Kolumne: Same Same

René Rusch

René Rusch ist TV-Regisseur beim Österreichischen Rundfunk (ORF) und schreibt Gastkommentare für die österreichischen Tageszeitungen DER STANDARD und „DIE PRESSE sowie für die TAZ. Er ist Politikwissenschaftler und arbeitet an einem Buchprojekt mit dem Titel „Antirassismus-Führer“, einem antirassistischen Lexikon mit dem Fokus auf der Dekonstruktion reaktionärer Redeweisen.

Von Political Correctness zu Wokeness: über den Relaunch einer 30 Jahre alten Scheindebatte

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 58-61

Vollständiger Beitrag als:

Jetzt also Weltuntergang wegen Wokeness. „Der Woke-Virus wird die Zivilisation zerstören“, twitterte Elon Musk, reichster Mann der Welt und neuerdings Twitter-Chef. Er stimmte damit in den immer lauter werdenden Chor jener ein, die aufgeregt vor dieser neuen Bedrohung warnen.

Was über Woke(ness) zu lesen ist, erinnert markant an die Redeweisen über Identitätspolitik. Auch Letztere sorgt regelmäßig für Alarmstimmung. Verknüpft mit beiden Begriffen ist die Klage über eine um sich greifende Cancel Culture.

Jedes einzelne dieser Schlagworte generiert eine Menge Aufmerksamkeit und entfacht hitzige Debatten. Will man jenen glauben, die Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture kritisieren, steht nicht weniger auf dem Spiel als die offene Gesellschaft.

Die allgemeine Bereitschaft, diese Kampfbegriffe so zu diskutieren, als handelte es sich dabei um neue Phänomene, ist erstaunlich. Schließlich sind sämtliche Standpunkte und Argumente, die aktuell zu hören sind, eins zu eins aus dem über 30 Jahre alten Anti-Political-Correctness-Diskurs kopiert.
 

Selbstermächtigung als Ausgangspunkt

Die Rede über Political Correctness (PC), Identitätspolitik, Wokeness und Cancel Culture behandelt in ihrer Gesamtheit das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit. Oder präziser: das Verhältnis zwischen machtvollen und marginalisierten Gruppen.

Ausgangspunkt der Debatten zum Thema ist im Prinzip stets das Aufbegehren marginalisierter Gruppen. Wofür diese streiten, ist letztlich nicht zu viel verlangt: Sie wehren sich gegen Diskriminierungen, setzen sich für gesellschaftliche Teilhabe ein, wollen gesehen und gehört werden. Ihre Gegner heißen Rassismus, Sexismus, Ableismus, Homophobie etc.

Man könnte ihre Bemühungen unter Überschriften wie Selbstermächtigung oder Herrschaftskritik besprechen – in der Regel sind es jedoch die vermeintlichen Gefahren und Zumutungen, welche von Political Correctness & Co. ausgehen, die Schlagzeilen produzieren.


Ein Feindbild, viele Namen

Die ersten Kommentare im deutschsprachigen Raum, welche Political Correctness zum Thema machten, erschienen 1991. Die Autor*innen dieser Texte standen dem Phänomen äußerst kritisch gegenüber. Sie berichteten von einer neuen, bedrohlichen Strömung an US-Universitäten, welche angeblich ein „Klima der Intoleranz“ befeuerte; allerorts lauerten Tabus, Zensur breite sich aus, „Gedankenpolizisten“ würden „Hexenjagden“ auf Andersdenkende veranstalten.

Dass der Begriff der Political Correctness von deren Gegnern in den öffentlichen Diskurs eingeführt wurde, hat die Rede darüber nachhaltig geprägt. Auch in den Jahrzehnten, die folgten, waren es vor allem PC-Kritiker, welche die Debatten bestimmten. Wenn das Eintreten für Respekt, Anstand und Menschlichkeit heute allzu oft als politisch korrekt abgetan wird, liegt das nicht zuletzt an deren „Startvorteil“.

Cancel Culture war der erste Kampfbegriff, mit dem das Feindbild Political Correctness ein diskretes Rebranding bekommen hat. Popularisiert im Zusammenhang mit MeToo und Black Lives Matter, wird gerne von Cancel Culture gesprochen, wenn Ausladungen, Boykottaufrufe oder das öffentliche Ächten umstrittener Personen kritisiert werden sollen. Demnach ist beispielsweise Dieter Nuhr „gecancelt“ worden, weil ein Video von ihm vorübergehend von einer Website genommen wurde.

Die jüngsten vermeintlichen Cancel-Opfer in Deutschland waren der Song Leila sowie zwei Winnetou-Kinderbücher im Sommer 2022.

Identitätspolitik hat eine deutlich längere Begriffsgeschichte, geht in den USA bis in die 1970er‑Jahre zurück. Hierzulande erfolgte der „Durchbruch“ erst vor Kurzem. Wolfgang Thierses „FAZ“-Kommentar, in dem er linke Identitätspolitik kritisierte, entfachte 2021 eine breite Debatte. Parallel schlug die Übersetzung des Gedichts von Amanda Gorman, welches sie bei Joe Bidens Inauguration gehalten hatte, hohe Wellen.

Die Identitätspolitik-Kritik wiederholt bekannte Argumente – die Standardfrage danach, was gesagt werden darf, wird dabei um die Frage: „Wer darf sprechen?“ ergänzt.

Woke(ness) ist das jüngste Wort in der Reihe, welches sich im deutschen Sprachgebrauch etabliert, es scheint Political Correctness als Kampfbegriff #1 abzulösen.

Hergeleitet vom englischen „awake“ (wach sein), wird darunter ein erhöhtes Bewusstsein für Diskriminierungen von Minderheiten bzw. Privilegien der Dominanzgesellschaft verstanden.

Die Geschichte des Begriffs lässt sich in den USA bis in die 1920er_Jahre zurückverfolgen. Bevor die Rechte Wokeness in ein Schreckgespenst verwandelt hat, war „stay woke“ der zentrale Warnruf von Black Lives Matter.
 

Gleiche Inhalte, identische Wortwahl

Seit die ersten Artikel über Political Correctness erschienen sind, ist die Erzählung der PC-Gegner die gleiche: Ein berechtigtes Anliegen – sei es gendergerechte Sprache oder der Kampf gegen Rassismus – ist pervertiert worden und stellt zunehmend eine Bedrohung für uns alle dar.

Der Hinweis, dass die Anliegen prinzipiell nachvollziehbar oder gut gemeint seien, ist in der PC-Kritik unvermeidlich. Mehr als ein Lippenbekenntnis ist er jedoch nicht. Im Vordergrund steht immer das, was im Englischen mit „Political Correctness Gone Mad“ betitelt wird: Es sind die „Auswüchse“ und „Exzesse“, um die es gehen soll.

Das zentrale Bedrohungsszenario ist seit über 30 Jahren das bevorstehende Ende der Meinungsfreiheit. Diese werde von „Tabus“, „Sprechverboten“ und „Gesinnungskorridoren“ beschnitten; wir bewegen uns angeblich in einer „Schweigespirale“ und üben „Selbstzensur“. Der obligatorische Weckruf lautet: „Nichts darf man mehr sagen!“ – ganz egal, ob gegen Wokeness, Identitätspolitik oder Political Correctness gewettert wird.

Die konstruierten Beschränkungen der freien Rede werden als Vorboten eines autoritären Zeitalters gedeutet. Die Beweisführung, warum es zu einem solchen kommen wird, funktioniert durchgängig nach dem gleichen Schema: Ausnahmefälle werden zur Norm erklärt und als Beleg für die inhärente Gefährlichkeit von Political Correctness, Wokeness etc. präsentiert. Weil heute z. B. auf einer Hochschule jemand an einem Vortrag gehindert wird, drohen uns morgen Zustände wie in George Orwells 1984.

Die Kommentare zum Thema schreiben sich quasi von selbst: Man nehme ein oder zwei Anekdoten, bausche diese gnadenlos auf und bringe so oft wie möglich Begriffe à la „Gesinnungsdiktatur“ unter.

Der Hauptschauplatz, an dem sich der große Umbruch ankündigt, sind üblicherweise Universitäten, meist in den USA. Das Herumreichen einzelner Uni-Anekdoten von Kommentar zu Kommentar ist Routine: Der „Spiegel“ nahm 2021 einen Vorfall am Smith College in Northampton aus dem Jahr 2018 (!) gleich zwei Mal als Aufhänger für ausführliche Artikel. Auch „Die Zeit“ zog 2021 die drei Jahre alte Episode vom Smith College heran, um Identitätspolitik als „politisches Gift“ zu brandmarken.

Die allgegenwärtigen Übertreibungen sind kein Stilmittel, sie sind der Baustoff, aus dem die immer gleichen Texte zusammengesetzt werden. Political Correctness sei eine „lebensbedrohliche Krankheit“, Identitätspolitik „Sprengstoff für die Gesellschaft“, Wokeness der „kleine Cousin des Totalitarismus“. Begriffe wie „Sprachpolizei“, „Inquisition“, „Tugendterror“ etc. gehören zum Standardrepertoire und werden ohne den Hauch einer Ironie verwendet.

Die dramatisierenden Beschreibungen sind das Substitut für schlüssige Argumentation. Es gilt, die Aufregung hoch zu halten. Die Leserschaft soll keine Gelegenheit bekommen, sich zu fragen, warum es ausgerechnet machtlosen Randgruppen gelingen soll, eine „Diktatur der Minderheiten“ zu etablieren.


Phantomhafte Gegenspieler

Wer sind die Gruppen bzw. Kräfte, die hinter den radikalen Umwälzungen stehen sollen?

Es ist schwer, im öffentlichen Diskurs jemanden zu finden, der sich selbst als „politisch korrekt“ oder „woke“ beschreiben würde. Die Bezeichnungen existieren in erster Linie als negativ besetzte Fremdzuschreibungen.

Jene, die mit diesen Fremdzuschreibungen arbeiten, haben zwar Unmengen an Text über die fatale Political Correctness/Wokeness/Identitätspolitik/Cancel Culture produziert – ihre Gegenspieler konnten sie aber nie dingfest machen. In aller Regel sind es nicht näher definierte „Diskurswächter“, „Sprachpolizisten“ oder „Tugendterroristen“, von denen die Gefahr ausgeht. Neu dazugekommen: „Lifestyle-“ bzw. „Identitätslinke“ und der grimmige „Social Justice Warrior“.

Auch wenn sie im Nebel bleiben, besteht kein Zweifel, dass diese bedrohlichen Phantome im politischen Spektrum links verortet sind. Political Correctness & Co. werden konstant als linkes Phänomen präsentiert.

Charakterisiert werden die Gegenspieler als naiv und realitätsfern. Statt Vernunft zu gebrauchen, üben sie sich im Moralisieren und nerven mit erhobenem Zeigefinger. Ihnen haftet etwas Elitäres an, für die echten Probleme der Menschen haben sie kein Gespür. Stattdessen verzetteln sie sich in Symbol- und Sprachpolitik. In allem, was sie politisieren, sind sie wehleidig, überempfindlich, geradezu hypersensibel.

Die folgenschwerste Eigenschaft, welche diesen „Snowflakes“ unterstellt wird: ihr Hang zum Autoritarismus. Standardisiert wird behauptet, dass sie Andersdenkende „zum Schweigen bringen“ oder „mundtot“ machen wollen. Wer politisch korrekt tickt, hat nicht bloß eine andere Meinung, er ist verbissener Anhänger einer „Ideologie“.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, auf Menschen zu treffen, die dieser Karikatur entsprechen, ist eines klar: Der „Social Justice Warrior“ von heute und der politisch korrekte „Gutmensch“ aus dem vorigen Jahrhundert sind ein und dieselbe Person. Es gibt keinen einzigen Charakterzug der „Woken“, der nicht zuvor schon den „PC-Eiferern“ angedichtet worden wäre.
 

Narrativ versus Wirklichkeit

Warum ist es relevant, dass die aktuellen Angriffe gegen Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture aus dem Anti-PC-Diskurs kopiert sind?

Um dies zu beantworten, gilt es, das zentrale Dilemma zu veranschaulichen, vor dem die Political-Correctness-Kritik und deren Klone stehen: Die hysterischen Warnungen vor „Meinungsdiktat“ und „Tugendwahn“ sind keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit.

Wenn die kritisierten „Ideologien“ so mächtig wären – warum nehmen sie dann so wenig Einfluss auf die realpolitischen Machtverhältnisse?

Während der mehr als drei Jahrzehnte, in denen vor dem linken „Meinungsterror“ gewarnt worden ist, stellten CDU/CSU in sechs von neun Regierungen den bzw. die Kanzler*in. In Österreich sitzt die ÖVP sogar ohne Unterbrechung auf der Regierungsbank; die „ausgegrenzte“ FPÖ war seit 1999 drei Mal in einer Regierung. Ebenfalls seit 1999 ist die SVP stärkste Partei in der Schweiz.

Auch im Bereich der Massenmedien kann keine Dominanz der Political Correctness festgestellt werden: Die mit Abstand meistgelesene Zeitung ist seit jeher die „Bild“. Weitere Leitmedien wie „FAZ“, „Welt“ oder „Focus“ sind einer woken Ausrichtung ebenso unverdächtig.

Nimmt man die sozialen Medien mit ins Bild, wird die Rede vom „Konformitätsdruck“ umso befremdlicher. Ein Klick in ein beliebiges Onlineforum – und man wünscht sich eher mehr statt weniger „(Selbst‑)Zensur“.

Das meistverkaufte Sachbuch Deutschlands ist Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Mit Der neue Tugendterror und Feindliche Übernahme hat er weitere politisch höchst unkorrekte Bestseller verfasst. Sarrazin kann gut davon leben, dass er publiziert, was nicht gesagt werden darf – und er ist bei Weitem nicht der Einzige.

PC-Kritiker geben sich als tapfere Widerstandskämpfer gegen die Hegemonie politisch korrekter „Diskurswächter“ – tatsächlich sind sie Mainstream. Die allgegenwärtigen Attacken auf Wokeness & Co. widerlegen die Erzählung von deren Vormachtstellung.

Die Medienmacher*innen, die jahrein, jahraus von „Schweigekartell“ und „Sprachpolizei“ berichten, wissen um die Schwäche ihres Narrativs. Deswegen behelfen sie sich mit einem simplen Trick: Sie verlagern ihre Schreckensbilder in die Zukunft.

So gut wie nie wird behauptet, dass die freie Rede im Hier und Jetzt substanziell eingeschränkt wäre – immer „greift etwas um sich“ oder „ist auf dem Vormarsch“. Es sind „Trends“ und „Tendenzen“, die Alarm auslösen. Das Bild vom „Gift“, welches „schleichend“ wirkt, wird nicht zufällig häufig bemüht.

Die PC-Kritik behandelt im Grunde keine faktischen Zustände. Ihr Standardmodus ist das Verkünden dystopischer Prophezeiungen.

So nützlich das Argument der schiefen Ebene ist, es hat einen Nachteil: Die eigene Position verliert an Glaubwürdigkeit, wenn fortlaufend verkündete Voraussagen nie Wirklichkeit werden. Drei Dekaden Anti-Political-Correctness-Diskurs sind dafür ein leuchtendes Beispiel: PC-kritische Texte, die vor zehn, 20 oder 30 Jahren erschienen sind, lesen sich heute wie Satire. So viel Alarmismus, so viel Hysterie – doch nicht eines der angekündigten Horrorszenarien ist je eingetreten. Die Prophezeiungen der PC-Gegner wurden vom Lauf der Zeit widerlegt.

Die aktuellen Angriffe auf Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture lassen sich wie eine Blaupause über jahrzehntealte Texte legen, in denen das Feindbild „Political Correctness“ genannt wurde. Kein Kritikpunkt, kein Argument, kein Slogan ist neu.

Immer geht es darum, Randgruppen auf ihren Platz zu verweisen. Wer Rassismus anprangert, will anderen „den Mund verbieten“. Wer für gendergerechte Sprache eintritt, errichtet „Gesinnungskorridore“. Wer eine menschliche Flüchtlingspolitik befürwortet, betreibt „Tugendterror“.

Die Panikmache vor einer bevorstehenden autoritären Wende soll den Anliegen marginalisierter Gruppen Aufmerksamkeit entziehen. Nachdem die düsteren Voraussagen der vergangenen Jahrzehnte jedoch nie eingetroffen sind, stellt sich die Frage: Warum soll diesmal was dran sein?