziellen Fragebogen, Alterseinstufungen und entsprechende Symbole, die denen von Kijkwijzer recht ähnlich sind. Interessant finde ich auch, dass Kijkwijzer als Koregulierung funktioniert. Anfänglich war es als reine Selbstregulierung geplant, aber die Zeit und die Ergebnisse der Evaluation zeigten, dass die Form der Koregulierung besser geeignet ist. Das hatte auch finanzielle Gründe, denn die Medien waren wenig daran interessiert, alles zu bezahlen. Also einigten wir uns auf eine 50:50-Finanzierung unter der Maßgabe, dass die Regierung ein Mitspracherecht hat. So besitzt die Regierung als Medienaufsicht eine Art Metasupervision über NICAM, was in der Praxis bedeutet, dass wir jedes Jahr einen Bericht mit allen Daten, Informationen und einem internationalen Vergleich abliefern müssen. Bisher waren die Ergebnisse immer zufriedenstellend, aber wir müssen das eben jedes Jahr wieder erreichen.
Wie sieht es im Bereich „Internet“ aus? Als wir das letzte Mal darüber sprachen, sagten Sie, dass es nicht möglich sei, ein Gesetz für die Regulierung des Internets zu verabschieden. Hat sich daran etwas geändert?Bisher noch nicht. Ich bin sehr gespannt, wie die neue „Audiovisuelle Mediendienste“-Richtlinie funktionieren wird. Ich habe gehört, dass der Vorschlag bald so weit gediehen sein wird, dass er vorgestellt werden kann. Wir werden sehen, was damit erreicht, wie das Feedback dazu aussehen wird. Ich denke, es wird für uns alle spannend sein zu sehen, was die Richtlinie in Bezug auf Jugendschutz von linearen und nonlinearen Diensten vorschlagen wird. Die große Frage wird sein, wie sich die Unterschiede im Jugendschutz von linearen und nonlinearen Inhalten entwickeln. The European Regulators Group for Audiovisual Media Services (ERGA) hat der Europäischen Kommission drei Berichte zur Reform der Richtlinie vorgelegt. Einer dieser Berichte ist sehr wichtig. Er betrifft den Jugendschutz und basiert auf den Erfahrungen und Ansichten der Jugendschutzinstitutionen – auch der deutschen. Dies zeigt eine Wende im Jugendschutz, da man ein System befürwortet, das nicht von einer gemeinsamen europäischen Klassifizierung ausgeht, wie es bei PEGI der Fall ist, sondern nationale Ausprägungen berücksichtigen soll. PEGI war Anfang des Jahrhunderts möglich, als es einen sehr positiven europäischen Geist gab und alles auf Kooperation und Harmonisierung ausgerichtet war. Die politische und die kulturelle Situation haben sich mittlerweile aber komplett verändert. Das ist tragisch. Harmonisierung ist heutzutage für einige Menschen fast so etwas wie ein Übergriff, aber PEGI beweist noch immer, dass eine gemeinsame Arbeit möglich ist.
Im Spiele-Bereich funktioniert das vielleicht, weil es sich um neue Player handelt. Aber bisher wurde bei den klassischen Medien schon der Versuch, an gemeinsamen Kriterien zu arbeiten, von den meisten Ländern abgelehnt. Die Briten und die Deutschen befürchteten eine Absenkung des Jugendschutzniveaus, Frankreich und Schweden sahen dagegen ihre Medienfreiheit bedroht.Ja, so ist es. Der ERGA-Rat besagt nun, dass es eine Quelle, aber ganz unterschiedliche nationale Ausprägungen geben soll. Man befürwortet ein Klassifizierungssystem, das die drei Standardkriterien „Gewalt“, „Sex“ und „Bad Language“ beinhaltet. Je nach Bedarf können weitere Kriterien hinzukommen. Das ist genau der gleiche Ansatz, wie ihn auch You Rate It vertritt. Offensichtlich scheint ein einheitliches System heute nicht mehr möglich zu sein.
Bevor wir zu You Rate It kommen: Ist das IARC System ein Beispiel für die ERGA-Idee: ein Ausgangspunkt, unterschiedliche Ausprägungen?Exakt. Die International Age Rating Coalition (IARC) hat kontinentale Bewertungen. Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) macht die deutschen Bewertungen der Apps für IARC. Sie geht zwar von einem gemeinsamen Fragebogen aus, bewertet aber nationale Unterschiede. Für das restliche Europa ist PEGI zumindest bei den Android-Apps involviert. Apple macht grundsätzlich seine ganz eigene Politik und bewertet mithilfe eigener Kriterien.
Gemeinsam mit den Kollegen aus Großbritannien arbeiten Sie an dem Projekt You Rate It. Wie kamen Sie darauf, wie funktioniert es?Vor etwa zwei Jahren hat die niederländische Politikerin und damalige EU-Kommissarin Neelie Kroes die CEO Coalition ins Leben gerufen, für die sie 25 bis 30 Vertreter wichtiger europäischer Firmen wie Deutsche Telekom, RTL, Mediaset oder Telefonica einlud, um mit ihnen darüber zu sprechen, wie das Internet zu einem besseren und sichereren Ort für Kinder zu machen wäre. Um dies zu realisieren, setzte sie u. a. auf elterliche Kontrollsysteme, Privatsphäre-Einstellungen und auf eine stärkere Nutzung von Inhalte-Klassifikationen. Die beteiligten Firmen waren aufgerufen, dazu Vorschläge einzureichen. Ich war für zwei Jahre in einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Weiterentwicklung von Inhalte-Klassifikationen beschäftigen sollte. Dazu gehörte auch das Thema „Apps“. Da zu diesem Zeitpunkt die Idee von IARC schon geboren war, sollten wir uns jedoch verstärkt mit den Klassifizierungsmöglichkeiten von User-Generated-Content beschäftigen. Wie konnte eine Lösung aussehen? Ich nahm die Frage mit nach Hilversum und diskutierte sie mit meinen beiden Kollegen Tiffany und Martijn. So entstand die Idee von You Rate It, die wir dann in Brüssel präsentierten. Das British Board of Film Classification (BBFC) war auch anwesend. Die Engländer fanden die Idee interessant und fragten, ob sie sich beteiligen könnten. So arbeiteten wir weiter an dem System. Schließlich kam Mediaset, das italienische Rundfunkunternehmen von Silvio Berlusconi, und wollte, dass wir You Rate It als Pilotprojekt für seine Video-Sharing-Plattform testen. Das haben wir jetzt ein Jahr lang gemacht, das Projekt ist abgeschlossen und ich hoffe, dass wir in wenigen Wochen den Evaluationsbericht in Brüssel vorstellen können. Die Frage war: Ist ein solches System visionär? Führt es zu etwas? Es ist in der Tat ein ganz einfacher Fragebogen, den Uploader nutzen und ausfüllen können oder eben auch die Nutzer. Schon jetzt lässt sich sagen, dass das Pilotprojekt gezeigt hat, dass die meisten Uploads harmlos waren. Besser wäre es natürlich, wenn man dies an einer großen Plattform wie YouTube testen könnte. Ich habe darüber auch schon oft mit Vertretern von Google diskutiert und es ihnen vorgeschlagen. Mein Gefühl ist aber, dass man nicht interessiert genug daran ist.
Die Frage ist, wie interessiert die Eltern oder die jungen Nutzer selbst an Jugendschutzsystemen sind und für wie wichtig sie deren Einsatz halten. In Deutschland gibt es Jugendschutzprogramme wie JuSProG, aber nach Schätzungen haben höchstens 2% der Eltern ein solches Jugendschutzprogramm installiert. Ist es nicht vielleicht sinnvoll, wenn wir uns neben den Altersfreigaben auf die Entwicklung eines Informations- und Empfehlungssystems konzentrierten?Ich stimme mit Ihnen überein und denke auch, dass Information schon eine Form von Schutz ist. Informationen zur Verfügung zu stellen, das ist wichtig und meiner Ansicht nach sollten das die Anbieter tun. Das ist das Erdnussbutter-Prinzip: Produzenten informieren darüber, welche Zutaten und Stoffe in ihren Lebensmitteln enthalten sind. Auch in Deutschland kommt dem immer mehr Bedeutung zu, weil man z.B. weiß, dass viele Lebensmittel zu viel Zucker enthalten. Gleichzeitig sind aber auch die Altersklassifizierungen wichtig. Kommen wir noch einmal zu der ERGA-Empfehlung zurück: Sie wirbt für Klassifizierung, aber sie wirbt auch für die Weiterentwicklung und Verbesserung von bestehenden Jugendschutzprogrammen. Wenn diese nutzerfreundlicher wären als bisher, würden sie auch von mehr Eltern installiert werden – auf freiwilliger Basis natürlich.
Wie sieht die ERGA-Vorstellung des einen Systems aus? Wer soll das machen?Ich glaube, darüber gibt es noch keine genauen, abschließenden Vorstellungen. Das Wichtigste ist vielleicht, dass es erstens einen gemeinsamen Entschluss darüber gibt, wie gut und hilfreich es ist, wenn Inhalte klassifiziert werden. Zweitens sollte darüber entschieden werden, wer beteiligt ist. Ich denke, alle europäischen Experten sollten involviert werden, sodass es nicht die Arbeit eines einzelnen Instituts oder Systems ist.
Was glauben Sie, wie wird das NICAM in zehn Jahren aussehen?Ich denke, das NICAM wird Teil eines Netzwerks sein. Es gibt einige Vorbilder für gute internationale Zusammenarbeit. Ich glaube zudem, dass konsequente Prüfungen und Freigaben für Inhalte hilfreich für Nutzer sind. Von wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass Kinder Kijkwijzer-Informationen dringend brauchen. Zukünftig wird eine automatisierte oder halb automatisierte Prüfung aufgrund des enormen Angebot-Volumens noch stärkere Bedeutung bekommen. Das ist schon interessant zu sehen: Das NICAM entstand, weil die Filmkeuring dem großen Markt an audiovisuellen Produkten nicht mehr Herr werden konnte. Nun kommen wir in die Lage, dass es international so viele Angebote gibt, dass wir uns noch einmal weiterentwickeln müssen.