Kolumne: Vollgequarkt

Jürgen Roth

Dr. Jürgen Roth lebt als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main.

Schriftsteller und Journalist Dr. Jürgen Roth über die Sportberichterstattung im Fernsehen.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 72-73

Vollständiger Beitrag als:

Ich betreibe das längst nicht mehr allzu erquickliche Geschäft der Medien- und vor allem der Fernseh- und im Speziellen der Sportfernsehkritik seit mehr als 20 Jahren, und ich kann mich des betrüblichen, ja des allermeist quälenden Eindrucks nicht erwehren, dass die Eskalation der Berichterstattung in zweierlei Hinsicht exponentiell verläuft – hinsichtlich der schieren Quantität einerseits und hinsichtlich der Erosion sprachlichen Formbewusstseins andererseits.

Bis ungefähr Mitte der 1990er-Jahre war das Ganze noch eine ziemlich kommode und überschaubare Angelegenheit. Damals dauerten z.B. Fußballeuropameisterschaften nicht vier Wochen, damals sendeten die Rechteinhaber während eines Turniers nicht auf Teufel komm raus 28 oder 74 Stunden pro Tag, und damals entfleuchte etwa dem Munde des mit einem gewissen politbüromitgliedsaffinen Charme ausgestatteten WDR-Sportchefs und Chef-TV-Kommentators Heribert Faßbender mal die eine oder andere krumme oder kuriose Wendung, über die man sich zeitungsöffentlich amüsierte, und Herr Faßbender grollte hernach eventuell ein wenig, und das war’s.

Sport in den Medien, so diktiert es mir meine Erinnerung, war eher ein Nischenthema – bis die privaten Anbieter auf den Plan traten, voll durchstarteten und das Gaspedal bis zur Bodenplatte durchdrückten. Spätestens, als SAT.1 mit ran das Regiment übernommen hatte, brachen alle Dämme. Nun mutierten – Stichwort „Beckmannisierung“ – Fußballmoderatoren zu Conférenciers, die ihr schäbiges Handwerk in Las Vegas oder im „Ballermann 6“ erlernt hatten, die Übertragung eines Fußballspiels zog sich über den halben Tag hin, und jeder Satz war peppig, grell, angestrengt scherzhaft, aufmerksamkeitsheischend. Was mal Sportjournalismus gewesen sein mag (die Frage wäre, ob es ihn jemals gegeben hat – jenseits der winzigen Nebenabteilung, die heute noch mit wenigen Frauen und Männern aus dem Deutschlandfunk, der ARD, der „FAZ“ und der „Süddeutschen Zeitung“ besetzt ist), wandelte sich zur unverbrämten PR. Wo immerhin Günter-Peter Ploog, Michael Palme, Marcel Reif und Harry Valérien gewesen waren, sollten Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner, Uli Potofski und zuallerletzt Wolff-Christoph Fuss werden.

In dem Maße, in dem sich Schamlosigkeit (laut Freud notabene das Kriterium schlechthin für Schwachsinn), sprachliche Schlamperei und Marktschreierei im Kainszeichen der „Sportifizierung“ (Adorno) – die unterdessen, von n-tv bis zu Phoenix, das gesamte Spektrum des Fernsehens okkupiert hatte – weiter und immer weiter verbreiteten, griff ich in meinen für Tageszeitungen und den Rundfunk verfassten Glossen zu immer drastischeren polemischen Mitteln – notgedrungen, sintemalen die Psychohygiene verlangt, für eine gründliche Müllabfuhr zu sorgen.

Man überschätze die eigene „Wirkung“ jedoch nicht, zumal dann nicht, wenn man nicht in die Falle des Narzissmus hineintappen will, die das Fernsehen selber auslegt. Allerdings verhehle ich nicht, dass ich mich fast freute, als mich während der Fußballeuropameisterschaft 2004 Johannes B. Kerner aus Portugal anrief und, bitterlich Beschwerde führend, eine Dreiviertelstunde lang vollquallte und -quakte, nein: -quarkte, weil ich ihn in meiner Kolumne in der „Frankfurter Rundschau“ völlig zu Recht und selbstverständlich stramm elegant in den Boden gerammt hatte.

Seither ward, es tut mir leid, in Sachen Sportfernsehen alles noch schlimmer. Das Geschnodder wurde zur Norm, die Formate liefen komplett aus dem Ruder. Meine daher deftige, wie stets mit O-Tönen gespickte Intervention angesichts der öffentlich-rechtlichen Begleitung und Aufbereitung der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang regte schließlich Michael Antwerpes vom ZDF zu einem (veröffentlichten) Leserbrief an: „Jeder Volontär, der sich tagelang vor dem Fernseher verkriechen soll mit dem Auftrag, einen Verriss zu schreiben (‚Aber mal so richtig, weeßte!‘), wird Fehler finden! 16 Stunden Livefernsehen können einfach nicht zu hundert Prozent korrekt und immer nach dem Gusto jedes selbst ernannten TV-Kritikers verlaufen! Wer dann aber sein ach so wohlfeiles Feixen noch zu garnieren versucht mit einem Vokabular, das geradezu gequält auf ‚sophisticated‘ getrimmt wurde – der ist und bleibt schlicht ein arroganter Besserwisser! […] Im Namen aller junge-Welt-Gebashten möchte ich festhalten: gut, dass am Ende die Zuschauer entscheiden – und nicht ein kalauernder Narziss aus Berlin!“

Man trifft (als jemand, der selbst ernannt nie in Berlin gelebt und nie einen Kalauer verwendet hat) all die topalimentierten TV-Kommentatoren, TV-Moderatoren und sogenannten TV-Experten in ihrer Selbstgefälligkeit also bisweilen, sofern man sie mittels ihres eigenen Geschwätzes in ihrer irisierenden Nichtigkeit und Unfähigkeit durch die Arena der Sprachkritik jagt. Und es ist keineswegs so, dass nur einem Exterritorialen wie mir die Entwicklungen der vergangenen Jahre zutiefst missfallen. Nachdem ich im Vorfeld der Fußball-WM in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ den jämmerlichen Zustand des Fußballjournalismus beschrieben hatte, riefen mich mehrere Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an und sagten unisono: „Sie rennen offene Türen ein!“ Und ein Redakteur des ZDF, der offenbar das Bedürfnis hatte zu reden, bestätigte mein Urteil, dass es im Fernsehen im Grunde keinen Sportjournalismus mehr gebe.

Es ist mir nicht um Beckmesserei zu tun. Wer seine Nase in drei, vier Texte von Karl Kraus gesteckt hat, lässt die Sache selbst sprechen – diese sich selbst sprechende Sprache, dieses besinnungslose, vollautomatische Geschnabel.

„In jedem Fall muss man, um mit Sprache zurechtzukommen, wissen, was sich in ihren Mängeln verbirgt“, notiert Thomas Steinfeld in seinem Buch Der Sprachverführer, und ein solches Wissen um die Gründe für die Misslichkeiten und Fallstricke der Sprache erlangt man dann, wenn man sich beim Sprechen zuhört. Für das „Achtgeben auf die Wörter“ (Augustinus), das eine reflektierte Haltung zur Welt ermöglicht, ist inmitten des ununterbrochenen Anpreisungs- und Selbstberauschungsgetöses allerdings keine Zeit. Und so prasseln sie – sämtliche Akteure halten sich garantiert „im Phrasenbereich“ (A. Bommes) auf – ohne Unterlass auf uns herab, die infantilen, stolpernden, vergeigten, verbogenen, erstarrten, im besten Fall pleonastischen Sätze: „Er stipft sich auf.“ – „Die Kroaten gehen definitiv ins größere Risiko jetzt.“ – „Den Spielaufbau kriegen sie nicht mehr initiiert.“ – „Der Spielaufbau oftmals in den Füßen von Pazdan.“ – „Sie ham jetzt mal Foul bekommen.“ – „Jetzt hat er mal eine Aktion.“ – „Ein relativ einfacher Spaziergang.“ – „Glück, dass der Bock nicht nach hinten losgegangen ist.“ – „Er hat den Elfmeter behandelt.“ – „Wir können das absolut noch mal untermalen.“ – „Die Loyalität für den Plan ist greifbar.“ – „Das jetzt mal ein kleiner Hauch von dem, was wir uns erwartet hatten.“ – „Ich kenne keinen, der so beidfüßig wie er [ist].“ – „Sie geben ihr Teil dazu bei.“ – „Aus dieser Torchance entsteht ein Einwurf.“ – „Den wollen wir in Beobachtung halten.“ – „Waren sich nicht einig, wohin man sich sortiert.“ – „Wenn er die Lücke spürt, lässt er keine Sekunde außer Acht.“ – „Das hat er ein paarmal mehr gemacht.“ – „Eine misslungene Situation.“ – „Es brennt lichterloh, aber es zündet dann nicht dauerhaft.“

Ich schwöre: Das sind keine Einzel(-un-)fälle. Das sind beliebige Exempel aus meinen während der WM in Russland entstandenen umfangreichen Mitschriften. Sie belegen die Norm: die Norm der ubiquitären sprachlichen Normlosigkeit.

Wofür ich plädiere? Für einen Rückbau, für Selbstbescheidung und -besinnung, fürs Klappe-Halten. Ein frommer Wunsch, ich weiß. Ein solcher hat im Zeitalter der Vermehrung und der Wertverwertung noch nie gefrommt.