Lernort Kino

Filmarbeit mit jungen Geflüchteten

Birgit Goehlnich, Rita Thies, Sebastian Schnurr

Von September 2016 bis März 2018 bot das Murnau-Filmtheater in Wiesbaden für insgesamt ca. 150 Schülerinnen und Schüler einen ganz besonderen Erlebnis- und Erfahrungsraum. Denn nur wenige Meter entfernt befinden sich die fünf Beruflichen Schulen der Stadt, die Mitte 2016 vermehrt InteA-Klassen (Integration und Abschluss) für jugendliche Geflüchtete im Alter von 16 bis 19 Jahren eingerichtet hatten. So entstand ad hoc die Idee zu einem Projekt, für das sich sehr unterschiedliche Akteure zusammentaten: die Initiatorinnen Birgit Goehlnich (Ständige Vertreterin der Obersten Landesjugendbehörden bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft [FSK]) und Rita Thies (Kultur- und Schuldezernentin a.D.), Sebastian Schnurr (Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung), Peter Bingel (MIK – Netzwerkarbeit im Berufsschulzentrum Wiesbaden e.V.), Lehrerinnen und Lehrer der Schulze-Delitzsch-Schule sowie Filmschaffende aus den Bereichen „Drehbuch und Regie“ (Ysabel Fantou), „Schauspiel“ (Aykut Kayacık) und „Produktion“ (Uli Aselmann).

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 28-31

Vollständiger Beitrag als:

Identitätsbildung durch Filmarbeit

Mit Filmarbeit die Identitätsbildung der jungen Geflüchteten zu unterstützen, das war das gemeinsame Ziel: sich über Filme mit Andersdenkenden und über Geschlechterrollen auseinanderzusetzen, Ausgrenzung und Vorurteilsbildung entgegenzutreten, um stattdessen eine gewaltkritische und demokratiebejahende Haltung auf- bzw. auszubauen.

Das Erleben von Filmen steht für ganzheitliche Bildung, die durch ein Eintauchen in eine entkoppelte Zeit, in fiktive Räume mit Musik sowie eine mögliche Identifikation mit heldenhaften, ambivalenten oder scheiternden Filmfiguren Sinnlich-Emotionales mit einer intellektuellen Auseinandersetzung verknüpft. Diese kann einen Prozess der Reflexion und des Vergleichens mit der eigenen Lebenssituation bis hin zur Abstraktion und kritischen Bewertung von Botschaften in Gang setzen. Filme werden so zu einem optimalen Spielfeld des Ausprobierens von Rollen und des Austauschs über Identitätskonzepte und Lebenswelten.

Auch im Sinne des Jugendschutzes bot sich der Film als geeignetes Medium an, um mit der Zielgruppe über jugendschutzrelevante Inhalte wie Gewalt, Drogen, Sexualität in Verbindung mit Altersfreigaben zu diskutieren. Wie es im Jugendschutzgesetz (§ 14 JuSchG) verankert ist, dürfen „Filme […] die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen […] nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden.“
 

Heterogene Zielgruppe

Die Palette der Herkunftsländer, des kulturellen und religiösen Backgrounds der Schülerinnen und Schüler war bunt gefächert: Syrien, Afghanistan, Irak, Pakistan, Äthiopien, Eritrea, Tunesien, Somalia, Serbien u.a. Sobald die Jugendlichen über rudimentäre Sprachkenntnisse verfügten, wurde ihnen das Angebot gemacht, für ein Jahr einmal im Monat verbindlich ins Kino zu kommen. Für einige fiel das in die Unterrichtszeit, andere kamen außerhalb ihres Klassenunterrichts. Zu einigen Veranstaltungen wurden auch Schülerinnen und Schüler der Höheren Handelsschule geladen, damit neben geflüchteten und zugewanderten auch deutsche Jugendliche den interkulturellen Prozess mitgestalteten.
 

Herausforderung Filmauswahl

Wir versuchten, uns bei der Filmauswahl immer wieder zu verdeutlichen, dass die am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schüler in Deutschland auf ein gesellschaftliches Umfeld treffen, das von einem nahezu unübersichtlichen und vielseitigen Angebot an Identitätskonzepten geprägt ist. Das ist für viele, die aus Ländern mit autoritären Strukturen geflohen sind, neu, faszinierend und herausfordernd, kann aber in Bereichen, die emotional aufgeladen sind, auch verunsichern.

Zurückhaltend waren wir bei der Filmauswahl in Bezug auf die Darstellung kriegerischer Auseinandersetzungen. Kinobilder sind wirkmächtig – und niemand wusste, ob die Geflüchteten möglicherweise traumatisierende Erfahrungen mitbringen – und wenn, welche.

Jenseits dieser Überlegungen vollzog sich die Filmauswahl sorgsam wie experimentell – sie hat sich entlang des Sichkennenlernens und der Interessenlage der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ergeben. Grundsätzlich galt es aber im Sinne des Medienkompetenzerwerbs, Genrevielfalt und unterschiedliche Inszenierungsstile im Programm zu haben: Coming of Age, Drama, Science-Fiction, Historienfilm, Komödie und Thriller.
 

Kommunikation: ein didaktisches Konzept als kreativer Ansatz zur Verständigung

Der Grundsatz lautete: offene Kommunikation! Das, was die Schülerinnen und Schüler mitbringen, und das, was sie in den Filmen erleben, wird miteinander verhandelt. Neben der offenen Kommunikationsatmosphäre unter den Teilnehmenden, dem Projektteam und Gästen gab es auch strukturierte Gesprächssituationen: Einzelinterviews, geschlechtshomogene und -heterogene Kleingruppen, Filmgespräche im Plenum.

Aber wie offen kommunizieren, wie Filme verstehen, wenn man kaum Deutsch spricht? Um überhaupt mit jungen geflüchteten Schülerinnen und Schülern in die Filmarbeit einsteigen zu können, bedurfte es kreativer Lösungen, um den Zugang zu den Filmen und im Nachgang eine Beteiligung an den Filmgesprächen möglich zu machen:

  • Es wurde ein Glossar zu jedem Film entwickelt, das den Rahmen der Filmgeschichte, Zeit und Ort vorstellte, ohne den Plot zu verraten. Fachsprache wie auch Begrifflichkeiten z.B. aus der Umgangssprache der Protagonisten wurden mit einfach verständlichen Worten erläutert.
  • Nach der Filmsichtung galt es, Kurzbewertungen mithilfe von Piktogrammen „gefällt/gefällt nicht“ sowie eine Alterseinstufung (0, 6, 12, 16, 18) zu entscheiden.
  • Zur Unterstützung der Filmgespräche im Plenum oder auch in Kleingruppen wurden Porträtfotos der Protagonistinnen und Protagonisten angeboten.
  • Für Interviews unter den Schülerinnen und Schülern gab es Leitfragen zum Film.
  • Die Gespräche mit den Gästen aus der Filmbranche wurden unterstützend moderiert.
     

Ich habe nicht alles verstanden, was die Figuren im Film gesagt haben. Ich habe aber die Figuren verstanden, was sie gedacht haben und warum sie sich verändert haben.“ (Hussein, 17 Jahre)

 

Irritationen und Begeisterung im Saal

Wir zeigten den Film Leroy, um uns über die Themen „Rassismus“, „Freundschaft“ und „Liebe“ auszutauschen. Die anschließende Diskussion im Plenum war ungewöhnlich verhalten. Zudem entschieden sich die Schülerinnen und Schüler bei diesem Film (FSK 12) fast alle für eine hohe Altersfreigabe. Anlass dazu bot eine Szene, in der in der Galerie eines homosexuellen Freundes der beiden Protagonisten vor kunstinteressiertem Publikum eine groteske Performance stattfindet. Die Aufführenden tragen Kostüme, welche die Geschlechtsteile überdimensional ausformen. Diese werden in der Performance mit einer ebenfalls riesigen Schere „abgeschnitten“. Diese Szene sorgte für Aufregung:

Das macht man in unserer Kultur nicht.“ (Abdul, 19 Jahre)

Wir beschlossen, eine Diskussion über das, „was man macht“, über das, was zu bestimmten Zeiten gesagt oder gezeigt werden kann, über die Frage, was die Jugendlichen für angemessen halten, mit dem Thema „Zensur“ zu verbinden. Die Lösung war der Film Cinema Paradiso: Er spiegelt in geradezu idealer Weise das Kino als sozialen Treffpunkt, als Ort des Austauschs und der Kommunikation über „angeblich Verbotenes“ und entmystifiziert über eine kluge wie humorvolle Weise die Wirkung der aneinandergereihten Filmküsse. Der Pfarrer als oberste moralische Instanz bietet den Jugendlichen eine Autoritätsfigur, die sich bestimmend und restriktiv über jegliche Idee von ganzheitlicher und selbstbestimmter Sexualität hinwegsetzt.

Ich habe mich selbst in dem Jungen Toto gesehen: Ich war in Afghanistan als Kind auch sehr neugierig und frech, alles zu sehen und zu erleben“, sagte Mohammad ganz gerührt nach der Filmsichtung.

Der Film erzeugte bei den Jugendlichen emotional wie sinnlich eine ungeheure Wirkungsintensität, da Anknüpfungspunkte, kleine Reisen in die eigene Kindheit und Jugend angeboten wurden. Er transportiert vor allem einen mit Humor gewürzten, vertrauensvollen Diskurs zum Thema „selbstbestimmte Sexualität“. Insbesondere fokussiert der bereits in die Jahre gekommene Film das Einfühlungsvermögen in das Gegenüber, den Respekt vor Andersdenkenden, was für den Umgang untereinander im Fortgang des Projekts von großem Wert war.
 


Billy Elliot – I Will Dance, die klassische Coming-of-Age-Story zum Thema „Geschlechterrollen“, wurde von den Schülerinnen und Schülern als Kinderfilm wahrgenommen. Die überzeugende Rolle des tanzenden Jungen Billy führte dennoch zur Reflexion der grundsätzlichen Frage: Was geht und was geht nicht für Mädchen und Jungen? Eine 17-Jährige aus Afghanistan erzählte aus ihrem eigenen Leben:

Als ich 9 Jahre alt war, wollte ich Karate lernen. Meine Familie sagte, das ist nur was für Jungen. Aber ich muss nicht denken, was die Leute sagen. Ich habe es trotzdem gemacht. Und ich habe den grünen Gürtel.“

Zu den Lieblingsfilmen der Geflüchteten zählte u.a. Verstehen Sie die Béliers?, ein Film über die Loslösung von der Familie, den Aufbruch ins Neue und die Umsetzung eigener Lebensträume. Er knüpft an eine Situation an, die auch viele der ohne Familie geflüchteten Jugendlichen kennen. Alle stimmten der Protagonistin Paula zu, dass sie ihren Traum als Sängerin verwirklicht. Der 17-jährige Hussein beschrieb das aus seiner Sicht:

Zum Beispiel, ich will Lehrer werden, mein Vater sagt aber Nein, aber ich muss es machen, es ist mein Leben.“

Sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen Geflüchteten kam der Film Hidden Figures besonders gut an. „Ich wusste nicht, dass es so früh in Amerika schon Rassismus und Frauenfeindlichkeit gab. Der Film zeigt starke Frauen, die sich zur Wehr setzen, das gefällt mir“, bemerkte Kübra, eine 17-Jährige. Es folgte ein intensives Gespräch über eigene Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus. „Du Scheißmoslem – Zieh dein Kopftuch aus – Du gehörst nicht hierher“ – diese Worte wurden Kübra auf Wiesbadener Straßen mehrfach entgegengeschleudert.

Übereinstimmend fanden es alle Schülerinnen und Schüler unfair, dass auch heute noch Männer bevorzugt werden und dass Frauen weniger verdienen. „Das ist nicht gerecht“, so fasste Omer, 16 Jahre, die lebhafte Debatte zusammen. Im Nachgang zu diesem Filmerlebnis meldete sich der Lehrer mit folgendem Fazit zurück: „Hidden Figures hat die Schülerinnen und Schüler sehr bewegt und nachhaltig beschäftigt. Unabhängig vom Geschlecht gab es starke Identifikationsanreize und Transfers in das Heute und Jetzt der jungen Geflüchteten. Es kam zu solidarischen Bekundungen unter den Jugendlichen, die unterschiedlichen Religionen und Kulturräumen angehören.“

The Circle, ein Thriller, der die Themen „Demokratie“ und „kritische Mediennutzung“ aufgreift, kam aufgrund des Erzähltempos und einer herausfordernden Erzählanlage mit großem Figurenensemble nicht so gut an. Dennoch bot er sich hervorragend an, um den eigenen Umgang mit dem Handy zu reflektieren. Jeweils zwei Teilnehmende interviewten sich gegenseitig mit folgendem Ergebnis: Alle nutzen das Handy für soziale Medien (WhatsApp, Facebook, Instagram, Snapchat), und einige der Schülerinnen und Schüler berichteten von schlechten Erfahrungen und dass sie bereut haben, ein Bild oder einen Text in sozialen Netzwerken veröffentlicht zu haben.

Zum Abschlussfilm Jugend ohne Gott entspann sich ein weitreichendes wie intensives Gespräch zwischen den jungen Geflüchteten und dem Produzenten Uli Aselmann. Die zu Beginn des Films gesprochenen Worte des Protagonisten trafen die Schülerinnen und Schüler mitten ins Herz: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine Welt, in der alle Menschen gleich sind. Jeder kann sein, wie er ist […]. Alle haben die gleichen Chancen, egal, woher sie kommen. […] Es gibt keine Missgunst und keinen Neid […].“
 


Resümee

Die 17-jährige Zaina appellierte nach der Filmsichtung von Leroy an alle Anwesenden:

Alle Menschen sind gleich, Haut, Religion, Kopftuch – kein Kopftuch! Wir müssen erst die Person kennenlernen, erst nachher können wir entscheiden, ob sie gut ist oder nicht.“

Mit den Worten des Schauspielers Aykut Kayacık schauen wir in die Zukunft: „Filmarbeit ist eine Superidee! Filmgeschichten an Menschen bringen, ist eine schöne Sache. So kann man sich kennenlernen!“

Birgit Goehlnich ist Ständige Vertreterin der Obersten Landesjugendbehörden bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK).

Rita Thies ist Kultur- und Schuldezernentin a.D.

Sebastian Schnurr betreut die Kinoprogrammgestaltung bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung.