Kommunikationsfreiheit in einer vernetzten Gesellschaft

Klaus Beck

Prof. Dr. Klaus Beck ist Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Greifswald. Er war zuvor an den Universitäten Berlin (FU), Leipzig und Erfurt tätig.

Eine genauere Auseinandersetzung mit der Kommunikationsfreiheit, ihren Formen, aber auch ihren Grenzen und Schranken lohnt sich. Auch wenn staatliche Maßnahmen, etwa von Geheimdiensten oder Polizeibehörden, die Freiheit der Kommunikation und die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sogar hierzulande mitunter beeinträchtigen, so gehen die größeren Gefahren doch von kommerziellen Medien- und Plattformunternehmen sowie dem Verhalten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Individuen aus.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 30-35

Vollständiger Beitrag als:

China verhängt Todesstrafe gegen australischen Blogger meldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 6. Februar 2024. Die „FAZ“ berichtete unter dieser Überschrift über die Verurteilung des im australischen Exil lebenden Regimekritikers Yang Hengjun. Ein klarer Fall und ein wenig überraschendes Beispiel für das Fehlen von Kommunikationsfreiheit in autokratischen Staaten. Am selben Tag berichtete dasselbe Blatt unter der Überschrift Jetzt sind die Medien dran über Blockadeaktionen von Bauern vor Funkhäusern, Verlagsgebäuden und Presseverteilzentren. Dieser Fall wirft andere Fragen auf: Einerseits sind zivilgesellschaftlicher Protest und Kritik an der Medienberichterstattung legitimer und oft notwendiger Ausdruck von Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit. Andererseits schüchtern solche Aktionen Redaktionen ein, beeinträchtigen ihre Unabhängigkeit und gefährden die im Grundgesetz garantierte Medienfreiheit. Anders als im Beispiel des Bloggers tritt hier nicht der Staat als Feind der Kommunikationsfreiheit auf, sondern umgekehrt muss er – im Zweifel durch die Polizei – dafür sorgen, dass Journalistinnen und Journalisten ihrer öffentlichen Aufgabe (angst‑)frei und ungehindert nachgehen können.

Die beiden Fälle zeigen, dass eine genauere Auseinandersetzung mit der Kommunikationsfreiheit, ihren Formen, aber auch ihren Grenzen und Schranken lohnt. Auch wenn staatliche Maßnahmen, etwa von Geheimdiensten oder Polizeibehörden, die Freiheit der Kommunikation und die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sogar hierzulande mitunter beeinträchtigen, so gehen die größeren Gefahren doch von kommerziellen Medien- und Plattformunternehmen sowie dem Verhalten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Individuen aus.

Dabei erweisen sich gerade die neueren Kommunikationstechnologien als widersprüchlich: Ohne Zweifel haben Onlinemedien und Social Media die Möglichkeiten für nahezu jedermann enorm erweitert, öffentlich zu kommunizieren. Gerade das führt aber zu einer Dynamik, die aus ethischer wie aus rechtlicher Sicht dringend der Reflexion und Regulierung bedarf, wenn nicht Fake News und Hatespeech, Cybermobbing und ‑grooming, Revenge Porn oder schlichtweg die suchtartige Abhängigkeit vom Smartphone hingenommen und damit die menschliche Würde und Freiheiten erheblich eingeschränkt werden sollen.
 

 

Was ist Kommunikationsfreiheit …

„Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen!“ – Mit dieser Formel versuchen manche alles zu rechtfertigen, was sie von sich geben. Oft übersehen sie dabei, dass es gar nicht um eine Meinung geht, sondern um eine Tatsachenbehauptung oder um eine Beleidigung. Beides ist durch das Grundgesetz (GG) keineswegs geschützt, denn Tatsachenbehauptungen können als wahr oder falsch bewiesen werden. Beleidigungen, Schmähungen oder gar Hetze verstoßen gegen die (in Art. 1 GG) geschützte Menschenwürde. Was also ist unser gutes Recht? Im Grundgesetz wird festgehalten, dass jeder das Recht hat, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.“ Meinungsfreiheit schließt also das Recht ein, auch öffentlich und mittels aller Medien zu kommunizieren, und zwar für jeden und jede – unabhängig von der deutschen Staatsbürgerschaft, einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Berufs-, Alters-, Geschlechter- oder sonstigen) Gruppe und sogar unabhängig davon, wie qualifiziert, gut begründet oder relevant diese Meinung ist. Während viele liberale Verfassungen dieses Recht an die jeweilige Staatsbürgerschaft knüpfen, ist dies in Deutschland anders, denn hierzulande wurde Menschen jüdischen Glaubens oder Herkunft im Nationalsozialismus mit der Staatsbürgerschaft auch die Kommunikationsfreiheit entzogen.
 


