Krisenbewältigung und Krisenkommunikation
Leben bedeutet, zu versuchen, möglichst lang am Leben zu bleiben. Deshalb sind alle Lebewesen in einem permanenten Krisenmodus. Einmal nicht aufgepasst und es ist vorbei mit dem schönen Erdendasein. Schon Erich Kästner stellte daher fest: „Leben ist immer lebensgefährlich.“ Aus diesem Grund ist unser Gehirn ein Gefahrenvermeidungsorgan. Seine wichtigste Funktion ist nicht die Erkenntnis, das Komponieren von Fugen oder das Erstellen von Hexametern, sondern uns am Leben zu erhalten. Deshalb scannt es in jeder Zehntelsekunde unsere Umwelt nach Indizien für eine Gefahr. Auch wenn es uns nicht immer bewusst ist: Wir leben in einem permanenten Alarmzustand, stets bereit, eine gefährliche Situation als solche zu erkennen, Angst zu bekommen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und manchmal meldet das Gehirn auch einen Fehlalarm. Lieber einmal zu oft geflohen als einmal zu wenig. Der Mensch ist ein Hasenfuß, deshalb hat er so lange überlebt.
Kultur als Kontingenzbewältigung
Doch die Existenz im Krisenmodus belastet. Also braucht der Mensch Techniken der Angstüberwindung. Das probateste kollektive Mittel zur Angstüberwindung ist die Kultur. Sie schafft Ordnung, wo zuvor Unordnung war. Und das zunächst ganz konkret und wörtlich. Denn „cultura“ bedeutet Ackerbau, Pflege, Bearbeitung. Durch „cultura“, also durch Landwirtschaft, schafft sich der Mensch einen überschaubaren Ort der Geborgenheit inmitten des natürlichen Chaos. Felder und Siedlungen machen das Fremde und Unbekannte heimisch und vertraut. Die Kultivierung der Natur entlastet, indem sie das Chaotische und Unvorhersehbare aussperrt und Ordnung und Strukturen schafft. Kultur schützt vor schlechten Überraschungen und macht das Leben berechenbar.
Diese Ordnung ist jedoch fragil. Jederzeit droht Verwüstung durch Naturkatastrophen, durch Dürre, Stürme, Kälte oder Hitze. Kultur, die sich behaupten will, ordnet daher nicht nur den Raum, sondern versucht, auch die Zeit zu bändigen. Denn nur eine berechenbare Zukunft garantiert auch langfristig Ordnung und Sicherheit. Also versucht man, mittels Riten und Festen die Geister und Götter gnädig zu stimmen und so die Zukunft kalkulierbar zu machen. Zugleich gliedern diese Feiern den Jahreslauf und geben auf diese Weise auch der Zeit Struktur.
Kultur, die sich behaupten will, ordnet daher nicht nur den Raum, sondern versucht, auch die Zeit zu bändigen.
So entspringt aus der Kultur der Kult. In ihm wird die rettende Ordnung erbeten und mittels Opfern und anderen Ritualen herbeibeschworen. Kultur und Religion sind daher die menschlichen Schlüsselstrategien der Kontingenzbewältigung, Krisenvermeidung und Katastrophenkommunikation.
Doch die Götter sind launisch. Also werden die Menschen dennoch von Krieg, Seuchen, Dürren und Überschwemmungen heimgesucht. In solchen Momenten der unbeherrschbaren Katastrophe sucht der Mensch zumindest nach einem Sinn. Denn wenn sich das Unheil schon nicht bannen lässt, dann muss es zumindest eine Bewandtnis damit haben, irgendeine Bedeutung, die ihm einen Wert und Nutzen verleiht.
Diese Bedeutung gibt es für endliche Wesen in einer endlichen Welt jedoch nur in der Überwindung der Zeitlichkeit. Das bezeugt exemplarisch das älteste fiktionale Werk europäischer Kultur: die Ilias. In dieser zieht Achill ein kurzes Leben mit ewigem Ruhm der langen, glücklichen, aber namenlosen Existenz vor. Denn nichts, auch kein erfülltes Leben, kann aus antiker Sicht sinnstiftend sein. Sinn gibt es nur in der Ewigkeit. Sie macht göttergleich.
Da es nicht jedem Menschen vergönnt ist, ein Achill zu sein, schafft sich der Mensch mit der Kultur ein kollektives Transzendierungssystem. Hier, in der Symbolwelt kultureller Artefakte, überwindet der Mensch seine Endlichkeit. Jeder Tempel, jede Kathedrale und jeder Wolkenkratzer sind letztlich Zeugnis des menschlichen Versuches, der eigenen Vergänglichkeit zu entkommen.
Strategien der Krisenbewältigung
Katastrophen erschüttern Kulturen, da sie deren Transzendierungspotenzial belasten. Denn Katastrophen verdeutlichen nicht nur nachdrücklich die Endlichkeit menschlicher Existenz, sondern zugleich den kontingenten Charakter der Wirklichkeit. Insofern sind sie Herausforderungen für die Stabilisierungsfunktion und das Sinnstiftungspotenzial von Kulturen. Deshalb auch haben Katastrophen zumeist umfangreichere kulturelle Umformungsprozesse zur Folge. Kulturen, die über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte plausibel das Endlichkeitsbewusstsein kanalisiert haben, scheitern daran im Moment plötzlich hereinbrechenden Massenelends.
Exemplarisch hierfür ist die Antoninische Pest des ausgehenden 2. Jahrhunderts, die weite Teile des Römischen Reiches entvölkerte und wesentlich zur Krise des Imperiums und dem Aufstieg des Christentums beigetragen hat. Auch der sogenannte Schwarze Tod, also die Pest im engeren Sinne, die in Europa zwischen 1347 und 1353 wütete und der ein Drittel der damaligen Bevölkerung zum Opfer fiel, hatte nachhaltige und grundlegende Auswirkungen auf die europäische Kultur. Man vereinfacht nicht, wenn man in der Pest eine ganz wesentliche Ursache für den langsam einsetzenden Zerfall mittelalterlicher Gewissheiten sieht. Schon Egon Friedell formulierte 1927 in seiner berühmten – und nach wie vor lesenswerten – Kulturgeschichte der Neuzeit: „[…] das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr der ‚schwarzen Pest‘“.
Natürlich gab es auch schon vor der großen Pest Anzeichen eines Mentalitätswandels. Dennoch hat Friedell recht. Wie jede Krise änderte auch die Pest die Welt nicht grundlegend oder gar schlagartig. Sie war aber der Katalysator, der zahlreiche gesellschaftliche Prozesse beschleunigte, die im Vorfeld schon angelegt gewesen waren: Die zukünftigen europäischen Mächte formierten sich, das Bankwesen gewann an Bedeutung, das Wirtschaftsleben wandelte sich grundlegend. Der Medizin- und Kunsthistoriker Klaus Bergdolt spricht in seiner einschlägigen Studie von der „Mentalitätskrise der vierziger Jahre“. Und in dieses Krisenbewusstsein hinein fuhr die Pest.
Die Menschen reagierten darauf mit drei Verarbeitungsmustern, die in Katastrophenszenarien immer wieder zu beobachten sind: autoaggressive Selbstanklage, Rückzug in die Innerlichkeit und Hedonismus. Drastischer Ausdruck der Selbstanklage waren die Geißlerbewegungen. Zu Hunderten, manchmal zu Tausenden zogen die Menschen durch Dörfer und Städte, trugen Fahnen und Kreuze vor sich her, waren in Lumpen gehüllt, sangen monotone, von Vorsängern intonierte Lieder vor sich hin und peitschten sich dabei selbst. Hintergrund dieser Massenbewegung war ein durch die Offenbarung des Johannes und andere apokalyptische Schriften verbreiteter Endzeitglaube. Angesichts des baldigen Untergangs der Welt, so die Überzeugung der Geißler, konnte nur strengste Buße und Selbstzucht Vergebung der Sünden bringen.
Die Menschen reagierten […] mit drei Verarbeitungsmustern, die in Katastrophenszenarien immer wieder zu beobachten sind: autoaggressive Selbstanklage, Rückzug in die Innerlichkeit und Hedonismus.
Doch die Flagellanten geißelten sich nicht nur selbst, sondern im übertragenen Sinne auch die Gesellschaft, der sie Gottlosigkeit und Sündhaftigkeit vorwarfen. Ihre deutliche Botschaft war: Haltet ein, besinnt euch und kehrt um. Diese latent politische Botschaft wurde von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit argwöhnisch beobachtet.
Insbesondere die sich formierende städtische Mittelschicht aus Handwerkern und Bürgertum reagierte auf die Krise mit einem Rückzug ins Private. Das Seelenheil wurde nun verstärkt in ganz individuellen Glaubenserfahrungen und in einer persönlichen Zwiesprache mit Gott gesucht. Innere Einkehr, stilles Gebet und eine auf das Individuum abzielende Frömmigkeitskultur griffen um sich. Sowohl unter Laien als auch unter Theologen kam es zu einer Renaissance mystischen Denkens.
Neben Flagellantentum und Innerlichkeitsspiritualität entstanden in Reaktion auf die Pandemieerfahrung aber auch Ausformungen einer explizit hedonistischen Lebenskultur. Giovanni Boccaccios Dekameron gibt davon beredtes Zeugnis. Insbesondere in den Städten griffen Genusssucht und Luxus um sich. Die Überlebenden des städtischen Bürgertums – häufig zugleich ökonomische Gewinner der Krise – stellten ihren neuen Reichtum zur Schau. Das von der Pest hinterlassene Wachstumskapital wurde nicht investiert, sondern verprasst. Zugleich kam es zu einer Neubewertung der Sexualität. Die höfische Minne des Mittelalters hatte ausgedient. Die religiöse und höfische Verklärung der Frau wurde abgelöst durch eine eher weltliche Auffassung von Weiblichkeit. Passend dazu wandelte sich die Mode, die luftiger, freier und leichter wurde.
Diese drei im Zuge der spätmittelalterlichen Pestpandemie sich artikulierenden Krisenreaktionsmuster – Flagellantentum, Innerlichkeitsspiritualität und Hedonismus – werden in der Folge nicht nur kulturprägend für die anhebende Neuzeit, sondern basieren zugleich auf kulturellen Prototypen menschlicher Krisenbewältigung. Selbstanklage, Rückzug ins Private oder Flucht in den Genuss lassen sich immer wieder und in immer neuen Formen in den großen Krisen der Neuzeit feststellen. Sogar in den Coronawochen des Frühjahrs 2020 zeigten sich diese Verhaltensmuster. Gaben sich die einen fest davon überzeugt, dass nun die Natur zurückschlage, dass wir die gerechte Strafe für unseren Lebensstil und unsere Verschwendungssucht erhielten, so feierten andere die Situation als Chance zur Entschleunigung und Selbstfindung; und wieder andere versammelten sich mit Gleichgesinnten zu ebenso unerlaubten wie ausgelassenen Feiern und inszenierten Coronapartys.
Vielleicht ist es wenig überraschend, dass Krisenmanagement und Krisenkommunikation im Wesentlichen psychologisch und anthropologisch vorgegeben sind, dass die Art und Weise, wie diese Reaktionsmuster sich jedoch realisieren, abhängig ist von der Kultur der jeweils betroffenen Gesellschaft.
Das bedeutet zugleich, dass kulturelle Narrationen, die noch vor wenigen Jahrzehnten halfen, gesellschaftliche Krisen zu meistern, sich als überholt erweisen können. Am deutlichsten wird das an der Rolle religiöser Deutungsmuster in den Krisen der Moderne. Reagierten die Kirchen Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer konservativen Restauration traditionell christlicher Formen (das Erste Vatikanische Konzil war Ausdruck dieser Bestrebung) noch überaus erfolgreich auf die sozialen Verwerfungen der Industrialisierung, auf Entfremdung und Massenelend, so scheiterten analoge Versuche zu Beginn des Ersten Weltkrieges sehr schnell. Zum einen hatten die inzwischen fortgeschrittenen Modernisierungsprozesse die Menschen weniger empfänglich für religiöse Bilder und Deutungsmuster gemacht. Zum anderen brach die Vorstellung eines die Geschichte und Geschicke lenkenden Gottes in den Schützengräben auf beiden Seiten der Westfront in sich zusammen und ließ sich mit der Realität industriellen Massenschlachtens nicht mehr in Einklang bringen.
