Medienethische Aspekte bei der Bewertung von True Crime

Ingrid Stapf

Dr. phil. Ingrid Stapf habilitiert sich zu Grundlagen einer Kinder-Medien-Ethik im digitalisierten Zeitalter. Sie lehrt und forscht aktuell am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen.

Das True-Crime-Format wird unter medienethischen Gesichtspunkten betrachtet.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 66-69

Vollständiger Beitrag als:


Die medienethische Perspektive fragt, wie weit Unterhaltung in freiheitlichen Demokratien gehen darf und wo die Grenzen im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenwürde und Wahrheit liegen.

Diese Grenzen sind bei Kindern und Jugendlichen aufgrund ihrer erhöhten Verletzlichkeit besonders zu reflektieren, da ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten sowie auch ihre Integrität sicherzustellen ist (vgl. Schutzziele, so § 10a JuSchG). Zu bedenken ist dabei, dass die Rechte von Kindern auf eine offene Zukunft und ihre Entwicklung zu zukünftigen Staatsbürger*innen der Demokratie einerseits sowie ihre Rechte auf Unterhaltung, Freiheit und gesellschaftliche Teilhabe andererseits in ihrer Gegenwart (als Kinder) gegeneinander abzuwägen sind (Stapf 2019; 2022).

Die Rezeption von True-Crime-Formaten kann medienethisch zwischen Wissensaneignung, Prävention, Unterhaltung, aber auch im Hinblick auf ihren Bezug zu sozialen Interaktionen diskutiert werden. Dabei sollte zwischen Risiken und Herausforderungen einerseits und Potenzialen und Möglichkeiten andererseits differenziert werden, um auch diskutieren zu können, was im Sinne von Good Practice durch die Formate ermöglicht werden kann.
 

Die medienethische Perspektive berücksichtigt Werte- und Normenkonflikte, die sich im Kontext freiheitsorientierter Ansätze ergeben können.

Grundsätzlich geht Medienfreiheit mit gesellschaftlicher Verantwortung einher. Dies impliziert in Bezug auf Unterhaltungsformate nicht, dass Gewaltverbrechen grundsätzlich nicht gezeigt werden dürfen, sondern dass es darauf ankommt, wie dies geschieht. Für Kinder ist es wichtig, zu lernen, dass Verbrechen stattfinden können, wie sie zustande kommen, was im Kopf von Täter*innen vorgeht und wie sie sich selbst schützen können. True-Crime-Formate haben daher auch das Potenzial, Kinder zu informieren und aufzuklären, was zu ihrer eigenen Sicherheit und ihrem eigenen Schutz und damit zur Entscheidungsfähigkeit und Selbstbestimmung im eigenen Leben und Alltag beitragen kann. Auch beunruhigende Erfahrungen können ihre Entwicklung und Resilienz stärken, wenn sie nicht nachhaltig ängstigen oder verunsichern bzw. wenn ausreichend Bewältigungsmöglichkeiten bereitgestellt werden.

Auf der anderen Seite können Bilder zu Realitätsverzerrungen führen oder mit übermäßiger Verängstigung oder Sicherheitsängsten einhergehen. Aktuelle Kritik an den Formaten bezieht sich neben der Verängstigung auf den Umgang mit Geschlechterrollen, Missrepräsentationen tatsächlicher gesellschaftlicher Zusammenhänge oder den interkulturell variierenden Umgang mit Persönlichkeitsrechten Betroffener (Harms 2021). Diese Kritik ist dabei ethisch gesehen immer auch auf mögliche Potenziale bezogen.
 

True Crime macht den Tod als Unterhaltungserlebnis zugänglich. Aus ethischer Sicht ist die Frage, welche Effekte dabei vertretbar sind, entscheidend.

Medien konstruieren (und rekonstruieren) gesellschaftliche Wirklichkeit und stehen in Bezug zur Lebenswelt. Damit haben sie soziale Effekte: „Die medial erzeugten Bilder des Todes nehmen Einfluss auf die in einer Gesellschaft zirkulierenden Todesbilder“ (Meitzler 2017, S. 118) – und können dabei auch verzerrte Wahrnehmungen verursachen, die im Extremfall zu Ängstigung, Desorientierung oder auch Zynismus führen. Auch wenn True Crime auf wahren (Teilen von) kriminellen Fällen beruht, so wird das, „was in den Medien auftaucht, […] nach den Gesichtspunkten der Medien [z. B. über Inszenierungspraktiken, so Dramatisierung, Narrativierung oder Emotionalisierung] umgeformt“ (ebd., S. 138). Zu prüfen ist, wann Formate Unterhaltung im Kontext von Tod und Gewalt ermöglichen, wann individuelle oder gesellschaftliche Auseinandersetzung mit damit verbundenen Themen stattfindet und ab welchem Punkt ein die Menschenwürde missachtender Voyeurismus eintritt.
 

Die Medienethik übersetzt Idealnorm-Konzeptionen (wie Freiheit, Verantwortung, Wahrheit) für einen konkreten Anwendungsbereich.

Für eine medienethische Auseinandersetzung mit True-Crime-Formaten bedeutet dies, dass sich eine Bewertung von Formaten grundsätzlich an diesen (überdies demokratisch verankerten) Prinzipien ausrichtet und sie fallorientiert „übersetzt“.

So macht es beispielsweise einen Unterschied in der Bewertung, ob Reenactments mit Schauspieler*innen oder Originalaufnahmen gezeigt werden, auf denen beteiligte Opfer, Täter*innen oder Bystander*innen erkennbar sind, da dies Auswirkungen auf das gegenwärtige oder zukünftige Leben der Beteiligten haben kann. Ethisch problematisch wird dies, wenn die Betroffenen nicht eingewilligt haben. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um jüngere Kinder handelt, die rechtlich nicht einwilligungsfähig und zudem nicht in der Lage sind, die Folgen einer Einwilligung sowohl im Hinblick auf ihre gegenwärtigen als auch auf ihre zukünftigen Interessen abzuschätzen. Es ist auch davon auszugehen, dass diese Wirkungsdimension bei Originalaufnahmen anders einzuschätzen ist als bei nachgestellten Szenen oder Berichten über Tathergänge. Dies spricht zwar nicht grundsätzlich gegen den Einsatz solchen Materials, erfordert aber besondere Vorsicht, wenn Kinder True-Crime-Formate im Tagesprogramm wahrnehmen können sollen. Da sich deren Wertebildung noch im Prozess befindet, sollte hier das Prinzip der Verantwortung vorrangig beachtet werden. Besondere Vorsicht ist bei der Verwendung von Originalaufnahmen von Verbrechen in Verbindung mit Trophäennarrativen geboten.


Besondere Aspekte, die es im Themenbereich „True Crime“ zu berücksichtigen gilt, sind Fragen der Bildethik und der visuellen Darstellung von Tod und Sterben.

Im Gegensatz zu fiktionalen Formaten erheben True-Crime-Formate nicht nur den Anspruch, die Realität abzubilden und Verbrechen so zu zeigen, wie sie geschehen sind, vielmehr werden auch die involvierten Personen – ob Täter*innen, Opfer, Bystander oder auch andere Akteure wie Ermittler*innen, Anwält*innen oder Familienangehörige – in den Folgen identifizierbar. Bei besonders drastischen Bildern, Videosequenzen, Verhören oder anderem Archivmaterial ergeben sich neue ethische Herausforderungen, die neben Persönlichkeitsrechten und postmortalem Persönlichkeitsschutz auch grundsätzliche Fragen der Pietät und Menschenwürde berühren – etwa wenn Taten besonders grausam sind, wenn identifizierbare Leichen oder verstümmelte Leichenteile sichtbar werden oder auch, wenn betroffene Kinder gezeigt werden, die nicht einwilligen können und für die dies möglicherweise gravierende Auswirkungen auf ihr Leben als Erwachsene haben kann. Neben den gezeigten Verstorbenen bzw. Sterbenden sind aber auch die Angehörigen (Familie, Freunde etc.) zu berücksichtigen, die ein „Bild vom Lebenden“ bewahren wollen oder deren Privatsphäre durch das Zeigen der Bilder nachträglich beeinträchtigt werden könnte. So macht es z. B. in einem True-Crime-Format einen Unterschied, ob Tathergänge gezeigt werden, die im Nachhinein die möglicherweise unschuldige Familie, Verwandte oder Freunde belasten könnten, auch wenn dies nur angedeutet wird. Insoweit Kinder betroffen sind, ist die Wirkung durch die thematisierte Verletzung der Menschenwürde (z. B. zerstückelte Leichen) drastischer als in fiktionalen Formaten, insbesondere dann, wenn aus dem Format Rückschlüsse auf konkrete Lebensorte oder soziale Kontakte gezogen werden können.
 

Kinder und Jugendliche haben laut UN-Kinderrechtskonvention nicht nur Rechte auf Schutz und Sicherheit, sondern auch auf Unterhaltung, Freizeit und Information.

True-Crime-Formate suggerieren, dass Gewalt und Verbrechen real so stattgefunden haben und auch in der Lebenswelt von Kindern so stattfinden könnten, was ängstigend und desorientierend wirken kann.

True-Crime-Formate können aber auch das Potenzial haben, Kinder zu informieren und aufzuklären, was zu ihrer eigenen Sicherheit und ihrem eigenen Schutz und damit zur Entscheidungsfindung und Selbstbestimmung in ihrem eigenen Leben und Alltag beitragen kann. Auch verstörende Erfahrungen können ihre Entwicklung fördern und ihre Resilienz stärken – vor allem, wenn sie konstruktiv eingeordnet und fürsorgend begleitet werden.

Vom Kind aus zu reflektieren, heißt aber auch, aktuelle Kinder- und Jugendkulturen bezogen auf Medien mit zu berücksichtigen. Kinder haben Zugang zu niederschwellig zugänglichen True-Crime-Inhalten auf wenig regulierten Plattformen wie TikTok. Sie nutzen True Crime auch als Unterhaltungsformate, da diese ein Teil der Kinder- und Jugendkultur sind. Näher zu untersuchen wäre, inwieweit gerade diese Formate auf sozialen Medien Bezüge zur Lebenswelt von Heranwachsenden oder eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Entwicklungsthemen (Umgang mit Ohnmacht, Angst etc.) erlauben und wie sich dies auf die Rezeption von True-Crime-Formaten im Fernsehen auswirkt.
 

Kinder haben das Recht, in wesentlichen sie betreffenden Angelegenheiten angehört und an den Prozessen beteiligt zu werden.

Kinder als handelnde Subjekte und Expert*innen ihrer Lebenswelt anzuhören, sollte Grundlage neuer Regulierungsansätze und Bildungsangebote sein. Auch der Prozess einer Programmbewertung ist offener, wenn die Sichtweisen von Kindern als handelnden Subjekten einbezogen werden. Partizipation liegt dabei „im Spannungsfeld zwischen Offenheit und vorgegebenen Strukturen“ (Stapf u. a. 2022, S. 53). Offenheit kann gefördert werden, wenn das Verhältnis zur Forschung (in diesem Fall die Erweiterung von Kriterien für die Prüfpraxis) als kollektives Lernen verstanden wird (Kindler 2016, S. 83). Die Statements von Kindern und Jugendlichen zu exemplarischen Szenen im JFF-Teilprojekt (vgl. die empirische Befragung im JFF-Teilprojekt, Achim Lauber in dieser Ausgabe, S. 74 ff.) geben dabei einen ersten Einblick zu Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen im Themenfeld und verweisen darauf, wie wichtig weitere Vertiefungen dieser Art zukünftig werden, um die Regulierung vom Kind aus weiter voranzutreiben.
 

Die bisherigen Kriterien der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) decken das Genre weitgehend ab.

Neben den bisher berücksichtigten Fragen der übermäßigen Angsterzeugung, sozialethischen Desorientierung und der meist weniger stark relevanten Frage der Gewaltbefürwortung stellen sich vor allem Fragen der Menschenwürde mit Blick auf identifizierbare Leichen, menschliche Leichenteile, die Brutalität von Taten in ihrer eindringlichen Beschreibung mit voyeuristischen Tendenzen und vorrangig die Frage der Menschenwürde betroffener Kinder als Opfer und bezogen auf ihr Recht auf eine offene Zukunft. Für das Themenfeld wurden anhand von Fallbeispielen aus dem Bereich „True Crime“ ethische Reflexionskriterien erarbeitet, die für die Prüfpraxis, aber auch für die Bestimmung von Good Practice herangezogen werden können.
 

Literatur:

Harms, J.: Rezeption und Kritik von True Crime. Perspektiven auf Verbrechen 2. In: Medienradar, 11/2021. Abrufbar unter: https://www.medienradar.de

Kindler, H.: Ethische Fragen in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen zu sexueller Gewalt: Ein Überblick. In: C. Helfferich/B. Kavemann/H. Kindler (Hrsg.): Forschungsmanual Gewalt. Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt. Wiesbaden 2016, S. 69–100

Meitzler, M.: Mediatisierung des Todes. Die Leiche zwischen Unsichtbarkeit und Medienpräsenz. In: J. Reichertz/M. Meitzler/C. Plewnia (Hrsg.): Wissenssoziologische Medienwirkungsforschung. Zur Mediatisierung des forensischen Feldes. Weinheim/Basel 2017, S. 111–146

Stapf, I.: Zwischen Selbstbestimmung, Fürsorge und Befähigung: Kinderrechte im Zeitalter mediatisierten Heranwachsens. In: I. Stapf/M. Prinzing/N. Köberer (Hrsg.): Aufwachsen mit Medien. Zur Ethik mediatisierter Kindheit und Jugend. Baden-Baden 2019, S. 69–84

Stapf, I.: Das Recht auf eine offene Zukunft. Kinderschutz in der Online-Welt am Beispiel von Privatheits- und Sicherheitsgefährdungen. In: Datenschutz und Datensicherheit, 46/2022, S. 339–345. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1007/s11623-022-1616-5

Stapf, I./Bieß, C./Heesen, J. u. a.: Zwischen Fürsorge und Forschungszielen. Ethische Leitlinien für die Forschung mit Kindern zu sensiblen Themenbereichen. Tübingen 2022. Abrufbar unter: https://netzwerk-medienethik.de