Mythen sexualisierter Gewalt – Sichtweisen junger Menschen

Tom Fixemer, Anja Henningsen, Tanja Rusack, Elisabeth Tuider

Dieser Beitrag setzt an der Erkenntnis an, dass Fach- und gesellschaftliche Debatten zu sexualisierter Gewalt diverse Sexualitätsmythen enthalten. Es wird untersucht, wie diese Mythen in den Sichtweisen junger Menschen auf Gewalt und Sexualität diskursiviert werden.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 56-61

Vollständiger Beitrag als:

Die feministische Frauen- und Geschlechterforschung weist seit Anfang der 1970er-Jahre darauf hin, dass Geschlechterverhältnisse strukturelle Verhältnisse sind und sexualisierte Gewalt immer als strukturelle Gewalt und nicht als individuelles Widerfahrnis zu begreifen ist (vgl. Brownmiller 1978; Hagemann-White 1992). Wegweisend hat Brownmiller (1978) deutlich gemacht, dass Vergewaltigung nichts mit Sexualität zu tun hat und es sich bei sexualisierter Gewalt um Gewalt auf dem Terrain von Sexualität handelt. Mit der Zurückweisung dieses Sex-Mythos (Männern gehe es bei Vergewaltigung um Sex) wurde auch die in der Viktimologie (seit den 1940er-Jahren) verbreitete Auffassung, dass Vergewaltigung ein durch das Opfer verursachtes Verbrechen sei, kritisiert. In den Queer und Trans* Studies geriet in den letzten Jahren die auch in aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten vorherrschende geschlechterbinäre Täter-Opfer-Konstruktion im Feld der sexualisierten Gewalt in den Blick (vgl. Tuider 2020).
 


Vergewaltigung hat nichts mit Sexualität zu tun.



Die letzten Veränderungen im deutschen Sexualstrafrecht 2016 haben die Diskussionen von „Ja heißt Ja“ (vgl. Lembke 2017) ebenso virulent werden lassen wie auch eine in den Sexualwissenschaften seit den 2000er-Jahren diskutierte Perspektive auf die Verhandlungsmoral (vgl. Schmidt 2004).

Nicht zuletzt sind in Hashtag-Debatten, insbesondere in #MeToo, seit 2017 die Ausmaße des alltäglichen Sexismus – in Privatleben, Beruf und Öffentlichkeit sowie im Digitalen – deutlich gemacht worden. Dadurch wurde dem Mythos, sexualisierte Gewalt sei ein Einzelphänomen und finde nur im Privaten statt, eine erneute Absage erteilt.

Die neuere Gewaltforschung zeigt, dass und wo junge Menschen in ihrem Alltag körperliche und nicht körperliche Gewalt erfahren: in der Peergroup, in Paarbeziehungen und im Digitalen (vgl. Rusack 2019; Vobbe/Kärgel 2022). In den Fachdebatten der Sexuellen Bildung sowie jenen zur sexualisierten Gewalt und Schutz in pädagogischen Kontexten wird das Recht junger Menschen auf Sexualität und Sexuelle Bildung gleichermaßen betont wie ihr Schutz und die Stärkung ihrer persönlichen Rechte (vgl. Retkowski u. a. 2018; Wolff u. a. 2017).
 

Forschungsziele:

