KI-Realitäten

Modelle, Praktiken und Topologien maschinellen Lernens

Richard Groß, Rita Jordan (Hrsg.)

Bielefeld 2023: transcript
Rezensent/-in: Uwe Breitenborn

Buchbesprechung

Online seit 27.02.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/ki-realitaeten-beitrag-1123/

 

 

KI-Realitäten verstehen

Der Titel des Bandes bringt es in knapper Form auf den Punkt: KI ist Realität – auch auf dem Buchmarkt, der schon seit geraumer Zeit mit Fachlektüre, Handbüchern und Praxisratgebern zu Künstlicher Intelligenz geflutet wird. Das Thema ist zweifellos hip. Der vorliegende Band bewegt sich in weiten Teilen auf der philosophischen Metaebene, fokussiert also eine theoretische Annäherung.

Die Beiträge des Sammelbandes basieren auf Vorträgen, die im Dezember 2021 auf einer Online-Tagung vom Schaufler Lab@TU Dresden gehalten wurden, einem Dialogforum, das sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst versteht. Die Essays des Bandes sind in Deutsch oder Englisch verfasst, die vorangestellte konzeptuelle Einführung („KI-Realitäten/AI Realities“) durch Richard Groß und Rita Jordan liegt in beiden Sprachen vor.

Im Kern geht es in diesem Buch um Reflexionen zu Beziehungsmustern zwischen menschlichem Faktor und maschinellem Lernen.

Das wechselseitige Verhältnis spielt in viele gesellschaftliche Bereiche wie Ethik, Politik, Kultur oder Wirtschaft hinein und ist daher ein wichtiges Diskursthema. Welche Konzepte sind geeignet, um ein differenziertes Verständnis von KI-Verfahren und ihrer komplexen Verflechtung mit gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten zu erreichen? Realweltliche Effekte maschinellen Lernens sind in der Lage, so ist in der Einleitung zu lesen, die „Ausrichtung einiger Grundbegriffe der Geistes- und Sozialwissenschaften infrage zu stellen“ (S. 14), da die menschliche Entscheidungsgewalt in vielen Zusammenhängen unterminiert werde. Gemeint sind beispielsweise „Konzepte wie Subjektivität, Interaktion, Kognition oder Kommunikation“ (ebd.). Künstliche Intelligenz hält also zahlreiche Herausforderungen für das Handlungssubjekt „Mensch“ bereit.

Maschinelles Lernen begegnet uns auf vielfältige Weise. Es kann „gleichzeitig Verarbeitung von Daten, Produktion von Sinn, Verhandlung sozialer Normen und Machtausübung“ bedeuten (S. 16). Dabei wird KI und damit maschinelles Lernen durch eine zunehmende infrastrukturelle Normalität in gewisser Weise unsichtbarer, was einerseits für Akzeptanz sorgt, aber auch die Frage aufwirft, wie sich dazu eine kritische Distanz halten lässt. Dem gegenüber steht die spektakuläre Sichtbarkeit von KI, beispielsweise durch den enormen Erfolg von ChatGPT. Diese befeuert im öffentlichen Diskurs wiederum einen Clash zwischen Euphorie und apokalyptischen Szenarien. Vieles davon rührt jedoch auch aus einem gewissen Unverständnis von KI-Systemen. Daher sind theoretische Konzepte und präzise Begriffe nötig, um KI-Logiken und deren Auswirkungen zu beschreiben.

Das Herausgeberteam favorisiert drei Perspektiven auf das Thema „maschinelles Lernen“ (ML).

  1. ML als Modell bedeutet, dass KI und ML realweltliche Phänomene datenförmig vermitteln. Zugleich sind sie Bestandteil dieser Realität.
  2. ML als Praxis behandelt die Einbettung von ML in bestehende kulturelle, wirtschaftliche und politische Realitäten.
  3. Eine ML-Topologie befasst sich mit dem „Denken“ der Maschinen. Die Auseinandersetzung damit kann uns helfen, die Annahme zu überwinden, dass die operative Logik von maschinellem Lernen grundsätzlich unverständlich bleibt. Ein besseres Verständnis auch der mathematischen Prozesse kann sich positiv auf Diskussionen über KI in Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Philosophie auswirken.

Der Sammelband enthält vier Großkapitel, denen die 14 Beiträge zugeordnet sind. Um es vorwegzunehmen, die Lektüre ist nicht ganz einfach; die höchst elaborierten Texte bewegen sich zumeist in einem spezifischen philosophischen Diskursraum.

Das erste Kapitel heißt „Embedded Models of Meaning” und enthält drei englischsprachige Beiträge. Darin geht es unter anderem um einen kritischen Blick auf die Entwicklung sogenannter Large Language Models (Jonathan Roberge, Tom Lebrun) und um Schnittstellen von Ethik, Epistemologie und Politik am Beispiel von Empfehlungssystemen und staatlichen Entscheidungspraktiken (Catriona Gray). Ein weiterer Text thematisiert Potenziale und soziale Implikationen von automatisierten Textbeurteilungen mittels E‑Rater (Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig).

Das zweite Kapitel widmet sich „Intelligenten Ökologien“. Zu finden sind hier eine systemtheoretische Annäherung an Algorithmen und deren latente semantische Inhalte (Jan Tobias Fuhrmann) und ein Text über Paradigmen, Interaktionen und posthumanistische Potenziale in der Robotikforschung (Hannah Link). Darüber hinaus enthält das Kapitel Überlegungen zu Beziehungsaspekten (Relationsmuster) von Mensch und Maschine mit Blick auf Identitätsprozesse (Jonathan Harth, Maximilian Locher) sowie zu pragmatischen Handlungsmustern in der Mensch-Maschine-Kommunikation (Yaoli Du, Nadine Schumann).

Einen stärker anwendungsbezogenen Fokus nimmt das Kapitel „Generative Praktiken“ ein. So werden am Beispiel des teils GPT-3-generierten Buches Pharmako-AI vonK Allado-McDowell Prozesse KI-basierter literarischer Produktion analysiert (Jakob Claus, Yannick Schütte)oder dasAdversarial Hacking als subversive ästhetische Strategie in Sprachräumen diskutiert (Christian Heck). Solche neuen Perspektiven auf KI-basierte Kunst sind schon lange diskussionswürdig, vor allem, wenn sie Fragen der Autorenschaft im Verhältnis von Mensch und Maschine berühren. In diesem Kapitel geht es daher auch um veränderte bildwissenschaftliche Sichtweisen auf KI-Kunst als Skulptur (Fabian Offert), um den Versuch einer Kategorisierung maschineller Ästhetiken (Michael Klipphahn-Karge)oder um musikalische KI-Kompositionsprozesse (Miriam Akkermann).

Das vierte Kapitel „Computational Topologies“ besteht aus zwei Texten, die einen ausschnitthaften Blick auf grundlegende Prozesse maschinellen Lernens ermöglichen. Einer diskutiert mit Bezug auf Kant’sche Begriffe die Grenzen und Versprechen von künstlichen neuronalen Netzen (Lukáš Likavčan, Carl ChristianOlsson),der andere Text stellt Bezüge zur konstruktivistischen Mathematik her (AA Cavia, Patricia Reed).

Der Band offeriert ein interessantes Panorama an Zugängen zu Künstlicher Intelligenz und damit einen soliden Beitrag innerhalb der Critical AI Studies, die sich interdisziplinär diesem Themenfeld nähern.

Insbesondere die theoretische Auseinandersetzung mit Analogien zu neuronalen Netzen, der Eigenlogik maschinellen Lernens und deren Wirkmächtigkeit in der gesellschaftlichen Verhandlung der soziotechnischen Transformation sind spannend. Das „Realweltliche“, von dem das Herausgeberteam oft spricht, bleibt jedoch zugunsten eines philosophischen Diskurses etwas im Hintergrund. Mit seinem breiten Themenspektrum ist der Sammelband aber ein veritables Angebot für eine vertiefte geisteswissenschaftliche Reflexion, die vor allem im universitären Kontext zu Hause sein wird. Trotzdem bietet er auch Anregungen, die nicht nur für eine akademische Leserschaft interessant sein dürften.

Denn spätestens seit dem kometenhaften Aufstieg von ChatGPT und Co dürfte auch dem Letzten klar geworden sein, dass eine neue Stufe im Verhältnis von Mensch und Maschine erreicht ist.

Der Band erschien in der transcript-Reihe KI-Kritik | AI-Critique, die sich „kultur-, medien- und sozialwissenschaftlicher Analysen zur (historischen) Entwicklung maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenzen“ verschrieben hat, so die Selbstcharakterisierung. Die meisten Veröffentlichungen dieser Reihe sind als Open Access verfügbar und können auf der Verlagsseite als PDF heruntergeladen werden. Gut für den Diskurs!