#meinfernsehen2021

Bürgerbeteiligung: Wahrnehmungen, Erwartungen und Vorschläge zur Zukunft öffentlich-rechtlicher Medienangebote

Frauke Gerlach, Christiane Eilders (Hrsg.)

Baden-Baden 2022: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 99-100

Vollständiger Beitrag als:

Bürgerbeteiligung und öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist seit einigen Jahren Thema von (Medien‑)Politiker:innen, Journalist:innen und Fachleuten aus der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Bürger:innen werden eher selten zu ihren Vorstellungen und Wünschen befragt. Offenbar hat die Coronapandemie dabei geholfen, dies nun zu ändern. So fand der ARD-Zukunftsdialog ebenso statt wie die NDR-Dialogwoche, und es fand sich ein Konsortium aus der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), dem Grimme-Institut und dem Düsseldorfer Institut für Internet und Demokratie (DIID) an der Heinrich-Heine-Universität zusammen, um die Partizipationsplattform #meinfernsehen2021 zu initiieren und auszuwerten. Die Ergebnisse werden, ergänzt durch einige Fachbeiträge, im vorliegenden Buch vorgestellt. Von den 637 Personen, die sich an der Diskussion beteiligten, wurden 9.793 Bewertungen durch Likes oder Dislikes abgegeben, sie hinterließen 3.924 Kommentare und formulierten 107 Vorschläge für Veränderungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (vgl. S. 31).

Die Personen waren mehrheitlich Männer, älter und hatten eine formal höhere Bildung. Das führt zwangsläufig zu einer Verzerrung der Ergebnisse, die einerseits als nicht repräsentativ für die Bevölkerung gesehen werden können und andererseits in ihren kulturellen Mustern von Bewertung und Distinktion gefangen bleiben, wie Gerd Hallenberger in seinem Beitrag zum Wert der Unterhaltung sehr schön verdeutlicht. So müssen auch die vielen Vorschläge zur Verbesserung der Programme mit Vorsicht betrachtet werden, denn neben sozialer Erwünschtheit in den Antworten muss man auch von selektiver Wahrnehmung der Teilnehmenden ausgehen. Vieles, was nach Meinung der Teilnehmer:innen angeblich nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorkommt, findet sich sehr wohl in den Programmen, läuft aber offenbar unter dem Radar der Befragten.

Ein sicher wichtiger Befund, der sich aus den Diskussionen auf der Plattform ergibt, ist, dass es bei den Teilnehmenden offensichtlich große Wissenslücken zu den gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt. So lassen sich allein aufgrund der gesetzlichen Regelungen einige Vorschläge der Befragten nicht realisieren, wie Anna Soßdorf und Viviana Warnken sehr anschaulich in ihrem Beitrag zur Rolle der Medienbildung zeigen (vgl. S. 151 ff.).

So sehen auch einige Befragte Unterhaltung nicht als Teil des Programmauftrags. Überhaupt kommt Unterhaltung schlecht weg. Soßdorf und Warnken stellen dazu fest:

Es ist also zu differenzieren zwischen Personen, die nicht um den Unterhaltungsauftrag wissen, und Teilnehmer:innen, denen die Unterhaltungsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zwar bewusst ist, die diese jedoch nicht mehr für zeitgemäß halten“ (S. 149).

Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist die nach den jungen Zuschauenden. Da nicht viele Jugendliche auf der Plattform aktiv waren, wurden zusätzlich vom SINUS-Institut 19 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren befragt. Die zentralen Fragen orientierten sich an den Themen aus den Beteiligungsrunden der Plattform #meinfernsehen2021. Dabei wurden auch sogenannte bildungsferne Jugendliche berücksichtigt. Die Affinität zum klassischen, linearen Fernsehen ist gering, dennoch „möchte es niemand ‚abschaffen‘“ (S. 187). Denn es ist als gemeinsame Aktivität mit Familie und Freunden wichtig. Allerdings bevorzugen sie einen Onlinezugang zu den Inhalten, auch wenn sie die Mediatheken kaum nutzen. Für die Jugendlichen, die mit einer Vielfalt an klassischen Massenmedien, sozialen Medien und Streamingdiensten aufwachsen, gehört Medienkonvergenz gewissermaßen zum Alltag. Aus diesem Alltag heraus entwickeln sie dann auch ihre Vorstellungen vom Fernsehen der Zukunft:

Jugendliche sind der Meinung, dass sich das Fernsehen stärker an seinen Zuschauer:innen ausrichten muss. Idealerweise werden die Zuschauer:innen nicht als Rezipient:innen begriffen, sondern als Community, die mit den Redaktionen/Fernsehmacher:innen im regelmäßigen Austausch steht“ (S. 194).

Informativ und instruktiv sind die Fachbeiträge von Frauke Gerlach zum Wandel von Gesellschaft und Öffentlichkeit, von Karl-Nikolaus Peifer zu den gesetzlichen Grundlagen der Rundfunkfinanzierung, von Christoph Bieber zur Aufgabe der Rundfunkräte, sich stärker mit Innovationen und dem (digitalen) Wandel zu befassen, und die Überlegungen von Christoph Neuberger zur Plattformisierung der Medien und der möglichen Entwicklung öffentlich-rechtlicher Plattformen, für die dann auch eine Neukonzeption des Auftrags notwendig wäre. Hierfür definiert Neuberger acht Aufgabenbereiche (vgl. S. 105 f.).

Insgesamt wird in dem Buch deutlich, welche Mängel die Teilnehmenden der Plattform #meinfernsehen2021 beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk sehen. Ein wichtiger Kritikpunkt ist die mangelnde Transparenz, sowohl in der Programmgestaltung als auch bei den Aufsichtsgremien. Zugleich werden die Vor- und Nachteile derartiger Beteiligungsverfahren deutlich. Es werden zahlreiche Kritikpunkte formuliert, die aber mit Vorsicht zu genießen sind – nicht nur aufgrund der bereits erwähnten Wissenslücken, sondern auch, weil es im „Spannungsfeld zwischen Selbstinteresse und Gemeinwohlorientierung“, das Habermas für politische Entscheidungen der Bürger:innen in der Demokratie als wichtig erachtet, wie Frauke Gerlach in ihrem Beitrag hervorhebt (S. 41), bei #meinfernsehen2021 anscheinend doch eher in Richtung Selbstinteresse zu gehen scheint. Das mag auch an der Mehrheit der älteren, männlichen, besser gebildeten Teilnehmer liegen. Es wird aber auch deutlich, dass solche Beteiligungsverfahren zwar Mängel aus Sicht des Publikums aufzeigen können, die Lösungen dann aber doch in der Hand von Expert:innen liegen sollten, die (hoffentlich) keine Wissenslücken zu den strukturellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben und eine umfassende Programmkenntnis aufweisen. Es ist den Herausgeberinnen und Autor:innen hoch anzurechnen, dass die Vor- und Nachteile von #meinfernsehen2021 offen angesprochen und diskutiert werden.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos