Kein Leben ohne Rausch

Über die Begegnung mit dem anderen

Markus Schroer

Dr. Markus Schroer ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg.

Über Feiern, Rausch und Ekstase wird im professionellen Nachdenken über Gesellschaft nur selten nachgedacht. Wenn es überhaupt geschieht, dann gerät entweder nur die Funktion rauschhafter Feste für archaische Gesellschaften in den Blick oder das Thema wird unter dem Stichwort „Sucht“ thematisiert – und damit vor allem als soziales Problem behandelt. Der Beitrag zeigt, dass dabei die gemeinschaftsbildende und für soziale Kohäsion sorgende Qualität von gemeinsam erlebten Räuschen und Ekstasen im Kontext von Feiern und Feierlichkeiten massiv unterschätzt wird. Schon allein die zahlreichen Möglichkeiten, die geschaffen werden, um Räusche erfahren und Ekstasen ausleben zu können, zeigen, dass sich die dionysische Seite des Menschseins nicht dauerhaft unterdrücken lässt. Eher lässt sich beobachten, wie versucht wird, Rauscherlebnisse in den Alltag einzubauen, ohne damit auch exzessive Formen von Rausch und Ekstase komplett auszuschließen.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 18-25

Vollständiger Beitrag als:

Das professionelle Nachdenken über Gesellschaften kreist zumeist um die Themen „Wirtschaft und Arbeit“, „Ungleichheiten und Sozialstruktur“, „Recht und Religion“, „Technik und Medien“, „Bildung“, „Normen und Geschlecht“. Durch alle Bereiche hindurch soll dabei das menschliche Zusammenleben im Mittelpunkt stehen. Umso mehr muss erstaunen, dass die Themen „Feiern, Rausch und Ekstase“ regelmäßig ausgespart bleiben und in einschlägigen Überblickswerken über gesellschaftsrelevante Themen bis heute keine Einträge aufweisen. Sie werden wie reine Privatvergnügen behandelt, denen Menschen in ihrer Freizeit nachgehen. Was die Menschen hier tun, hat offenbar keinerlei Relevanz für den regelmäßig problematisierten Zusammenhalt von Gesellschaften, denn nur sehr wenige soziologische Gesellschaftsbeobachter:innen richten ihr Augenmerk auf diesen Bereich des Dionysischen im Gegensatz zum Apollinischen, wobei Dionysos als Gott der Ausschweifung, Sexualität und Ekstase gilt, während sein Antipode Apollon für Ordnung, Vernunft und Mäßigung steht (vgl. Nietzsche 1988).

Wenn Rausch und Ekstase überhaupt Erwähnung finden, so erscheinen sie durchweg als Gefahr für die Gesellschaft, weil Rauschzustände nahezu durchgängig mit Suchtphänomenen assoziiert werden, vor denen stets eindringlich gewarnt wird. Vor allem dann, wenn es sich nicht um etablierte, geduldete oder gar empfohlene Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Koffein und Tabletten, sondern um außerhalb des bürgerlichen Drogenkanons genossene Rauschmittel wie Marihuana, Kokain, Opium oder LSD handelt. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist der Befund, dass nur die zuletzt genannten Rauschmittel als „Rauschgifte“ (Schivelbusch 1980, S. 215) bezeichnet werden, was weit weniger selbstverständlich ist, als es die erst seit Ende des 19. Jahrhunderts üblich werdende Redeweise glauben machen will.

Dem Versuch, das Thema „Rausch“ in dieser Weise zu pathologisieren und in eine Nische des Sozialen abzuschieben, steht eine schier endlose Liste von Festen, Feiern und Feierlichkeiten entgegen, bei denen rauschhafte Ausschweifungen zumeist nicht nur einkalkuliert, sondern gezielt angestrebt werden. Die Oktober-, Richt-, Schützen-, Sommer-, Grill-, Volks- und Straßenfeste, die Geburtstags-, Tauf-, Verlobungs-, Hochzeits-, Abi-, Weihnachts- und Silvesterfeiern, die Ein- und Ausstände, Klassentreffen, Jubiläen, Partys, Raves, Happenings, Festivals und viele weitere Beispiele belegen eindrücklich, dass die zahlreichen Anlässe für Rauscherlebnisse aller Art das Leben eines jeden einzelnen Menschen geradezu strukturieren, statt es nur zu begleiten.

Offensichtlich gehören das Feiern und der Rausch zum Kernbereich der menschlichen Existenz.“

Wenn Feiern vor allem zu bestimmten Zeiten im Jahr in zumeist dafür eigens ausgewiesenen (Bar, Club, Diskothek, Kneipe, Partykeller usw.) oder für diesen Zweck entsprechend ausstaffierten Räumen (Büro, Garage, Haus, Schule, Straße usw.) stattfinden, so zeigt dies zudem, dass es weniger um die vollständige Verdammung oder grenzenlose Förderung von Rausch und Ekstase geht als vielmehr um ihre zeitliche Limitierung und räumliche Einhegung. Der Rausch hat insofern sowohl seine eigene Zeit als auch seinen eigenen Raum, kann also nicht immer und überall beliebig erlebt werden. Mithilfe der spezifischen Orts- und Zeitbestimmung für Feiern und Feste soll ein vollständiges Überfließen des Dionysischen in den Alltag vermieden werden, um die klare Grenzziehung zwischen Pflicht und Vergnügen, Arbeit und Freizeit, Alltag und Außeralltäglichem aufrechterhalten zu können.

 

Trailer Der Rausch (Weltkino Filmverleih, 19.11.2020)



Die Implementierung des Rausches in den Alltag kann insofern als Provokation angesehen werden. Und zwar gleich in zweierlei Hinsicht: Sie unterminiert sowohl den auf Nüchternheit angewiesenen Arbeitssektor als auch das auf einen Bruch mit dem Alltag angelegte Fest, das seinen ureigensten Sinn zu verlieren droht, wenn es nicht mehr länger als Ausnahmezustand erscheint (vgl. Caillois 1988). In den Gegenwartsgesellschaften lässt sich eine Tendenz zur Auflösung der strikt einander gegenüberstehenden Bereiche im Sinne einer weniger trennscharfen Unterscheidung von Arbeit und Pflicht hier, Freizeit und Vergnügen dort registrieren (vgl. Maffesoli 1986; vgl. Schroer 2022), was aber womöglich zulasten der Rauschintensitäten geht.
 

Feiern als gemeinschaftsbildende Maßnahme

Doch ob es sich nun um von langer Hand geplante ausschweifende Feste über Tage hinweg oder um spontane Trinkgelage von begrenzter Dauer und Intensität handelt: Eine große Rolle spielt dabei in vielen Kulturen der Welt zweifellos das gemeinsame Konsumieren von Alkohol, der als ein nahezu unersetzbarer Begleiter eines jeden Festes schon deshalb erscheint, weil ihm eine zentrale Funktion zukommt:

Alkohol trinken heißt seit altersher: Gemeinschaft bilden.“ (Schivelbusch 1980, S. 200)

Insbesondere der Wein hat „immer das Gemeinschaftsleben und die Kommunikation gepredigt. Er lockert die Zungen und bindet die Körper“ (Maffesoli 1986, S. 144). Das gemeinsame Trinken, zu dem auch das Erheben und Anstoßen der Gläser, das gegenseitige Zuprosten und das beständige Nachschenken gehören, stellt eine auch in gegenwärtigen Gesellschaften weitverbreitete, ritualisierte Praxis dar, die als ein fester Bestandteil des Alltagslebens angesehen werden kann. Die sich regelmäßig wiederholenden Trinkrituale begleiten und intensivieren die Gespräche während der zahllosen geselligen Zusammenkünfte und tragen so zur Bildung, Aufrechterhaltung und Verfestigung von Gemeinschaften entscheidend bei.

