Moderne Einsamkeiten, televisuelle Gemeinschaften

Wie Fernsehserien die Gesellschaft zusammenhalten

Denis Newiak

Dr. Denis Newiak ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Angewandte Medienwissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den gemeinschaftsstiftenden Funktionen von Fernsehserien, dem in Science-Fiction-Filmen und Serien enthaltenen Zukunftswissen und Ausdrucksformen moderner Einsamkeit in Film und Fernsehen.

Seit Beginn der TV-Ära und noch bis Anfang der 1990er-Jahre galt das Fernsehen als eine Art „Vereinsamungsmaschine“: Fernsehende würden vor ihren Fernsehgeräten nicht mehr miteinander reden, den Anschluss an die außermediale Realität verlieren und sich psychologisch isolieren. An die Stelle dieser fernsehkritischen Vorbehalte sind in der jüngeren Vergangenheit (nicht zuletzt durch das Aufkommen von Quality-TV-Serien und eine intensivere Fernsehforschung) überwiegend positivere Grundhaltungen getreten, die die vergemeinschaftenden Funktionen von Fernsehserien in den Mittelpunkt rücken: Im Forschungsdiskurs setzen sich zunehmend Konzepte durch, die die vielfältigen Funktionen von Vergemeinschaftung durch Formen televisueller Serialität betonen und die vereinsamenden Effekte als vernachlässigbar betrachten. Der Beitrag gibt einen Überblick der wichtigsten Diskurslinien zu den vergemeinschaftenden Modi von Fernsehserien in Zeiten zunehmender Vereinsamung in den modernen Gesellschaften.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 46-51

Vollständiger Beitrag als:

Die Frage nach den Ursachen und Effekten von Vereinsamung in modernen Gesellschaften ist von zunehmender Relevanz: Laut Deutschland-Barometer Depression von 2023 (Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention) fühlt sich ein Viertel aller Erwachsenen in Deutschland sehr einsam – häufig mit der Folge ernsthafter psychischer Erkrankungen. Einer aktuellen Studie des Progressiven Zentrums nach sind Jugendliche von chronischen Einsamkeitserfahrungen sogar noch stärker und häufiger betroffen, wobei unter denjenigen mit besonders starkem Einsamkeitserleben auch antidemokratische Einstellungen und die Zustimmung zu Verschwörungserzählungen signifikant häufiger zu beobachten sind (Neu u. a. 2023). Gerade im Zeitalter neuartiger Medientechniken wie „Social Media“ und des wachsenden Einflusses künstlicher Intelligenz sowie vor dem Hintergrund der Coronapandemie, der sich zuspitzenden Klimakrise und Kriegserfahrungen drängt sich das Problem der Einsamkeit heute immer stärker auf: Ohnmachtsgefühle angesichts des hohen Veränderungstempos in der Gesellschaft und die wachsenden Unsicherheitserfahrungen verstärken das individuelle Einsamkeitserleben nur noch weiter. Diese modernen Einsamkeiten werden zur gesellschaftlichen Zerreißprobe, wenn sich keine Ansätze zu ihrer Verhandlung und Bewältigung finden lassen (vgl. Newiak 2022a).

Ein Blick in die Serienlandschaft der letzten Jahre zeigt, dass das Problem der modernen Einsamkeit von einem einstigen Nischenthema längst zu einem zentralen Anliegen vieler Fernsehwelten geworden ist – ganz besonders in TV- und Streamingserien, die sich an eine junge Zielgruppe richten und präferiert von Jugendlichen gesehen werden. Zeigen die einst dominanten Serienformate wie etwa die Sitcom überwiegend funktionale Gemeinschaften, denen alles in allem nichts Schlimmeres widerfahren kann, als innerhalb der Spielzeit einer Episode bewältigt werden könnte – man denke nur an Friends (USA 1994–2004) oder The Simpsons (USA seit 1989) –, tendieren neuere Serien des Quality-TV eher zur Repräsentation sozialer Dysfunktionen und damit von Einsamkeit in ihren verschiedensten Spielarten. Ob Bates Motel (USA 2013–2017), The End of the F***ing World (GB 2017–2019) oder Dark (D/USA 2017–2020): Genre- und kulturübergreifend und dabei z. T. überraschend konkret zeigen jüngste Serienwelten ein Universum junger Figuren, die in ihren hochmodernen Welten zwischen zerbröselnden Familien, exzessivem Konsum von Internetdiensten und wachsender Zukunftsungewissheit orientierungs- und beziehungslos erscheinen – oder um es mit dem Jugendwort des Jahres 2020 zu sagen: Sie sind „lost“.
 

Trailer The End of the F***ing World (Netflix, 25.11.2019)



Fernsehserien repräsentieren die Faktoren moderner Vereinsamung durch ihre dichte televisuelle Ästhetik auch jenseits der narrativen Ebene, finden intensive bildliche und klangliche Ausdrucksformen, Dramaturgien und Requisiten, die das sonst unkörperliche Problem moderner Einsamkeit anschaulich, affektiv nachempfindbar und damit diskursiv verhandelbar machen (vgl. Newiak 2022b). Doch welche Rolle spielen in diesem Prozess moderner Vereinsamung die Medien selbst? Ist etwa das Fernsehen nur ein Repräsentationsmittel, in dem sich die modernen Ausdrucksformen von Einsamkeit artikulieren? Leistet das Fernsehen vielleicht sogar seinen eigenen Beitrag dazu, dass wir vor den Bildschirmoberflächen immer einsamer werden? Oder sind nicht gerade Fernsehserien das Medium, durch das wir die modernen Einsamkeiten unserer Zeit besser durchstehen können?
 

Das Fernsehen als Einsamkeitsmaschine?

Die Frage nach der Einsamkeit im Kontext der Mediennutzung ist so alt wie die Mediengeschichte selbst. Als etwa die Romanliteratur als Gattung „populär“ wurde, befürchtete so mancher, die Lesenden könnten durch die Einsamkeit der Lektüre in den fiktionalen Wirklichkeiten versinken und die Anbindung an die gesellschaftliche Realität verlieren. Das Bewusstsein dafür, dass gerade der Roman durch seine zunehmend breite Zugänglichkeit in der Bevölkerung und die in ihm verhandelten Alltagsthemen einen wichtigen Faktor bei der Demokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft darstellte, hat lange auf sich warten lassen. Fiktionen scheinen zu jedem Zeitpunkt der Kulturentwicklung eine zentrale Rolle zu spielen, da sie durch ihre konkrete unmittelbare Ausdrucksform der (an sich abstrakten und damit zunächst unbeobachtbaren) Gesellschaft Orientierung verschaffen und dem Einzelnen seinen Platz im Großen und Ganzen des Sozialen weisen. Esposito etwa beschreibt am Beispiel des Romans, dass gerade fiktionale Texte einen „realitätsnäheren“ Zugang zur unübersichtlichen Gesellschaft mit ihren z. T. schwer fassbaren Phänomenen und Zusammenhängen leisten können: Sie würden den Lesenden gestatten, „sich […] in der realen Welt und der Komplexität ihrer Beziehungen besser bewegen“ zu können (Esposito 2014, S. 56), indem sie Gesellschaft „beobachtbar“ und damit „realistisch“ werden lassen. In ähnlicher Form sprechen Kappelhoff und Streiter von der Kunstform Kino, „das die Gesetze und Bedingungen, die Gewalten und die Notwendigkeiten, die das gesellschaftliche Leben durchherrschen und konstituieren, als ein individuell-leibliches, leibhaftes In-Gemeinschaft-Sein in Szene setzt“ (Kappelhoff/Streiter 2012, S. 11). Sie führen dem Individuum also vor, dass es Teil von etwas Größerem ist – und damit nie wirklich allein.

Ein solcher Diskurs zwischen Vereinsamung und Vergemeinschaftung durch das Mediale lässt sich auch im Kontext des Fernsehens zeigen. Als in den 1950er- und 1960er-Jahren das Fernsehen in den Industrienationen rasant an Bedeutung gewann und schnell zum einflussreichsten Mediensystem wurde, war die Angst vor den potenziell vereinsamenden Effekten des Fernsehens groß, die Kulturkritik in Aufruhr angesichts dieses beängstigenden „Einsamkeitsgenerators“, der die letzte Brandmauer gegen die totale moderne Einsamkeit – die rettende Gemeinschaft der häuslichen Kernfamilie – zu zerreiben drohte. Günther Anders etwa sah mit dem Fernsehen eine neue Ausprägung der Vermassung einsetzen, die sich „solistisch“ vollziehen würde. Handelte es sich beim Kino wenigstens noch um einen „kollektive[n] Konsum“, würde das Fernsehen nun den „Massen-Eremiten“ hervorbringen – „in Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem anderen gleich […]“ (Anders [1956] 1979, S. 102). Auch Adorno hatte sich zeitig skeptisch zum Fernsehen geäußert, als er sah, wie „die Familienangehörige[n] und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüßten, stumpfsinnig sich versammeln“, um die „angeblich gemeinschaftsbildende Wirkung der Apparate“ zu finden – und dann natürlich doch (ganz in marxistischer Tradition) nur „Entfremdung“ erleben würden (Adorno 1953, S. 4 f.).
 


Leistet das Fernsehen vielleicht sogar seinen eigenen Beitrag dazu, dass wir vor den Bildschirmoberflächen immer einsamer werden? Oder sind nicht gerade Fernsehserien das Medium, durch das wir die modernen Einsamkeiten unserer Zeit besser durchstehen können?“



Diese beliebig fortsetzbare Sammlung pessimistischer Haltungen zum jungen Fernsehen muss natürlich auch im historischen Kontext gesehen werden: Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Unruhen in den 1960er-Jahren und der zunehmenden Gewalt vor allem unter Jugendlichen insbesondere in den USA drängte sich ein Zusammenhang mit den seinerzeit noch ungewohnten Brutalitätsdarstellungen im Fernsehen auf, auch wenn trotz groß angelegter (z. T. von der Regierung finanzierter) Studien keine (monokausalen) Zusammenhänge identifiziert werden konnten (vgl. Signorielli 2005). Medienpsycholog*innen hatten zeitig darauf hingewiesen, dass einseitige Anlastungen dem Fernsehen gegenüber ungerechtfertigt seien, da die relevanten sozialisierenden Einflussfaktoren in modernen Gesellschaften zu vielfältig und damit kaum isoliert abbildbar seien (vgl. Gerbner/Gross 1976).

Inzwischen ist der Blick auf das Fernsehen differenzierter, seit Anfang der 2000er-Jahre hat sich das Vorurteil seiner vereinsamenden Wirkung weitestgehend abgebaut. Das hängt sicherlich auch mit dem großen Qualitätssprung zusammen, den insbesondere Fernsehserien als die dominante fiktionale Form der linearen Programmgestaltung hingelegt haben und längst als eigene Kunstform ausgewiesen sind. So wie auch die Romane einen langen Weg gehen mussten, bis sie sich im 19. Jahrhundert zu einer eigenen anerkannten Kunstgattung entwickelten, konnten erst die Fernsehserien der jüngeren Vergangenheit unter Beweis stellen, welches Potenzial an narrativer Komplexität, ästhetischer Dichte und dramaturgischer Virtuosität im Medium steckt (vgl. Nesselhauf/Schleich 2014). Fernsehserien von heute wenden sich in besonders expliziter Form unerwünschten sozialen Entwicklungen zu und geben ihnen eine anschauliche Gestalt. Dellwing und Harbusch (2015, S. 10) schreiben daher über die neuen „Qualitätsserien“: „Die moderne Kult(ur)serie verlässt die klassisch schwarz-weiße Idealismusform der Serie, in der die Gesellschaft letztlich genauso funktioniert, wie sie vorgibt zu funktionieren, die Institutionen genau das tun, was sie nach außen als Ziel kommunizieren, und die Personen in ihnen aufrichtig und ehrenhaft sind“. Stattdessen dominieren in den Serien des Quality-TV regelmäßig Ausdrucksformen moderner Vereinsamung, die sich in ihren vielfältigen televisuellen Dimensionen artikulieren – und weisen zugleich Wege auf, wie man sich vor den modernen Einsamkeiten retten könnte.

Besonders anschaulich lässt sich das am Beispiel der kontrovers diskutierten Netflix-Serie 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht, USA 2017–2020) zeigen. Äußerlich führt die Jugendserie in jeder ihrer vier Staffeln aufs Neue durch Narrativ, Inszenierung, dramaturgische Gestaltung und Klangästhetik der Serienwelt eindrücklich vor, wie die jeweilige jugendliche Hauptfigur einen Leidensweg der Vereinsamung durchläuft, der wahlweise in Drogensucht, Psychosen, Amok oder Selbstmord mündet. Die Serie spielt immer wieder durch, wie sich für die Jugendlichen inmitten überforderter und abwesender Eltern und Lehrer*innen, zwischen exzessiver Sexualisierung ihres Alltags, geplagt von Gewalterfahrungen und finanziellen Problemen allmählich alle bedeutungsvollen Sozialbeziehungen schrittweise auflösen und sie schließlich die Hoffnung verlieren, in dieser Welt ihren Platz zu finden – manchmal sogar: überhaupt in ihr bestehen zu können. In der sehr erfolgreichen und gerade unter Jugendlichen besonders beliebten ersten Staffel zeichnet die Serie etwa den Leidensweg der Highschool-Schülerin Hannah Baker nach, die nach einer Aneinanderreihung verstörender Erfahrungen vor ihrem Suizid auf Kassettenbändern die „13 Reasons Why“ dokumentiert, die zu ihrer fatalen Entscheidung geführt hätten. Nach ihrem Tod zirkuliert die Kassettenserie – den konkreten Vorgaben ihrer Autorin entsprechend – unter den zurückgebliebenen Jugendlichen und führt ihnen ihr manchmal mehr, manchmal weniger schwerwiegendes Fehlverhalten vor.

13 Reasons Why: Tape 4, Side A: "Let me tell you about being lonely" (Denis Newiak, 19.02.2018)




Die Gemeinschaften des seriellen Fernsehens

Äußerlich betrachtet zeigt sich eine Verkettung immer neuer und erschütternderer Einsamkeitserfahrungen, die in ihrer Kumulation zu Hannahs Gefühl totaler Vereinsamung und damit in die Selbsttötung führen (vgl. Newiak 2020). Dabei lässt die Fiktion auch kein gutes Haar an einem anderen Medium, in das man vor nicht allzu langer Zeit noch die Hoffnung gelegt hatte, es könnte die Menschen wieder näher zueinanderführen: Gemeint ist das Internet mit all seinen neuartigen Spielarten, das als verheißungsvolle virtuelle Gemeinschaft ein Motor gegen die vereinsamenden Effekte moderner Gesellschaften sein könnte. In den Jugendserien und ganz besonders in 13 Reasons Why aber führen die Smartphones und sogenannten „sozialen“ Medien nicht zusammen, sondern durch ihr Potenzial ständiger Beobachtung, Verunglimpfung und Nachstellung in immer tiefere Einsamkeit, aus der sich die Jugendlichen kaum mehr aus eigener Kraft retten können.

Vielmehr aber scheint sich die Serie dafür zu interessieren, wie es am Ende ausgerechnet die serielle Kassettenerzählung von Hannah ist, die die jungen Leute – nach einer Odyssee immer neuer Einsamkeiten, die auf sie einwirken – doch wieder zu einer widerstandsfähigen Gemeinschaft zusammenwachsen lässt. Dabei spielt die Serie die vielfältigen vergemeinschaftenden Funktionen von Fernsehserien im Allgemeinen durch, die sich hier in einem selbstreflexiven Spiel anhand der Kassettenserie veranschaulichen (vgl. Newiak 2021):

  • Fernsehserien machen durch die gezeigte Interaktion ihrer Figuren gesellschaftliche Verursachungsbeziehungen anschaubar und führen durch ihren seriellen Charakter die Wirkungen von Individualentscheidungen vor (vgl. Engell 2012). Erst dadurch erscheint dem Fernsehenden auch das Handeln in einem realweltlichen sozialen Kontext beeinfluss- und gestaltbar. Anhand von Hannahs Tapes können die Figuren, so wie die Fernsehzuschauenden selbst, nachvollziehen, dass individuelles Verhalten, das im Alltag häufig bedeutungslos erscheint, in einem Gemeinwesen immer absehbare und unabsehbare Konsequenzen nach sich zieht, am Ende also alle aufgrund ihrer unsichtbaren Kausalbeziehungen zueinander aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind.
  • Fernsehserien treten durch die Ausverhandlung gegenwärtiger Lebenssituationen als gesellschaftlicher Modernisator auf, stellen also den Fernsehenden neue Verhaltensangebote für das Reagieren auf ungewohnte Alltagsherausforderungen zur Verfügung und erlauben, dass sie im realen Kontext erprobt werden können (vgl. Hickethier 2008). Während die Jugendlichen von 13 Reasons Why in ihrer fernsehlosen Welt mit immer neuen kritischen Lebenssituationen konfrontiert werden, für die sie selbst keine guten Vorbilder oder Handlungsoptionen finden, können die Jugendlichen (und Erwachsenen) vor dem Bildschirm im Spiel der seriellen Fiktion ein Repertoire an Verhaltensweisen aufbauen, das sich dann im „echten“ Leben bewähren kann.
  • Televisuelle Serialität tritt als dynamischer Bedeutungs- und Wahrheitslieferant auf, indem Grenzen zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Realität und Rationalität ausgekundschaftet werden. Sie trägt damit zur gesellschaftlichen Kohäsion bei, indem sie fragt, was als wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, richtig und falsch verstanden wird (vgl. Keppler 2015). So wie die Figuren um Hannah Baker erst dechiffrieren müssen, wie sich die Erzählung ihrer Schulkameradin zwischen Fiktion und Realität in ihre individuelle Erfahrung der Lebenswirklichkeit einordnen lässt, führt auch die Fernsehserie dem Publikum vor, dass gerade (Fernseh‑)Fiktionen, ganz im Sinne Espositos, manchmal mehr über die gesellschaftliche Realität zu sagen haben als Medien, die selbst einen hohen Authentizitäts- und Realitätsanspruch an sich stellen und ihn dann nicht einlösen können.
  • Televisuelle Serialität produziert häufig Kultphänomene, um die herum post- und neoreligiöse Fangemeinschaften entstehen, die zu einem dichten Wahrheitsverständnis führen, das soziale Bindungskräfte auch jenseits der fiktiven (Serien‑)Welt erzeugt (vgl. Hills 2002). Auch die jungen Leute von 13 Reasons Why fühlen sich von Hannahs Kassettenserie in den Bann gezogen, die durch ihre konkreten Rezeptionsregeln, die repetitive, serielle Lektüre und den mythischen Charakter der Erzählungen kultisch aufgeladen wird, so wie sich auch um die Fernsehserie selbst eine große Fangemeinschaft gebildet hat, für die Hannahs Geschichte längst Kultstatus hat.
  • Televisuelle Serialität stiftet gesellschaftliche Zeit- und Ordnungsregime, indem sie einen ritualisierten Mediengebrauch forciert, selbst Fragen der sozialen Zeitordnung durchspielt und so zur makrosozialen Handlungskoordination beiträgt (vgl. Neverla 2010). In 13 Reasons Why steuert die Kassettenrezeption den Alltagsrhythmus der Figuren, so wie auch für viele Fernsehende die Serienrezeption die eigene Alltagsgestaltung mitbestimmt, egal ob in Form des Konsums auf dem Smartphone im Zug oder als obligatorische Folge zum Abendessen. Wenn auch der Mediengebrauch am Ende häufig allein stattfindet, sind die Fernsehenden durch die geteilte Zeitordnung unsichtbar miteinander verbunden.
  • Schließlich produzieren Fernsehserien durch die enge Bindung zu den regelmäßig auftretenden lebensnahen Figuren intensive parasoziale Beziehungen, die einerseits selbst als Gemeinschaft wahrgenommen werden und zugleich auf die Ausübung realweltlicher Gemeinschaftsbildung abstrahlen. Es verwundert daher nicht, dass Fernsehende eine Art „Trennungsschmerz“ oder gar „Trauer“ erleben, wenn ihre Lieblingsserie endet (vgl. Eyal/Cohen 2006). Auch die Figuren von 13 Reasons Why beerdigen am Ende der letzten Staffel in einem bedeutungsschweren symbolischen Akt Hannahs Tapes erst dann, als sie wieder gelernt haben, in der realen Welt füreinander da zu sein.

