„Man kann Fake News auch mit Gedichtanalysen bekämpfen“

Vera Linß im Gespräch mit Roberto Simanowski

In seinem aktuellen Buch Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft kritisiert Roberto Simanowski, dass die Funktionsweise der digitalen Medien und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft in Schulen und an Universitäten zu wenig kritisch diskutiert werden. Stattdessen gehe es um die Nutzung digitaler Medien, ohne ihre Wirkungsweise zu verstehen oder zu reflektieren. Deshalb fordert der Medienwissenschaftler, sich nicht nur auf die kompetente Anwendung von Medien zu fokussieren. Man müsse auch Medienbildung in die Lehrpläne aufnehmen, um das Bedingungsgefüge zwischen Medien und Gesellschaft offenzulegen. tv diskurs sprach mit Prof. Dr. Roberto Simanowski über seine Kritik am aktuellen Bildungssystem, den Unterschied zwischen Medienkompetenz und Medienbildung, aber auch über die Herausforderungen, vor die digitale Medien die Gesellschaft stellen.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 10-11

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Roberto Simanowski, Sie sagen, dass alles, was im Moment seitens der Politik unternommen wird, um Hate Speech oder Fake News zu bekämpfen, nur Symptombekämpfung ist. Warum?

Es ist generell natürlich wichtig, Fake News zu identifizieren, mit dem Ziel, sie auch zu vermeiden. Aber das setzt nicht am Grundproblem an. Man muss beim Rezipienten bereits die Bereitschaft minimieren, sich überhaupt erst auf solche Kommunikationsangebote einzulassen. Schon im Unterricht sollte man Schüler dazu anhalten, sich auch komplexeren und komplizierten Analysen auszusetzen und nicht nur knappen und sensationsheischenden Meldungen. Das mag paradox klingen, aber das heißt, dass ich Fake News auch durch Gedichtanalysen bekämpfen kann. Denn dabei wende ich mich den Feinheiten der Sprache zu, auch den Ambivalenzen von Sprache, und lerne, zwischen den Zeilen zu lesen. Es muss ja nicht unbedingt ein Gedicht von Goethe sein. Es kann auch der Text eines Popsongs sein. Wenn man sich Zeit für Sprache nimmt, stellt man fest, dass sich Dinge unterschiedlich ausdrücken und interpretieren lassen. Wenn ich dafür eine Sensibilität entwickle, falle ich nicht mehr so schnell auf das Naheliegende herein; worauf Fake News ja zielen.

Daneben müssen Schule und Universitäten auch die Funktionsweise der digitalen Netzwerke offenlegen, mahnen Sie. Es gehe neben Medienkompetenz auch um Medienbildung. Worin besteht der Unterschied?

Medienkompetenz besteht darin, dass ich weiß, wie ich Apps öffne, wie ich meine Daten vor Diebstahl schütze, mit Cyberbullying umgehe und eben auch, wie ich Fake News identifiziere. Medienbildung heißt, dass ich lerne, wie die Medien die Gesellschaft verändern. Und dass ich das entsprechend reflektieren und die Konsequenzen verstehen kann. Ich vergleiche das gern mit dem Begriff der verkehrspolizeilichen Medienbildung. Wir werden in den Schulen darauf orientiert, uns unfallfrei auf der Datenautobahn zu bewegen, ohne dabei die Regeln infrage zu stellen. Was wir aber brauchen, ist eine kriminalpolizeiliche Medienbildung, die fragt: Was passiert hier eigentlich? Die den Start-up-Hipstern auf die Finger schaut, wie es etwa in einigen Episoden des Tatort passiert. Da wird dann gefragt: Wieso gibt es eine Software, die ein Auto gegen den Baum fahren kann, um die Programmiererin zu töten, die aus moralischen Gründen diese Software ausschalten wollte? Das ist das alte Thema schon in Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum, wo der Computer die Macht übernimmt. Solche Fragen müssen diskutiert werden. Das passiert zu wenig, weil Bildung eher pragmatisch darauf ausgerichtet ist, arbeitsmarktgerecht ausgebildete Bürger zu erziehen, anstatt mündige Bürger, die auch ein Urteil dazu abgeben können, wie sich die Gesellschaft durch die neuen Medien verändert und inwiefern sie solch eine Veränderung überhaupt wollen.

In diesem Zusammenhang fordern Sie auch, die Rolle des Lehrers zu stärken.

Der Lehrer wird ja immer so ein bisschen mitleidig angeschaut. Dass er als Digital Immigrant, der nicht mit den digitalen Medien aufgewachsen ist, den Jugendlichen in dieser Hinsicht sowieso nichts vermitteln kann und deswegen Peer Education oder das Lernen mit Unterstützung von Software viel angebrachter wäre. Es ist richtig, die Lehrer kommen aus einer anderen Leitkultur. Das ermöglicht es ihnen aber, Vergleiche zu ziehen. Sie sind noch mit dem Medium Buch als wichtigster Kulturtechnik aufgewachsen. Sie sehen, wie sich Kommunikationsformen verändern, und können das den Schülern vermitteln. Beispielsweise können sie eine Mediendiät vorschlagen und sagen: Jetzt gucken wir mal, wie sich unser Umgang mit Wissen verändert, wenn wir wieder in die Bibliothek gehen, uns noch die Bücher suchen und dann die Stellen finden müssen statt über die Suchmaschine. Dann muss man vielleicht noch das ganze Buch querlesen, um irgendwohin zu kommen, also sich in der Landschaft des Denkens aufhalten, statt gezielt nach einer Antwort zu suchen. Dann sieht man natürlich, wie sich der Umgang mit Wissen geändert hat. Wenn man statt auf Lehrer mehr auf Software setzte, würde auch noch etwas anderes verloren gehen. Bildung ist auch eine Sozialerfahrung, eine Erfahrung sozialer Dynamiken, die ganz wichtig ist. Und die kann Software nicht vermitteln.

Die Forderung, ein Buch zu lesen, finde ich zwar berechtigt, sie klingt aber immer auch ein bisschen moralisch. Was jedoch kein Buch und auch kein Computer hat, ist die Dialogfähigkeit, die Möglichkeit, mit einem Menschen aus Fleisch und Blut im Gespräch oder durch Vorleben Dinge zu erarbeiten.

Algorithmen sind ja Folgen einer „Wenn-Dann-Logik“, die erbarmungslos ist. Sie funktionieren gut im Modell der Quantifizierung. Wenn man bestimmte Ziele erreicht hat, geht es weiter zum nächsten Schritt. Lehrer sind aber in der Lage, einen Schüler auch dann weiterzubringen, wenn er mal ein Ziel nicht geschafft hat. Ich weiß nicht, ob sich Algorithmen diese Mühe geben würden. Die haben ja praktisch dieses Verständnis nicht. Und ob man es ihnen so einschreiben kann, weiß ich auch nicht. Und wenn ja: Wer würde es ihnen einschreiben? Techniker aus den Silicon Valleys dieser Welt und nicht die Lehrer, die die Schüler kennen und jahrelang mit ihnen zu tun hatten. Ich denke, dass es aus erziehungstheoretischer Perspektive in vielerlei Hinsicht wichtig ist, nicht zu viel Technologie einzusetzen und den menschlichen Faktor der Lehrer nicht über Gebühr wegzuschieben. Wobei ich nicht sagen will, dass sich die Schulen als Bewahrungsort alter Lehrmethoden verstehen sollen. Es gibt natürlich viele tolle Möglichkeiten, mit den neuen Technologien Dinge zu veranschaulichen. Es ist nichts zu sagen gegen die 3-D-Installation einer chemischen Gleichung, in die man hineingehen kann, oder gegen ein Reenactment-Verfahren, bei dem ich den Aufstand im Warschauer Ghetto Tweet für Tweet miterleben kann. Das sind tolle Didaktisierungen der neuen Medien, auf die man nicht verzichten sollte. Da müsste man den Lehrern wiederum sagen, sie sollen keine Berührungsängste haben gegenüber den neuen Technologien.

Weitere Informationen: Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin 2018: Matthes & Seitz. 304 Seiten, 24,00 Euro

Prof. Dr. Roberto Simanowski ist Literatur- und Medienwissenschaftler.

Vera Linß ist Medienjournalistin und Moderatorin.