Während im öffentlichen Diskurs immer wieder die gesundheitsschädigenden Folgen des übermäßigen Genusses von Alkohol und anderen Drogen in den Mittelpunkt gestellt werden, die in der Tat desaströs sein können, bleibt die Verbindungen stiftende und soziale Beziehungen aufrechterhaltende Bedeutung gemeinsamer Rauscherfahrungen jedoch weitgehend unberücksichtigt. Dabei kann die Bedeutung des geselligen Feierns mit Rauschpotenzial für den Zusammenhalt einer Gesellschaft kaum hoch genug eingeschätzt werden. Denn gerade unter Fremden wirkt das gemeinsame Konsumieren von alkoholischen Getränken oft wie ein „Eisbrecher“, der die anfänglichen Vorbehalte durch kräftige Schlucke aus dem Glas oder der Flasche beiseiteschiebt.

Das gegenseitige Animieren zum Trinken, das Teilen der zur Verfügung stehenden Menge, die nicht ausbleibende Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus, die sich einstellende Euphorie und Ausgelassenheit der einander begegnenden und berührenden Körper während eines Festes – das alles wirkt ansteckend und verführt auch diejenigen zum Mitmachen, die ursprünglich gar nicht vorhatten zu feiern. Insofern kann das gemeinsame Feiern insgesamt als herausragender Faktor für die gesellschaftliche Kohäsion angesehen werden: „Im dionysischen Rausche, im ungestümen Durchrasen aller Seelen-Tonleitern bei narkotischen Erregungen oder in der Entfesselung der Frühlingstriebe äußert sich die Natur in ihrer höchsten Kraft: sie schließt die Einzelwesen wieder aneinander und läßt sie sich als eins empfinden; so daß das principium individuationis gleichsam als andauernder Schwächezustand des Willens erscheint“ (Nietzsche 1988, S. 557).
 

Trailer CLIMAX (Alamode Film, 29.10.2018)



Im Rausch: Entlastung vom Ich durch den Kontakt mit anderen Lebewesen

 Trotz der tragenden Rolle, die das Konsumieren von Alkohol und anderen Rauschmitteln bei Festen aller Art spielt, sind sie jedoch keineswegs die einzige Grundlage für ein rauschhaftes Erleben. Darüber hinaus gilt es mit Max Weber und Émile Durkheim auch den Einfluss von Tanz, Gesang und Musik zu berücksichtigen. Für die beiden Klassiker der Soziologie sind gemeinsame Rauscherfahrungen von elementarer Bedeutung für archaische Formen religiöser Vergemeinschaftungen, in deren Mittelpunkt sich im Raum versammelnde Körper stehen, die sich mit Gesten, Schreien und rhythmischen Bewegungen zu sich stetig wiederholenden, mit Trommeln erzeugten Tonabfolgen in eine kollektive Erregung („Efferveszenz“) und Ekstase versetzen (Weber 1980, S. 246; Durkheim 1984, S. 297). 

Ekstase lässt sich dabei als ein psychischer Ausnahmezustand bezeichnen, der mit einem Gefühl der Entrückung bzw. Euphorie in Verbindung gebracht und mit einem Außer-sich-Sein assoziiert wird.“

Schon bei Weber deutet sich an, dass dem Laien – im Gegensatz zum Zauberer als Virtuosen der Ekstase – nur gelegentliche Rauschzustände möglich sind, um den „Bedürfnissen des Alltagslebens“ (Weber 1980, S. 246) weiterhin nachkommen zu können, die in gebotener Nüchternheit zu absolvieren sind. Diese von Weber betonte Differenz zwischen unterschiedlichen Rollen wird in nachfolgenden Konzeptionen in eine verfallstheoretische Behandlung des Themas überführt, nach der es sich bei den Festivitäten in der Moderne nur mehr um ein schales Abbild ihrer historischen Vorgänger handelt. In dieser Weise beklagen etwa Georges Bataille und Roger Caillois die allzu eingehegten und gezähmten Feste ihrer Zeit, während die zu anderen Zeiten und an anderen Orten stattfindenden Exzesse archaischer Stämme geradezu zum Ideal eines Festes erhoben werden (vgl. Bataille 2001, S. 22; Caillois 1988, S. 65; Schroer 2018).

Doch die Dauer und Intensität der Feste und das Ausmaß der Exzesse sind am Ende womöglich gar nicht das Entscheidende. Von weit größerem soziologischen Interesse ist vielmehr die schwer zu bestreitende Tatsache, dass offensichtlich beständig nach Möglichkeiten gesucht wird, Rauschzustände und Ekstasen zu erleben. Ihre bleibende Attraktivität beziehen beide Zustände daraus, dass sie „zu einer als beglückend empfundenen Befreiung und Entlastung des Menschen von sich“ (Gehlen 2004, S. 275) führen. Damit stehen sie gerade im Gegensatz zu der beständigen Suche nach dem authentischen Selbst und dem ewigen Kreisen um das eigene Ich, das für die Kultur des modernen Kapitalismus so charakteristisch ist. Rausch und Ekstase bieten vielmehr Möglichkeiten der Selbstvergessenheit, der gefühlten Schwerelosigkeit, der Angleichung an andere Lebensformen und der imaginären Verwandlung in andere – tierische oder pflanzliche – Daseinszustände. Sie bieten damit die Begegnung mit dem anderen – auch dem anderen in uns.

Dabei geraten Drogen zumeist nur als bloße Mittel für das Erreichen von Rauschzuständen in den Blick, wären aber selbst als Akteure zu behandeln, die im menschlichen oder auch tierischen Organismus weitgehend unkontrollierbare Wirkungen entfalten. Durch die Einnahme von psychogenen Substanzen treten wir in Kontakt zu nicht menschlichen Lebewesen wie Pilzen oder Pflanzen. Schließlich werden die meisten rauscherzeugenden Genussmittel aus Pflanzen gewonnen: Cannabis, Morphin, Kokain, Wein, Kaffee usw. Mit Ernst Jünger lässt sich der Rausch deshalb auch als „Siegeszug der Pflanzen durch die Psyche ansehen“ (Jünger 2014, S. 44). Nicht nur also wäre ohne Pflanzen überhaupt kein Leben möglich, es wäre auch kein rauschhaftes Leben möglich. Zumindest würde es sich allein auf rein synthetische Stoffe stützen müssen.
 

Rausch als Teil der menschlichen Natur und der Zwang zur Selbstoptimierung

Aber wodurch zeichnet sich ein Rausch überhaupt aus? Etwas „wie im Rausch“ zu tun, meint, dass es nicht um die Ausführung eines Planes, um die rationale Verfolgung eines Handlungszieles geht, sondern um eine wie in Trance vollzogene Aktivität, die sich der Kontrolle des Bewusstseins weitgehend entzieht. Offenbar ist der Mensch als nüchtern abwägender Kalkulator seiner Optionen, als asketisches Geistes- und sinnenfernes Vernunftwesen, als Homo oeconomicus und Homo rationalis nicht umfassend beschrieben. Er ist vielmehr auch ein leidenschaftlicher, feiernder, sich verausgabender, die Grenzüberschreitung und das Vergnügen suchender „Homo festivus“ (Maffesoli 2015, S. 42). In einem dem Rausch und der Ekstase frönenden Leben geht es ersichtlich nicht um Schonung der körperlichen Ressourcen zugunsten eines gesunden und langen Lebens, sondern um die Steigerung der Intensität des Lebens durch unproduktive Verausgabungen:

Was könnte in der Tat schädlicher sein, als sich dem Suff zu ergeben, schlaflose Nächte zu verbringen, sich sexuell zu verausgaben, und sich zu überfressen; und doch, sind nicht all diese Dinge, die dem engherzigen Philister ein Dorn im Auge sind, die Anzeichen einer unbändigen Vitalität?“ (Maffesoli 1986, S. 95).“

Ein solches Verständnis von Vitalität liegt sichtlich quer zum auf Leistung und Erfolg ausgerichteten Neoliberalismus als vorherrschender Ideologie unserer Zeit, nach der die arbeitenden Individuen sich permanent selbst zu optimieren haben, um den ständig wachsenden Anforderungen in der Arbeitswelt gewachsen zu sein. Ausufernde Feste, unkontrollierte Räusche und Ekstasen, bei denen die Einzelnen die Kontrolle über sich selbst verlieren und damit die Arbeitsabläufe empfindlich stören würden, sind dabei weder vorgesehen noch erwünscht. Eher kompatibel mit dem Anforderungsprofil neoliberaler Arbeitswelten erweisen sich die Einnahmen von Substanzen, die das Funktionieren im Berufsalltag sicherstellen sollen. Auf das sogenannte „Glückshormon“ Serotonin, das das Wohlbefinden steigern und beruhigend wirken soll, wird deshalb gerne zurückgegriffen. Trotz mancher Widrigkeiten und Unzumutbarkeiten soll es die im Dauereinsatz befindlichen Arbeitsbienen des Neoliberalismus bei Laune halten und depressiven Anwandlungen entgegenarbeiten.
 

BABYLON BERLIN - Ein Tag wie Gold (Meret Becker & MEUTE) [Official O.S.T.] (BMG, 07.10.2022)



Drogen im Alltag – zwischen kontrolliertem Gebrauch und Exzess

Während solche Durchhaltesubstanzen jedoch keine Rauscherlebnisse abwerfen, haben wir es daneben auch weiterhin mit Versuchen zu tun, die Anforderungen des Tages mit dem Bedürfnis nach Rausch und Ekstase in Einklang zu bringen. Dass sich dies als wahrer Drahtseilakt erweisen kann, davon erzählt der Film Der Rausch (DK/S/NL 2020; Originaltitel: Druk, dt.: Saufen) des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg. Die Protagonisten des Films – vier ihrer Aufgabe überdrüssig gewordene Lehrer – beschließen im Rahmen einer Geburtstagsfeier, die Frustrationen und Enttäuschungen über ihr trist gewordenes Leben mit einem Trinkexperiment zu bekämpfen. Sie verpflichten sich zum regelmäßigen, aber kontrollierten Konsum von Alkohol, bei dem eine genau festgelegte Promillegrenze nicht überschritten werden darf. Obwohl die Steigerung der Alkoholmenge umgehend einige Probleme und tragische Folgeereignisse nach sich zieht, führt der wohldosierte Alkoholgenuss zu einer deutlichen Verbesserung der Motivation der Lehrer, der Qualität ihres Unterrichts und ihrer Intimbeziehungen. Am Ende des Films kommt es zu einem wahren Ausbruch von Vitalität während einer Abifeier, der eindrücklich zeigt, wie sehr Rausch im Einklang mit Bewegung steht.

Der Rausch als „Wonnegefühl des Daseins“ (Nietzsche 1988, S. 553) wird hier so eindrücklich inszeniert, dass vom bloßen Zuschauen eine ansteckende Wirkung ausgeht. Trotz dieses finalen Ausbruchs geht es im Film insgesamt gerade um die kontrollierte Dosierung des Rausches als sozialverträgliche Strategie, die den Alltag erträglicher machen, aber nicht aushebeln soll. Solchen Versuchen der wohldosierten Form der Alkoholeinnahme stehen Phänomene wie das „Rauschtrinken“ bzw. „Komasaufen“ entgegen, bei denen es eher um den Wettbewerb geht, wie schnell sich Betrunkenheit erzielen lässt, um einen Rausch zu erleben. Diese extrem beschleunigte Art des Alkoholkonsums kann dabei als typischer Ausdruck einer gehetzten Gesellschaft gelten, die nicht einmal mehr für den genussvollen Rausch genügend Zeit lässt. Gleichzeitig wird daran deutlich, dass es weiterhin Formen des Feierns gibt, die auch den Exzess nicht scheuen. Die erwünschte Bestätigung und Steigerung des Selbst kippt hier jedoch schnell in die Zerstörung des Selbst.
 

Trailer Babylon – Rausch der Ekstase (Paramount Pictures, 28.11.2022)



Besonders problematisch wird es dort, wo arglos Feiernde ohne ihr Wissen Drogen zu sich nehmen, weil sie ihnen heimlich in ihre Drinks gemischt werden. Gaspar Noés Film Climax (FR/B 2018) erzählt von den destruktiven Auswirkungen solch unfreiwilliger Ekstasen. Die einer Versuchsanordnung gleichkommende Gesamtkonstellation des Films steht im denkbar größten Abstand zum Versuch der vier Lehrer bei Vinterberg, bei denen die Einnahme von Alkohol gerade streng kontrolliert werden soll, um weiterhin „Herr des Geschehens“ bleiben zu können. Beide Filme machen damit ganz nebenbei darauf aufmerksam, dass für den gemeinsamen Rausch auch ein Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten notwendig ist. Beide verweisen zudem auf die elementare Bedeutung des Tanzens, die auch in einigen Episoden der Kultserie Babylon Berlin (D 2017 ff., Regie: Henk Handloegten, Tom Tykwer, Achim von Borries) und in Babylon – Rausch der Ekstase (USA 2022, Regie: Damien Chazelle) Thema ist.

Alle vier Filmbeispiele zeigen damit auf je eigene Weise, dass die von Ethnologen nachgewiesene enge Verbindung von Tanz und Rausch nicht nur für archaische, sondern auch für moderne Gesellschaften gilt.“

Nimmt man alles zusammen, ergibt sich ein recht vielfältiges Bild von Möglichkeiten, dem Bedürfnis nach Rausch und Ekstase auch in unserer Gegenwart nachzukommen. Wenn Staaten sich in jüngster Zeit dazu entschließen, nicht mehr länger als „Rauschgiftbekämpfungszentralen“ (Benn 1989, S. 375) fungieren zu wollen, so kann dies u. a. den Grund haben, dass die heilsamen Wirkungen bestimmter Substanzen inzwischen anerkannt werden. Welche Motive bei den aktuellen Legalisierungen und Legalisierungsvorhaben auch immer ausschlaggebend sein mögen: Wenn bisher verbotene und verteufelte Substanzen nicht mehr länger durchgehend und ausschließlich mit Abhängigkeit, Absturz und Verfall verbunden werden, so ist dies im Sinne des ungeschriebenen Rechtes auf Rausch eher eine gute Nachricht. Vollständige Rauschunterdrückung kann jedenfalls nur beim Gebrauch audiovisueller Medien eine Option sein.
 

Literatur:

Bataille, G.: Die Aufhebung der Ökonomie. München 2001

Benn, G.: Provoziertes Leben. In: G. Benn: Sämtliche Werke, Band 4 (herausgegeben von G. Schuster und H. Hof). Frankfurt am Main 1989, S. 369-378

Caillois, R.: Der Mensch und das Heilige. München/Wien 1988

Durkheim, É.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 1984

Gehlen, A.: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt am Main 2004

Jünger, E.: Annäherungen. Drogen und Rausch. Stuttgart 2014

Maffesoli, M.: Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus. Frankfurt am Main 1986

Maffesoli, M.: Wer verliert, gewinnt! Die „Verausgabung“ – von Georges Bataille zur Postmoderne. In: A. R. Boelderl (Hrsg.): Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille. Wien/Berlin 2015, S. 22–46

Nietzsche, F.: Kritische Studienausgabe, Band 1 (herausgegeben von G. Colli und M. Montinari). München 1988, S. 551–577

Schivelbusch, W.: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. München/Wien 1980

Schroer, M.: Rausch, Fest und Ekstase. Zur Lebenssoziologie von Georges Bataille und Michel Maffesoli. In: H. Delitz/F. Nungesser/R. Seyfert (Hrsg.): Soziologien des Lebens. Überschreitung – Differenzierung – Kritik. Bielefeld 2018, S. 91–112

Schroer, M.: Michel Maffesolis postmoderne Soziologie des Alltags. In: H. Delitz (Hrsg.): Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Wiesbaden 2022, S. 421–444

Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1980