Meinungsfreiheit schließt also das Recht ein, auch öffentlich und mittels aller Medien zu kommunizieren, und zwar für jeden und jede – unabhängig von der deutschen Staatsbürgerschaft, einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Berufs-, Alters-, Geschlechter- oder sonstigen) Gruppe und sogar unabhängig davon, wie qualifiziert, gut begründet oder relevant diese Meinung ist. “



Ein zweiter Aspekt ist ebenfalls historisch bedingt und global keineswegs selbstverständlich: das Recht, sich ungehindert aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Das schließt ausländische Medien ein. In Zeiten internationaler Kriege sowie geschickter Propaganda und Desinformationskampagnen (man denke etwa an RT DE) wirft das Fragen auf.

Über die Kommunikationsrechte, die für alle Individuen gelten, hinaus garantiert das Grundgesetz die Presse- und Medienfreiheit. Medienbetriebe, die journalistische Berichterstattung betreiben, dürfen daran nicht gehindert werden. Eine Zensur ihrer Produkte durch den Staat ist ausdrücklich verboten. Bei der Medienfreiheit geht es nicht um das individuelle Recht einer Journalistin oder eines Journalisten, sondern um die Institution der Medien. Ihr Schutz meint nicht nur den Schutz vor staatlichen Maßnahmen. Vielmehr ist der Rechtsstaat dazu verpflichtet, die Institution der Medien auch vor anderen Gefahren zu schützen – z. B. blockierende Traktoren abzuräumen oder eine übermäßige Macht großer Medienkonzerne zu begrenzen. Die Räumung von Straßen gelingt bislang allerdings besser als die Bekämpfung der Medienkonzentration.

Besonders wichtig erscheint gerade heute, dass die Kommunikationsfreiheit das Recht einschließt, nicht zu kommunizieren, seine Meinung nicht öffentlich zu äußern – übrigens auch zum Ukrainekrieg oder zum Konflikt zwischen Israel und Palästina. Es herrscht Meinungs- und Kommunikationsfreiheit – und kein Bekenntniszwang, auch nicht als Voraussetzung dafür, selbst das Recht auf Kommunikation, Kunst oder Wissenschaft auszuüben. Eng verwandt mit diesem Recht auf Schweigen oder „negative Kommunikationsfreiheit“ ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wir dürfen selbst bestimmen, wer was von uns erfährt und wem er beispielsweise welche personen- und verhaltensbezogenen Daten mitteilen darf.
 


Es herrscht Meinungs- und Kommunikationsfreiheit – und kein Bekenntniszwang, auch nicht als Voraussetzung dafür, selbst das Recht auf Kommunikation, Kunst oder Wissenschaft auszuüben.“



Warum ist Kommunikationsfreiheit eigentlich so wichtig, zumal sie doch offensichtlich eine Menge offener Fragen und Widersprüche mit sich bringt? Tatsächlich mag einiges dafür sprechen, nicht immer allen alles mitzuteilen, aber es geht zum einen darum, dies individuell und autonom entscheiden zu können. Zum anderen bedeutet Kommunikationsfreiheit mehr als ein nur individuelles Freiheitsrecht, denn sie ist für Gesellschaft, Wissen und Kultur unabdingbar: Es genügt nicht, wenn jeder einzelne Mensch seine Meinung und persönliche Anschauung hat, wir aber wechselseitig nichts davon erfahren. Wir berauben uns dann als Individuum wie als Gesellschaft jeder Möglichkeit, Aussagen zu prüfen, Gegenargumente kennenzulernen und abzuwägen oder kurz gefasst: selbst weiterzudenken. Wissen entsteht nur durch Kommunikation, und demokratisch legitime Entscheidungen sind ohne freie Kommunikation schlichtweg unvorstellbar. Wenn wir uns als denkende Wesen definieren, führt kein Weg an der Kommunikationsfreiheit vorbei, erst recht nicht, solange wir uns als demokratisch denkende Menschen begreifen.
 

… und wo findet Kommunikationsfreiheit ihre Schranken?

Wer Freiheiten genießt, kann und muss letztlich immer zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten (einschließlich des Nichthandelns) wählen. Aus unserer freien Wahl ergibt sich, dass wir verantwortlich für unser Tun und Lassen, für die Folgen und (absehbaren) Wirkungen sind. Unser alltäglicher Gebrauch der Kommunikationsfreiheit kann absichtlich oder unbeabsichtigt bzw. fahrlässig zu Folgen und Wirkungen führen, die ethische Fragen und Konflikte mit anderen Grundrechten aufwerfen – mit der Würde und Ehre des Menschen, dem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, auf Chancen zur Entwicklung einer freien Persönlichkeit und den Freiheitsrechten anderer Menschen. Das Grundgesetz trägt dem in Art. 5, Abs. 2 Rechnung: Die persönliche Ehre, die allgemeinen Gesetze (insbesondere die Ehrschutzparagrafen des StGB) und der Schutz der Jugend werden als Schranken der Kommunikationsfreiheit benannt. Klar wird damit auch: Alle anderen Beschränkungen der Kommunikationsfreiheit sind nicht verfassungskonform.

Zu den Wertekonflikten zählt auch der zwischen Freiheit und Wahrheit, nämlich wenn es um falsche Tatsachenbehauptungen geht. Diese reichen von der strafbewehrten Holocaustleugnung („Der Holocaust hat nie stattgefunden.“) über Verschwörungstheorien („Corona ist eine Erfindung von Bill Gates, der uns mit Impfungen Mikrochips implantieren will.“) bis zu vergleichsweise harmlosem Unfug („Die Erde ist eine Scheibe.“). Ethisch bedeutsam ist dabei, ob falsche Tatsachenbehauptungen unabsichtlich (als Irrtum oder „Zeitungsente“), ungeprüft (Gerücht) oder als Bullshit (also unter Absehung von der Frage, ob etwas wahr oder falsch ist) oder absichtlich und wider besseres Wissen (Fake News) verbreitet werden. Zumindest im letzten Fall erscheint eine Einschränkung der Kommunikationsfreiheit nicht nur legitim, sondern geradezu geboten. Staatliche Eingriffe sind hier nur ein, aber nicht immer das beste Mittel. Ethisch betrachtet muss, wer von Kommunikationsfreiheit Gebrauch macht, selbst Verantwortung wahrnehmen.

So kennt die journalistische Berufsethik Gebote wie Faktenprüfung, Gegenrecherche und Sorgfaltspflicht. Der Pressekodex und andere Kodizes professioneller Berufsethik enthalten weitere Richtlinien, deren Einhaltung durch Institutionen der Medienselbstkontrolle (wie den Presserat oder die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen [FSF]) staatsfern geprüft werden kann.
 


Die meisten von uns zählen jedoch nicht zu den professionellen Kommunikatoren, obwohl wir mithilfe von Onlinemedien und Social Media öffentlich kommunizieren können. Was auch immer rechtlich erlaubt sein mag, die moralische Frage, ob wir das Richtige tun, müssen wir selbst beantworten und damit unsere Kommunikationsfreiheit selbst (aber eben: autonom) begrenzen.“



Die meisten von uns zählen jedoch nicht zu den professionellen Kommunikatoren, obwohl wir mithilfe von Onlinemedien und Social Media öffentlich kommunizieren können. Was auch immer rechtlich erlaubt sein mag, die moralische Frage, ob wir das Richtige tun, müssen wir selbst beantworten und damit unsere Kommunikationsfreiheit selbst (aber eben: autonom) begrenzen. Nicht alles, was erlaubt und möglich ist, ist gut oder gar geboten. Hier sind kluge und verantwortliche Entscheidungen gefragt, mit Blick auf die Folgen, den kategorischen Imperativ, die „Goldene Regel“ usw. Kommunikationsregeln bilden sich Zug um Zug heraus, können widersprüchlich und umstritten sein, wie der Konflikt um die Gendersprache zeigt. Hier werden mitunter Zensur-Vorwürfe erhoben, obwohl die Verwendung des generischen Maskulinums weiterhin erlaubt (in einigen Amtsstuben sogar vorgeschrieben) ist. Im Sinne der Kommunikationsfreiheit sind weder überzogene Vorwürfe noch oberlehrerhafte Handreichungen zielführende Wege. Die eigenständige Reflexion über die Angemessenheit von Sprache und Begriffen, die diskriminierend oder herabsetzend wirken könnten, ersetzen sie jedenfalls nicht.