Die Fernsehmachenden von 13 Reasons Why mussten sich nach der Veröffentlichung ihrer ersten Staffel dem Vorwurf stellen, ihre Serie würde Suizide glorifizieren und damit sogar selbstverletzendes Verhalten unter Jugendlichen forcieren – ganz im Sinne des sogenannten „Werther-Effekts“, nach dem Selbstmord-Fiktionen in der Folge häufig zu einem Anstieg von Selbstmorden in der Bevölkerung führen würden. Vor dem Hintergrund der vielfältigen potenziell gemeinschaftsstiftenden Funktionen, die Fernsehserien für sich beanspruchen können und derer sich auch die Macher*innen von 13 Reasons Why offenkundig bewusst waren, kann sicherlich diskutiert werden, ob die nützlichen oder schädlichen Effekte dominieren und ob sich das überhaupt fundiert entscheiden lässt (vgl. Newiak/Schnitzer 2022).

Die Mediengeschichte jedenfalls hat gelehrt, dass es seine Zeit braucht, bis Gesellschaften die Wirkungsweise ihrer dominanten Mediensysteme und damit auch deren Beitrag zur Vereinsamung und Vergemeinschaftung durchschauen. Einst als „Einsamkeitsmaschinen“ gebrandmarkte Medien rehabilitieren sich als Systeme der Gemeinschaftsgenerierungen, während andere Mediensysteme, in die viel Hoffnung auf mehr Nähe und Verbundenheit gesteckt wurde, sich mitunter als Einsamkeitsapparaturen entpuppen. Am Ende sind Mediensysteme beides: Sie sind vereint durch unseren zwangsläufig immer individuellen und subjektiven Konsum ihrer Wirklichkeitsangebote, der Einsamkeitsgefühle verstärken kann, und erlauben zugleich einen vielfältigen Zugang zur Gesellschaft, deren ungeschriebenen Gesetzen, unsichtbaren Strukturen und ordnenden Mechanismen. Selbst wenn wir ganz allein vor dem Bildschirm sitzen, sind wir durch Medien mit unseren Mitmenschen verbunden. Insbesondere das Fernsehen als eines der immer noch sehr einflussreichen Mediensysteme und die Fernsehserie im Speziellen leisten dabei weiterhin einen entscheidenden Beitrag dazu, dass moderne Gesellschaften nicht auseinanderfallen.
 

Literatur:

Adorno, T. W.: Prolog zum Fernsehen. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/1953, S. 1–8

Anders, G.: Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen. In: G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München [1956] 1979, S. 97–211

Dellwing, M./Harbusch, M.: Vergemeinschaftung in Zeiten der Distinktion: Fantastische Andere und transgressives Fernsehen. In: M. Dellwing/M. Harbusch (Hrsg.): Vergemeinschaftung in Zeiten der Zombie-Apokalypse. Gesellschaftskonstruktionen am fantastischen Anderen. Wiesbaden 2015, S. 7–20

Engell, L.: Folgen und Ursachen. Über Serialität und Kausalität. In: F. Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 241–258

Esposito, E.: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main 2014

Eyal, K./Cohen, J.: When good Friends say goodbye: A parasocial breakup study. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media, 3/2006/50, S. 502–523

Gerbner, G./Gross, L.: Living With Television: The Violence Profile. In: Journal of Communication, 2/1976/26, S. 172–199

Hickethier, K.: Fernsehen, Rituale und Subjektkonstitution. Ein Kapitel Fernsehtheorie. In: K. Fahlenbrach/I. Brück/A. Bartsch (Hrsg.): Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien. Wiesbaden 2008, S. 47–57

Hills, M.: Fan Cultures. London/New York 2002

Kappelhoff, H./Streiter, A.: Zur Einführung. In: H. Kappelhoff/A. Streiter (Hrsg.): Die Frage der Gemeinschaft. Das westeuropäische Kino nach 1945. Berlin 2012, S. 7–20

Keppler, A.: Das Fernsehen als Sinnproduzent. Soziologische Fallstudien. Berlin/München/Boston 2015

Nesselhauf, J./Schleich, M.: „Watching Too Much Television“ – 21 Überlegungen zum Quality-TV im 21. Jahrhundert. In: J. Nesselhauf/M. Schleich (Hrsg.): Quality-Television. Die narrative Spielwiese des 21. Jahrhunderts?!. Berlin 2014, S. 9–24

Neu, C./Küpper, B./Luhmann, M./Deutsch, M./Fröhlich, P.: Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland. Berlin 2023. Abrufbar unter: www.progressives-zentrum.org (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Neverla, I.: Medien als soziale Zeitgeber im Alltag: Ein Beitrag zur kultursoziologischen Wirkungsforschung. In: M. Hartmann/A. Hepp (Hrsg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt. Wiesbaden 2010, S. 183–194

Newiak, D.: Telemediale Narrative und Ästhetiken spätmoderner Vereinsamung am Beispiel von 13 Reasons Why. In: F. Krauß/M. Stock (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden 2020, S. 65–94

Newiak, D.: Fernsehserien gegen spätmoderne Einsamkeiten: Formen telemedialer Vergemeinschaftung am Beispiel von „13 Reasons Why“. In: D. Newiak/D. Maeder/H. Schwaab (Hrsg.): Fernsehwissenschaft und Serienforschung. Theorie, Geschichte und Gegenwart (post‑)televisueller Serialität. Wiesbaden 2021, S. 103–157

Newiak, D.: Die Einsamkeiten der Moderne. Eine Theorie der Modernisierung als Zeitalter der Vereinsamung. Wiesbaden 2022a

Newiak, D.: Einsamkeit in Serie. Televisuelle Ausdrucksformen moderner Vereinsamung. Wiesbaden 2022b

Newiak, D./Schnitzer, A.: Funktionen informeller Bildung, Aufklärung und Gemeinschaftsbildung durch Fernsehserien am Beispiel von 13 Reasons Why. In: G. Marci-Boehncke/M. Rath/M. Delere/H. Höfer (Hrsg.): Medien – Demokratie – Bildung. Normative Vermittlungsprozesse und Diversität in mediatisierten Gesellschaften. Wiesbaden 2022, S. 191–209

Signorielli, N.: Violence in the Media: A Reference Handbook. Santa Barbara 2005

Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention: Deutschland-Barometer Depression 2023. In: www.deutsche-depressionshilfe.de, 09.11.2023. Abrufbar unter: www.deutsche-depressionshilfe.de (letzter Zugriff: 15.06.2024