Medien und Tabus

Melanie Hellwig

Dr. Melanie Hellwig ist Kommunikationswissenschaftlerin an der Jade Hochschule in Wilhelmshaven. Sie lehrt und forscht u.a. zu Pressefreiheit sowie Normen öffentlicher Kommunikation.

Tabus faszinieren, ihre mystische und zugleich kraftvolle, weil für Skandale und Aufmerksamkeit sorgende Anmutung führt dazu, dass Medien sich permanent damit beschäftigen und immer wieder behaupten, die Öffentlichkeit sei entweder tabulos oder in permanenter Aufregung über (angebliche) Tabubrüche.

Zeit also, auf dieses Phänomen einmal aus Sicht der Kommunikationswissenschaft zu schauen. In diesem Artikel versucht die Autorin, wesentliche Erkenntnisse ihrer Dissertation (Hellwig 2021) zusammenzufassen und den Zusammenhang von Tabus und Kommunikation auch im Kontext von Social Media deutlich zu machen.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 14-17

Vollständiger Beitrag als:

Wie also kann man im Sinne der Kommunikationswissenschaft ein Tabu definieren und wie seine Funktion, wenn es denn eine gibt, in der Gesellschaft beschreiben?

Ein Tabu ist ein normatives Konstrukt, welches Verhalten standardisiert und somit für die Mitglieder der Gemeinschaft erwartbar macht. Hierbei gilt es zu beachten, dass es ein absolutes Muss ist, sich an dieses Gebot zu halten, und dass dieses Gebot durch eine zusätzliche mystisch-religiöse Macht ergänzt wird. Wird ein Zuwiderhandeln bekannt, erfolgt unmittelbar eine Sanktion. Über die regelnde Funktion hinaus sorgt ein Tabu dafür, bestimmte Handlungen etc. zu beschützen und aus dem Alltag der Gemeinschaft auszublenden. Des Weiteren hat ein Tabu eine identitätsstiftende Funktion. Die Wirkweise eines Tabus beruht dabei auf der psychologischen Anlage, die jeder Mensch in seiner Kindheit erlernt, nämlich konformes Verhalten gegenüber mächtigen Personen. Diese Macht ist nicht immer genau zu identifizieren, dennoch ist sie da und wird akzeptiert.
 

Ausschluss aus der Gemeinschaft

Normen sind Regeln einer Gemeinschaft, die das Zusammenleben vereinfachen, indem sie Verhalten für die Mitglieder der Gemeinschaft erwartbar machen. So weiß ich z. B., dass ich mich im Theater während einer Aufführung nicht unterhalte. Dies muss nicht bei jeder Aufführung ausgehandelt werden. Nun gibt es bei Normen noch gewisse Abstufungen von Kann-Normen auf der einen Seite, an die ich mich halten kann (wie beispielsweise, dass ich zur Begrüßung einer Person die Hand gebe), und Muss-Normen auf der anderen Seite, an die es sich absolut zu halten gilt (wie beispielsweise, dass ich für Ware, die ich aus dem Supermarkt mitnehme, auch bezahlen muss). Zu erkennen ist der Unterschied daran, wie die Strafe ausfällt, die folgt, wenn man sich nicht an die Norm hält.

Tabus können in diesem System als absolute Muss-Normen verstanden werden, bei denen eine äußerst rigide Sanktion erfolgt. Aus der sozialpsychologischen Erklärung heraus hat der Mensch Todesangst davor, aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, und verhält sich deshalb konform (Rudas 1994, S. 19). Gehöre ich also zu einer Gemeinschaft, in der ein Tabu existiert, so halte ich mich daran, denn als Sanktion erfolgt im Tabusystem der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dies kann sehr unterschiedlich sein: In der Familie wird die Person ausgeschlossen, die Onkel Herberts Alkoholsucht auf der Feier laut angesprochen hat, in der katholischen Kirche verliert der Pfarrer mit Partnerin und Kind seine Arbeitsstelle und in einem Staat wird ein Vater, der mit seiner Tochter mehrfachen Inzest begangen und Kinder gezeugt hat, verurteilt und in das Gefängnis gesperrt.
 


Der Mensch hat Todesangst davor, aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, und verhält sich deshalb konform.



In der Beschreibung der Beispiele ist ein weiterer wichtiger Punkt im Tabusystem zu erkennen: Das Wesentliche aus Sicht der Tabubrecherin oder des Tabubrechers ist, dass eine Handlung wider ein Tabu nicht kommuniziert wird. Es muss absolut geheim bleiben, dass ein Tabubruch stattgefunden hat.

Tabus sind also Muss-Normen mit einem mystisch-religiösen Aspekt, sie werden von einer irgendwie gearteten Macht – auch Mana genannt – bewacht. Hier liegt der Unterschied zu einer einfachen Norm, es gibt den Glauben daran, dass hier eine Zuwiderhandlung von einer besonderen Macht geschützt bzw. bestraft wird. Diese Macht kann z. B. die Staatsgewalt sein, ist aber nicht immer zwingend identifizierbar. Bei einer historischen Betrachtung kann man die Macht manchmal herleiten, wie vielfach schon geschehen am Beispiel des Tabus, Schweinefleisch zu essen. Aber auch für das Tabu des Schwangerschaftsabbruchs kann diese Macht identifiziert werden, denn es kam mit der aufstrebenden Macht der christlichen Kirchen in der westlichen Welt auf. Nehmen wir dieses zuletzt genannte Tabu, bei dem sicherlich die einen sagen, es existiere nicht mehr, und dafür nachvollziehbare Beweise vorlegen, die anderen dem aber mit ebenso nachweisbaren Argumenten widersprechen. Viele Jahrhunderte hätte man argumentieren können, dass dieses Tabu eine für die jeweilige Gemeinschaft wichtige Funktion hatte, nämlich die Gruppe zu erhalten durch ausreichend Nachwuchs (eine ausführliche Betrachtung und Argumentation findet sich bei Hellwig 2021, S. 130 f.).

Die Identifikation stiftende Funktion eines Tabus kann deutlich gemacht werden an Tabus wie dem, dass in einer Synagoge Männer eine Kippa tragen oder dass eine Moschee niemals mit Schuhen betreten werden darf.
 

Tabus und Kommunikation

Es klang schon oben an, dass Tabus auch etwas mit Kommunikation zu tun haben. So darf über einen Tabubruch nicht kommuniziert werden aus Sicht des Tabubrechers oder der Tabubrecherin, denn dann drohen Sanktionen.

Schauen wir aber zunächst einmal, wie Tabus überhaupt kommuniziert werden.

Ein Tabu bei Paaren oder Familien ist intuitiv klar, man spricht nicht darüber. Hier erfolgt die Kommunikation auf der Ebene der nonverbalen Kommunikation: Es werden bestimmte Worte oder Themen, wie etwa Alkoholismus, von Familienmitgliedern gemieden und „Zuwiderhandlungen werden oft nicht lautstark, sondern durch Mimik, ein Verdrehen der Augen [...] gekennzeichnet“ (Kraft 2004, S. 133). Tabus in Religionsgemeinschaften z. B. werden teilweise durch Vorleben, also ebenfalls nonverbal, oder durch niedergeschriebene Regeln kommuniziert.

Die wichtigste Form der Kommunikation im Kontext von Tabus ist aber das öffentliche Ächten von Tabubrecherinnen und Tabubrechern, denn so kann am deutlichsten gezeigt werden, dass es ein Tabu ist und dass es gilt, dies einzuhalten. An dieser Stelle spielen bei gesellschaftlichen Tabus die Medien eine entscheidende Rolle, denn sie tragen u. a. zur öffentlichen Ordnung bei, indem sie über Tabubrüche und vor allem die Sanktionen berichten. Gleichzeitig ist es möglich, über Tabus und die Konsequenzen ihrer Verletzung zu sprechen, ohne gegen sie zu verstoßen. Als Beispiel können hier zwei Hefte von „Magnum“ jeweils mit dem Titel Tabu (1960; 1961) und die tv diskurs-Ausgabe 54 (4/2010) mit dem Titel Tabus. Kulturell gesetzt, medial verhandelt dienen.
 


Die wichtigste Form der Kommunikation im Kontext von Tabus ist aber das öffentliche Ächten von Tabubrecherinnen und Tabubrechern.



Es verstößt gegen kein Tabu, in Deutschland darauf hinzuweisen, dass Antisemitismus tabu ist; auch der Hinweis darauf, dass Inzest tabu ist, bedeutet noch keinen Tabubruch. Nur die tatsächliche Handlung, also das Aussprechen von Themen und Durchführen von Handlungen, ist tabu und man darf keinesfalls über einen Tabubruch sprechen, denn sonst wird man als Tabubrecherin oder Tabubrecher entdeckt. Darüber sprechen können nur die Tabuwächterin und der Tabuwächter – und nur, indem der Tabubruch verurteilt wird. Es kann also deutlich ausgesprochen werden, was ein Tabu in der Bezugsgruppe ist, d. h., über die Existenz des Tabus und seinen Inhalt darf gesprochen werden. Dies wird jedoch im alltäglichen Umgang kaum praktiziert, da Tabus allgemein bekannt sind und lediglich neuen Mitgliedern (in der Regel den heranwachsenden Kindern) mitgeteilt werden. Und selbst dieses Mitteilen muss nicht zur individuellen Erziehung dazugehören, sondern geschieht häufig in dem wichtigsten Kommunikationsakt im Tabusystem, dem Ächten von Tabubrecherinnen und Tabubrechern. Dass dieser Kommunikationsakt problematisch sein kann, zeigt sich z. B. auch deutlich im Kontext von Zuwanderung, wo das Erlernen von Tabus umso mühsamer ist und sicherlich anders laufen müsste als durch Ächten von Tabubrüchen.
 

Wandel von Tabus

Der Tabubruch kann neben seiner verstärkenden Wirkung aber ebenso zu einer Schwächung bzw. Abschaffung des Tabus führen. Ist das Tabu für den Erhalt der Gemeinschaft oder für die Wahrung der Macht der Tabugeberin oder des Tabugebers nicht mehr erforderlich, achten die Tabuwächterinnen und Tabuwächter nicht mehr darauf – und ein ungeahndeter Tabubruch wird möglich. Macht die Gemeinschaft des Tabus die Erfahrung, dass der Tabubruch nicht mehr so rigide oder sogar gar nicht mehr geahndet wird, so wird das Tabu immer häufiger gebrochen und verschwindet schließlich – eine Veränderung der Gemeinschaft hat stattgefunden.

Was aber nicht passiert, obwohl Medienschaffende dies gerne suggerieren, ist, dass die Medien ein Tabu brechen und damit einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen können. Die Untersuchungen zu diesem Thema haben bisher ergeben, dass der oben genannte Wandel in der Bezugsgruppe des Tabus stattgefunden haben muss (Hellwig 2021), damit in den Medien auf einen vermeintlichen Tabubruch nicht die sanktionierende Kommunikation in Form eines Skandals stattfindet, sondern ein Diskurs oder ein Konflikt (wie Kepplinger u. a. [2002, S. 86] es beschreiben).

Grundsätzlich gilt es ohnehin zu bedenken, dass immer alle Mitglieder einer Gemeinschaft, zu der ein Tabu gehört, auch Teil des Tabusystems sind. Sie glauben an die Macht, die das Tabu beschützt, sie halten sich an das Tabu, sind gleichzeitig auch Tabuwächter oder Tabuwächterin und reagieren sanktionierend oder mindestens verurteilend auf einen Tabubruch. Dies bedeutet aber, dass alle Medienschaffenden Teil dieses Systems sind und dementsprechend auch der Wirkung des Tabus unterliegen.
 


Einem gesellschaftlichen Tabu kann sich kein Mitglied der Gruppe entziehen. Niemand kann, solange das Tabu als akzeptiert gilt, ungestraft dem Tabu zuwiderhandeln.



Gelangt ein Tabubruch doch an die Öffentlichkeit, so agiert der Journalismus normerhaltend. Dies geschieht, weil die Tabuwächterinnen und Tabuwächter, hier Journalistinnen und Journalisten, tabuerhaltend agieren, indem sie den Tabubruch verurteilen. Damit haben Tabus unmittelbar mit Kommunikation zu tun. Zunächst einmal darf aus Sicht der Tabubrecherin oder des Tabubrechers nicht über den Tabubruch kommuniziert werden – er ist tabu. Es wird über Geheimhaltung etwas aus der Öffentlichkeit herausgehalten, und zwar in Form von absolutem Nichtkommunizieren eines Sachverhalts. Wird ein Tabubruch doch kommuniziert und damit öffentlich, so findet gemäß einem starken Tabu eine normerhaltende Diskussion statt. Als wichtigste Erkenntnis in diesem Zusammenhang muss nochmals betont werden: Einem gesellschaftlichen Tabu kann sich kein Mitglied der Gruppe entziehen. Niemand kann, solange das Tabu als akzeptiert gilt, ungestraft dem Tabu zuwiderhandeln, auch nicht die Journalistin oder der Journalist, von der/dem allgemein angenommen wird, dass sie/er neutral über alle Themen berichtet, die für die Öffentlichkeit relevant sind.

So kann für öffentliche Kommunikation behauptet werden: Bei einem starken Tabu gibt es normerhaltende Reaktionen auf den Tabubruch in den Medien. Bei einem gesellschaftlichen Wandel in Bezug auf das Tabu, also bei einem schwachen Tabu, kommt es zu normverändernden Reaktionen.
 

Entstehung neuer Tabus

Gesellschaftlicher Wandel kann nun aber auch den umgekehrten Weg herbeiführen, der sich aktuell in den Medien beobachten lässt: Es können neue Normen entstehen, die vielleicht neue Tabus entwickeln. Zu denken ist hier an die Thematik der Political Correctness, Antidiskriminierung und Antirassismus als neue Sprach- und Handlungstabus. Dies gilt es, auf Basis der Definition des Tabus in Bezug auf die Kommunikationswissenschaft zu untersuchen.

Somit kann eine Analyse von Medieninhalten Rückschlüsse auf gesellschaftliche Veränderungen und Normen ermöglichen. In einer ersten kleinen Studie der Studentin Christina Bensien wurde z. B. das Thema „Parental Sharing auf Instagram“ und somit der Findungsprozess neuer Normen untersucht. Wie verhalten sich Prominente in Social Media und wie diskutieren Follower Bilder von Kindern? Auf Social Media ist es möglich, live zu verfolgen, wie eine neue Norm und vielleicht ein Tabu ausgehandelt wird. Dabei zeigte sich, dass es je nach Community unterschiedliche Haltungen gibt: In der einen führt ein vollständig erkennbares Baby zu einem Shitstorm, in einer anderen wettern die Follower über das Emoji über dem Gesicht. Somit lässt sich (vielleicht) beobachten, dass je nach Teilöffentlichkeit andere Normen und Tabus gelten (werden).
 

Literatur:

Hellwig, M.: Mechanismen eines medialen Tabubruchs. Untersuchung von Tabus zur Erschließung des Phänomens für die Kommunikationswissenschaft. Bamberg 2021

Kepplinger, H. M./Ehmig, S. C./Hartung, U.: Alltägliche Skandale. Eine repräsentative Analyse regionaler Fälle. Konstanz 2002

Kraft, H.: Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf/Zürich 2004

Rudas, S.: Stichworte zur Sozialpsychologie der Tabus. In: P. Bettelheim/R. Streibel (Hrsg.): Tabu und Geschichte. Zur Kultur des kollektiven Erinnerns. Wien 1994, S. 17–20