Neben den rechtlichen und ethischen Regeln bestehen auch materielle Grenzen der Kommunikationsfreiheit, insbesondere strukturelle und ökonomische: In kapitalistischen Mediensystemen agieren Medienorganisationen ganz überwiegend gewinnorientiert auf Märkten. Der Markt bewahrt Medien recht gut vor staatlichem Einfluss, hilft also, die (Staats‑)Freiheit der Kommunikation zu realisieren. Freie Märkte führen aber zwangsläufig zu starker Unternehmenskonzentration und hohen Markteintrittsbarrieren, sodass die tatsächlichen Kommunikations-Chancen ungleich verteilt sind. Im Gegensatz zu großen Medienkonzernen wird es für weniger finanzstarke Akteure immer schwieriger, ihre Kommunikationsfreiheit öffentlichkeitswirksam zu nutzen. Die großen Konzerne versuchen, ihre Kosten zu senken, eigenständige Redaktionen einzusparen – und bewirken im Ergebnis eine abnehmende inhaltliche Medienvielfalt. Damit sinken die Chancen, sich aus möglichst vielen unabhängigen Quellen zu informieren. Aber gilt das noch in vernetzten Gesellschaften mit Onlinemedien und Social Media?
 

Das Internet – Reich der Freiheit oder Mielkes Traum?

Beflügelt von den neuen technischen Möglichkeiten des Internets wurden Onlinemedien und Social Media als revolutionäre Fortschritte auf dem Weg zur globalen Kommunikationsfreiheit gefeiert: Endlich können nun alle ohne das Zutun der Medienkonzerne, den Eingriff von Redaktionen oder die Kontrolle durch staatliche Behörden mit allen anderen frei und öffentlich kommunizieren. Die Idee dahinter, soziale Probleme mithilfe von Technik zu lösen, hat sich allerdings als falsch erwiesen.

Zwar haben die journalistischen Redaktionen ihr Monopol als Gatekeeper verloren und es fällt tatsächlich erheblich leichter, selbst öffentlich etwas zu posten oder zu kommentieren – und das gilt sogar für Dissidenten in illiberalen oder autokratischen Regimen. Aber mit der Kommerzialisierung des Webs und der Etablierung großer Social-Media-Plattformen bilden sich neue strukturelle Ordnungen heraus, die Kommunikationsfreiheit begrenzen, mitunter sogar gefährden. In autoritären Staaten schränken die Behörden beispielsweise mithilfe einer Great Firewall die Informationsfreiheit ein und überwachen Social Media, um Oppositionelle automatisch zu identifizieren oder in Fallen zu locken. Spätestens seit 9/11 greifen auch in den liberalen Gesellschaften Sicherheitsbehörden zu mitunter fragwürdigen Methoden der Kommunikationsüberwachung. Doch die eigentlichen Gefahren für die Kommunikationsfreiheit gehen von anderen Akteuren aus – zum einen von den großen Social-Media-Plattformen, zum anderen von uns selbst, die wir sorglos alles nutzen, was Nutzen verspricht.
 

 

Während die klassischen Medien durch Werbung und Entgelte finanziert werden, kommen die Dienste von Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp), Alphabet (Google, YouTube) oder ByteDance (TikTok) scheinbar kostenlos daher. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass wir bei der Nutzung dieser Plattformen mit unseren Profil- und Verhaltensdaten „bezahlen“, die für die Unternehmen weitaus wertvoller sind als direkte Entgelte. Das Sammeln der Daten geschieht formal mit unserer „informierten Einwilligung“, faktisch hingegen bleibt vielen von uns kaum eine andere Wahl: Welche Jugendlichen können es sich heute noch leisten, nicht auf Insta oder TikTok präsent zu sein, ohne sich sozial praktisch vollständig zu isolieren? Wir nutzen solche Dienste, obwohl wir zumindest in groben Zügen um die Gefahren wissen – die Kommunikationswissenschaft bezeichnet das als Privacy Paradox.

Was hat das nun mit der Kommunikationsfreiheit zu tun? Zunächst einmal wird unsere negative Kommunikationsfreiheit, also die selbstbestimmte Entscheidung, wem ich was wie mitteile (und was ich lieber verschweige), aufgehoben. Das Ausmaß des Problems wird deutlich, wenn man überlegt, was Onlineplattformen über uns wissen: Unsere Mediennutzung und unsere Onlinekommunikation verraten viel über unseren Geschmack, unsere Einstellungen, Stimmungen, politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen, Interessen und Neigungen, bis hin zu unserer sexuellen Orientierung und der Beziehungskonstellation. Unser Einkaufs- und Buchungsverhalten gibt Auskunft über unsere Vorlieben, Ernährung, Alkohol- und Tabaksucht; unsere Reisen, die Nutzung von Job-, Wohnungs- und Datingportalen offenbart noch weitaus mehr. Ergänzt um die Mobilitätsdaten aus dem Navi sowie die Gesundheits- und Körperdaten aus vermeintlichen Fitness-Apps kann man sagen: Es gibt kaum einen Lebensbereich, der sich auf diese Weise nicht detailgenau erfassen lässt.
 


Unsere Mediennutzung und unsere Onlinekommunikation verraten viel über unseren Geschmack, unsere Einstellungen, Stimmungen, politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen, Interessen und Neigungen, bis hin zu unserer sexuellen Orientierung und der Beziehungskonstellation.“



Welche potenziellen Folgen hat eine solche Totalerfassung? Zum einen ist ein panoptischer Effekt wahrscheinlich, d. h. die bloße (wenn auch berechtigte) Vermutung, dass wir überwacht werden, verändert unser tatsächliches Verhalten, schränkt also unsere Handlungs- und Kommunikationsfreiheit ein. Wir sagen oder tun bestimmte Dinge nicht, wenn wir uns beobachtet fühlen – und das betrifft leider nicht nur das In-der-Nase-Bohren in Gesellschaft. Eine weitere Gefahr besteht in der Weiterverwendung der Daten, vor allem im Zuge automatisierter Entscheidungssysteme: Vielleicht bekomme ich einen Kredit für ein Eigenheim oder eine Krankenversicherung nicht, weil meine Verhaltensdaten (Alkoholkonsum, Onlineglücksspiele, Partnerschaftsprobleme) von einem Algorithmus als Risikofaktoren eingestuft werden? Wir wissen es nicht – und wir können wenig gegen intransparente Entscheidungen tun, die über uns getroffen werden.

Die Ökonomie der Plattformen bedroht die Kommunikationsfreiheit aber noch auf ganz andere Weise: Google und Meta vereinigen sehr große und weiterhin wachsende Teile der Werbemärkte auf sich. Vor allem online herrscht hier ein globales Duopol. Das Gros der Werbeinvestitionen wandert zunehmend in personalisierte Onlinewerbung (Targeting) und nicht länger zu den Medien, die – bislang noch – journalistische Redaktionsarbeit finanzieren. Die Rechercheleistung der Social Media beträgt exakt null – ihr eigener Beitrag zur demokratisch notwendigen Kritik und Kontrolle hängt allein an wenigen engagierten Usern, die jedoch keinerlei institutionellen Schutz genießen.

Unsere Datenprofile und die Algorithmen der Plattformen entscheiden zudem darüber, welche Nachrichten uns überhaupt noch erreichen. Im Unterschied zu Redaktionen fühlen sich Algorithmen aber nicht dem öffentlichen Auftrag und der politischen Relevanz verpflichtet, sondern ausschließlich der Optimierung der Verweildauer auf der Plattform. Das funktioniert am besten mithilfe spektakulärer „News“, zugespitzter Meinungen und anderer affektgetriebener Inhalte. Hatespeech und Fake News sind Teil des Geschäftsmodells, während Redaktionen nicht mehr dazu zählen. Um nicht gegen das Strafrecht bzw. das NetzDG und den Digital Services Act (DSA) zu verstoßen und damit horrende Geldstrafen zu riskieren, greifen die Plattformen zur algorithmischen Kommunikationskontrolle. Tendenziell werden dabei auch Inhalte gelöscht, die von der Kommunikationsfreiheit geschützt sind. Durch Overblocking wird die Kommunikationsfreiheit dann ohne triftigen und legitimen Grund, noch dazu von privater Seite eingeschränkt.

Klar ist also, dass auch die Onlinemedien keine grenzenlose Kommunikationsfreiheit herstellen, sondern spezifische neue Beschränkungen hervorbringen. Die totale Überwachung, zumindest als Gefahrenpotenzial, und die Ökonomie der Plattformen verwirklichen in den liberalen Ländern zwar keine staatlichen Kontrollfantasien im Stil von Mielkes Stasi. Der „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018) ist kommerziell getrieben und gefährdet die journalistischen Medien zunehmend. Es liegt an uns, verantwortlich mit den Freiheiten der Nutzung umzugehen, und es liegt in der Hand des Staates bzw. der EU, diese Freiheiten wirksam zu sichern.
 

Die wesentlichen Argumente dieses Artikels basieren auf dem Band Kommunikationsfreiheit (Wiesbaden 2021) von Klaus Beck.
 

Literatur:

Zuboff, S.: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York 2018