Anthropologische Konstanten
Dennoch haben religiöse Deutungskonstellationen die Entchristianisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts in säkularer Form überstanden. So wies der Tübinger Religionshistoriker Andreas Holzem darauf hin, dass sich in der Coronakrise fast so etwas wie eine neue Gläubigkeit gezeigt habe. Nur dass die Systeme und Überzeugungen, auf die sich diese Gläubigkeit richtet, nun nicht mehr aus der Theologie stammen, sondern aus der Virologie. Die Bereitschaft, ein solches Expertentum zu akzeptieren und nach dessen Expertise das eigene Handeln auszurichten und Freiheitsbeschränkungen hinzunehmen, sei bemerkenswert, so Holzem in einem Gespräch. Allerdings ist unsere Gesellschaft alles andere als homogen. Und so zeigten sich nach einer ersten Phase des Schocks sehr bald Ketzer und Ungläubige der neuen Expertenreligion.
Aber auch diese Infragestellung des offiziell verkündeten Konsenses gehört zu historisch erprobten Verarbeitungstechniken in Krisensituationen. Offensichtlich durchleben betroffene Gesellschaften verschiedene Stadien der Krisenverarbeitung, wie sie in den späten 1960er-Jahren die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, gebürtige Schweizerin und fast ein halbes Jahrhundert in den USA lebend, für den Prozess des Sterbens formuliert hat. Demnach reagieren Menschen in fünf Phasen auf eine tödliche Erkrankung: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Annahme. Der schwedische Psychiater Johan Cullberg machte daraus einige Jahre später vier Phasen der Krisenbewältigung. Er unterschied die Schockphase des Nicht-Wahrhaben-Wollens, die Reaktionsphase aufbrechender Emotionen, die Bearbeitungsphase des Suchens und Findens und schließlich die Phase, in der die Krise als Chance wahrgenommen wird.
Was Kübler-Ross und Cullberg auf individualpsychologischer Ebene als Entwicklungsmodell darstellen, zeigt sich aus sozialpsychologischer Perspektive eher als Bündel unterschiedlicher Konzepte der Krisenverarbeitung, die sich in betroffenen Gesellschaften zeitgleich wiederfinden und als unterschiedliche Angebote an die Mitglieder der Gesellschaft verstanden werden können. So reagieren in Krisenzeiten manche Menschen mit einfachen Leugnungsreflexen, andere mit Wut, wieder andere versuchen, sich in die neue Situation einzufügen oder sind zutiefst niedergeschlagen.
Die reformatorischen Bewegungen der frühen Neuzeit ebenso wie die emanzipatorischen und pazifistischen Strömungen der Moderne entsprangen der Infragestellung der jeweils herrschenden Krisenbewältigungsideologie.
Jede einzelne Krisenbewältigungsstrategie ist auch an spezifische Kommunikationsformen gebunden. Menschen, die sich konstruktiv in die neue Situation einfügen, greifen die in ihrer Zeit herrschenden Beruhigungsnarrative auf, eher widerspenstige Charaktere versuchen, diese zu hinterfragen oder sogar als Manipulationskampagne zu entlarven. Letzteres muss nicht immer negativ sein. Die reformatorischen Bewegungen der frühen Neuzeit ebenso wie die emanzipatorischen und pazifistischen Strömungen der Moderne entsprangen der Infragestellung der jeweils herrschenden Krisenbewältigungsideologie. Allerdings konnten die Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts aus einem noch vergleichsweise gefestigten Fundus tradierter Werte, Rollen und Überzeugungen schöpfen. Die Frage der Zukunft wird sein, inwiefern die pluralistischen, individualistischen und fragmentierten Gesellschaften der Spätmoderne in der Lage sind, Krisen zu bewältigen – oder ob sie an ihnen scheitern.
Literatur:
Bergdolt, K.: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters. München 1994
Cullberg, J.: Krise als Entwicklungschance. Gießen 2008
Friedell, E.: Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2007 [Erstveröffentlichung: 1927]