„Rape Myths“ als „Mythen des Alltags“

In Mythen des Alltags (1964) dekonstruiert Barthes selbstverständliche Grundannahmen in der Geschichte, indem er die gesellschaftliche Konstruiertheit und die durch diese verliehene Macht von Mythen aufzeigte. So liegt z. B. in dem Mythos „Gewalterfahrung ist dem individuellen Sexualverhalten zuzuschreiben“ eine normalisierende Wirkmächtigkeit (vgl. ebd., S. 131). Kulturhistorisch fasst Sanyal (2016) Rape Myths als nach wie vor wirkmächtig zusammen, obwohl sie seit den 1970er-Jahren im Anti-Rape-Aktivismus dechiffriert wurden. „Frauen sagen Nein, wenn sie Ja meinen“ ist ein solcher Mythos ebenso wie „Vergewaltigung ist Sex“. Diskurse sind wirkmächtig, in denen sich solche Mythen ablagern und ihre Wirksamkeit entfalten (vgl. Foucault 1983). In einem diskursanalytischen Verständnis sind körperliche Erfahrungen, sexuelles Begehren sowie gewalttätige Beziehungen nicht ein „natürlich Gegebenes“, auf das die Diskurse wirken, sondern Sexualität, Geschlecht und Gewalt können als „Effekte“ der jeweils hegemonialen diskursiven Regime – auch methodisch – erfasst werden (vgl. Tuider 2018). Das Sprechen und Thematisieren von Gewalt ist – dem Sprechen von Sexualität nicht unähnlich – eine umkämpfte diskursive und sich verändernde Kategorie (vgl. Rubin 2003).
 

Die vorliegenden Studien:

Methoden und empirische Daten

In den Forschungsprojekten „Safer Places“ und „SchutzNorm“1 wurden mittels quantitativer Onlinebefragungen und erzählgenerierender teilstrukturierter Interviews die Normalitätskonstruktionen junger Menschen zu sexualisierter Gewalt und Grenzverletzungen sowie zu Sexualität und Grenzüberschreitungen erhoben (vgl. u. a. Henningsen u. a. 2021; Lips u. a. 2020; Rusack u. a. 2020). Der hier vorliegende Forschungszugang ist einem partizipativen Forschungsverständnis (vgl. Bahls u. a. 2018) verpflichtet und folgt einem Mixed-Methods-Ansatz (vgl. Kuckartz 2014), da Erhebungsinstrumente, Felderschließungen sowie die gewählten Methoden mit jungen Menschen aus den Feldern der Jugendarbeit gemeinsam entwickelt und zum Einsatz gebracht wurden (vgl. Henningsen u. a. 2021; Lips u. a. 2020). (siehe Download Tab. 1)

Die Interviewdaten wurden mittels interpretativer Auswertungsverfahren im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie rekonstruktiv analysiert (vgl. Charmaz 2015) und für den vorliegenden Beitrag einer Reanalyse unterzogen, in der sich Mythen sexualisierter Gewalt gezeigt haben. Das quantitative Datenmaterial entstammt zwei bundesweiten nicht repräsentativen Onlinebefragungen. An der Onlinebefragung von „Safer Places“ nahmen n = 364 Personen im Alter von 15 bis 25 Jahren teil (vgl. Krollpfeiffer 2016), an der Onlinebefragung von „SchutzNorm“ n = 1.221 Personen zwischen 15 und 35 Jahren (vgl. Lips u. a. 2020).
 

Mythos 1:

„Sexualisierte Gewalt ist Vergewaltigung“

75 % der in „Safer Places“ befragten jungen Menschen geben an, dass heimliches Filmen (z. B. in der Umkleide) für sie eine Grenzüberschreitung ist. Auch ohne Zustimmung z. B. am Oberschenkel berührt zu werden oder ohne Zustimmung auf den Mund geküsst zu werden, ist für 57 % bzw. 56 % der Befragten eine Verletzung der persönlichen Grenze. Die fehlende Zustimmung oder Einvernehmlichkeit einer Handlung definiert den nicht einvernehmlichen Charakter der Grenzüberschreitung (vgl. Download Abb. 1).

Zugleich wird in den erzählgenerierenden Interviews der beiden Projekte auch deutlich, wie die jungen Menschen mit dem nach wie vor hegemonialen Mythos von sexualisierter Gewalt als Vergewaltigung ringen:

Ähm, sexualisierte Gewalt. Ist das nicht so etwas Ähnliches wie Vergewaltigung und ähm, na, dass man eben, ja, die Gewalt eben auf sexuelle Weise ausübt, dass man andere angrapscht oder bedrängt?“

Also eher Vergewaltigung, dass man jemanden zum Sex zwingt oder einfach, ohne Erlaubnis sozusagen, jemanden begrapscht.“ 

(Carlos, 16 Jahre, und Alex, 17 Jahre, Z. 823–827, „Safer Places“)

Sexualität und Gewalt werden in ihrer Abgrenzung und Gleichzeitigkeit verhandelt. Die Merkmale „Gewalt auf sexuelle Weise auszuüben“ und „zum Sex gezwungen zu werden“ stellen dabei die Marker zur Definition von Vergewaltigung dar.

Im Rahmen der Onlinebefragung „Safer Places“ ist hingegen das Schauen von Porno- oder Erotikfilmen oder in einer Partner*innenschaft Sex zu wollen keine Verletzung der persönlichen Grenze. Es ist also nicht die Sexualität per se grenzüberschreitend, sondern deren nicht einvernehmliches Zustandekommen. Dabei geht es um die Bedeutung der Zustimmung, also dem Ja – im Sinne von „Ja heißt Ja“.

Sexualität, so zeigt die Onlinebefragung in „SchutzNorm“, ist fester Bestandteil im Beziehungsalltag, ebenso wie Selbstbefriedigung zur sexuellen Normalität gehört. Sexualität kommt über Datingplattformen (z. B. Tinder, Grindr) zustande, Gespräche über Sexualität finden – u. a. im Freund*innenkreis – über Social Media statt (vgl. Abb. 2). Und dass dies so ist, ist für die befragten jungen Menschen auch „absolut o.k.“ bzw. „o.k.“ (vgl. Lips u. a. 2020).

Neben Hatespeech und Cybermobbing gehört digitale sexualisierte Gewalt zu den Alltagserfahrungen von jungen Menschen (vgl. Vobbe/Kärgel 2022). Eine Gleichsetzung von sexualisierter Gewalt mit Vergewaltigung zeigt sich ebenso wie eine differenzierte Sicht auf Verletzungen der persönlichen Grenzen in den hier analysierten Daten.
 

Mythos 2:

„Sexualisierte Gewalt ist ein individuelles Problem“

In den Interviews im Projekt „SchutzNorm“ setzen sich die interviewten jungen Menschen mit verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt auseinander, u. a. mit Gay Bashing und Cissexismus (siehe auch Timmermanns u. a. 2022). Sie sprechen sich deutlich gegen Diskriminierung aufgrund von Sexualität und Geschlecht aus und begründen dies mit der individualrechtlichen Ansicht, dass jeder Mensch so sein kann, „wie er will“. Sexuelle und geschlechtliche Diversität werden als „normal“ angesehen.

Ja, normal, finde ich. Wenn man sich zu dem gleichen Geschlecht hingezogen fühlt oder so, dann ist das halt, ja, ist das, ja, dann ist das so. Dann kann man da nichts machen und sollte man auch nicht diskriminieren.“

(Andre, 19 Jahre, Z. 97–99, „SchutzNorm“)

Trotz der Erkenntnis, dass diskriminierendes Verhalten existiert, wird dieses nicht als Bestandteil eines strukturellen Gewaltverhältnisses gerahmt, sondern über die Betonung der individuellen Entscheidungsfreiheit im Rahmen eines pluralen Normalitätsspektrums individualisiert. Allerdings ist dies an den Anspruch gebunden, dass LGBTIQ*s sich an geltende gesellschaftliche Geschlechterzuordnungen anpassen müssten.

Also, ich habe nichts gegen Schwule, solange sie mich in Ruhe lassen.“

(Finn, 21 Jahre, Z. 71–74, „SchutzNorm“)

Die Interviewten erzählen, dass Nonkonformität in ihren Peercommunitys oftmals zu sexueller Diskriminierung führt. Gay Bashing und Cissexismus dienen mithin der normativen Vergeschlechtlichung und ahnden Normverstöße. Es zeigt sich eindrücklich, wie sich heteronormativ geprägte Homonormativität sowohl auf junge Heterosexuelle als auch auf LGBTIQ*s negativ auswirkt.

Auch in Bezug auf sexualisierte Gewalt wird die individuelle Betroffenheit hervorgehoben, wenn es darum geht, ob und wann einzelne Personen bei sexuellen Übergriffen Hilfe erhalten. Dabei suchen die Interviewten nach möglichst eindeutigen Anzeichen, die ein Eingreifen rechtfertigen:

Also, es saßen ja noch ein paar im Hintergrund, ein paar Zuschauer, vielleicht hätte davon einer oder zumindest zwei, drei eingreifen können. Es hätte ja auch irgendwann ein bisschen anders enden können. Sie hätten sich ja auch anfangen können zu kloppen und dann, spätestens dann hätten welche einschreiten müssen.“

(Finn, 21 Jahre, Z. 134–137, „SchutzNorm“)

Obwohl die befragten jungen Menschen ein differenziertes Gewaltverständnis haben, brauchen sie ein eindeutiges Signal, das sie primär mit Gewalt verbinden, um einzuschreiten.

Der aus dem empirischen Material heraus rekonstruierte Mythos 2 verweist also auf die konstruierte Individualität von Betroffenheit und lässt die strukturelle und organisationale Komponente von sexualisierter Gewalt in den Hintergrund rücken. Denn die befragten jungen Menschen sehen kaum die pädagogischen Organisationen oder Bystander in der Verantwortung bei Vorkommnissen sexualisierter Grenzüberschreitungen (vgl. Helfferich u. a. 2021). Ein Imperativ der individuellen Autonomie verdeckt, dass Entscheidungs- und Handlungsmacht heteronormativ begrenzt sind.
 

Mythos 3:

„Schuld als Selbstzuweisung bei Übergriffen“

Die Introjektion mit dem/der Täter*in und die Selbstschuldzuweisung werden am Beispiel einer im Projekt „Safer Places“ Interviewten besonders deutlich. Sie beschreibt ihr „erstes Mal“, das „halt nicht so klasse [war], […] weil man da einfach nicht gefragt wurde und er das wollte und ich nicht“. Ihr damaliger Freund hatte sie in die eine Ecke des Bettes gedrängt, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte und keine Handlungsoption hatte. Das Verhalten wird von der Interviewten mit der Begründung entschuldigt, dass ihr Freund zum Zeitpunkt des Übergriffs erst 14 Jahre alt war.

Die Folgen sexualisierter Gewalt durch Gleichaltrige können weitreichend sein (vgl. Horten 2020) und umfassen Scham, Angst und Schuld, die eine Bereitschaft, Widerstand zu leisten und sexuelle Gewalterfahrungen zu thematisieren, einschränken (vgl. Kavemann 2016). Betroffene werden verantwortlich gemacht (vgl. Horten 2020) – wie beispielsweise beim Victim Blaming – und damit die Selbstschuldzuweisung verstärkt. In der Analyse von Slutshaming und Catcalling wird darauf aufmerksam gemacht, dass Scham- und Selbstschuldzuweisungen auch mit der Regulierung von weiblicher Sexualität und der Sexualisierung von Mädchen und Frauen zusammenhängen (vgl. Gräber/Horten 2021). Wem es nicht gelingt, die eigenen sexuellen Wünsche und Grenzen zu vertreten, muss sich dies als individuelles Versagen selbst zuschreiben und ist in diesem Sinne „selbst schuld“. Auch in diesem Mythos verdeckt das Verständnis individueller Autonomie und Selbstverantwortung für sexuelle Selbstbestimmung hierarchische Machtverhältnisse und die Normalisierung von sexueller Gewalt.
 

Mythos 4:

„Binär vergeschlechtlichte Täter-Opfer-Bilder“

Auch in den Interviews verhandeln junge Menschen sexuelle Normalität, ihren Alltag und die darin eingelagerten Grenzüberschreitungen:

Hanna: „Nicht, dass da jetzt irgendwas gewesen wäre oder irgendwas, aber es war unangenehm, sich so zu präsentieren in ’nem (Nadine: „So ’nem nackten, kurzen“) freizügigen – ähh.“

Nadine: „Man hat sich irgendwie so gefühlt, als würde man seine Autorität gerade ausziehen.“

Hanna: „Ja! Das ist einfach so (Nadine: „Wirklich!“), als würde man so einen Striptease da hinlegen, so hab’ ich mich gefühlt.“

Interviewer*in: „Krass, ja.“ [….]

Hanna: „Das war nicht sexuell aufgeladen (Nadine: „Das war mehr …“). Ich hab’ mich gefühlt wie so ein Stück Fleisch, das beschaut wurde. Auf nich’ ’ne schöne Art und Weise, sondern nur so: Ach, is’ ja interessant!“

(Hanna, 24 Jahre, und Nadine, 23  Jahre, Z. 916–938, „SchutzNorm“)

Die jungen Menschen schildern, inwiefern eine Strandsituation mit Badekleidung für sie mit Verhandlungen von Körper, Nacktheit und Intimität einhergeht und sie den Blicken und Bewertungen anderer ausgeliefert waren. Das Entkleiden gleiche einer Objektivierung und Sexualisierung ihrer Körper vornehmlich durch männliche Personen, denn die Situation unter Mädchen wäre „gar kein Problem gewesen“. Damit legen sie den binärgeschlechtlichen Referenzrahmen offen.

In den Erzählungen findet sich auch eine Ablehnung des Opfer-Stigmas. In einem Interview erfolgt eine Erklärung für die gegenseitige Mobbingstrategie zweier Jungen, die sich implizit auch mit der hegemonialen Männlichkeitskonstruktion auf der Basis von gegenseitiger Abwertung auseinandersetzt. Um nicht als „Opfer“ zu gelten, werden andere „runtergemacht“:

Ja, dass sie versuchen, hart zu sein, also so hart zu tun und, ähm, ja, also sie versuchen halt, hart zu wirken, und lassen halt nichts an sich rankommen und so und wollen halt nicht irgendwie auch als Opfer dastehen und deswegen muss man, ähm, ja, Leute runtermachen, die vielleicht schwächer sind oder ja.“  

(Lennard, 20 Jahre, Z. 104–107, „SchutzNorm“)

Die Beschreibungen „hart zu sein“, „hart zu tun“ und „hart zu wirken“ zeigen, wie Geschlecht im Zusammenhang mit verbaler sexualisierter Peergewalt konstruiert wird. „Hart zu tun“ ist aber auch die Strategie, um der Zuschreibung, „Opfer“ sexualisierter Gewalt zu sein, zu entgehen. Härte bzw. Schwäche des Einzelnen bedingt oder verhindert die Zuschreibung und Konstruktion als „Opfer“ von sexualisierter Gewalt. Diese Praktik zielt auf eine vergeschlechtlichte Hierarchisierung.

Die Rekonstruktion von Mythos 4 verweist auf die grundlegende Geschlechterkomponente sexualisierter Gewalt. Auch 40 Jahre nach den feministischen Missbrauchsdebatten der 1980er-Jahre schreibt sich der Generalverdacht fort, der Männer zu potenziellen Tätern und Frauen zu potenziellen Opfern erklärt. Die (Mehrfach‑)Betroffenheit von sexualisierter Gewalt an LGBTIQ*s wird eher übersehen (vgl. Weller u. a. 2021). Durch die Wirkmächtigkeit binär vergeschlechtlichter Täter-Opfer-Bilder kann von einer Sicherstellung hegemonialer Männlichkeit (vgl. Bourdieu 2005) bei gleichzeitiger Abwertung von Weiblichkeit sowie der Unsichtbarmachung von queeren Geschlechtern und Sexualitäten gesprochen werden, auch wenn die Thematisierung von sexualisierter Gewalt auf die Abwendung dieser sowie auf die Demokratisierung von Geschlechterverhältnissen zielt.
 

Fazit

Dieser Beitrag reanalysiert gesellschaftliche Mythen zu Sexualitäten und sexualisierter Gewalt innerhalb der Sichtweisen junger Menschen. Deutlich wurde zum einen, dass Vielfalt und Zustimmung im Alltag der befragten jungen Menschen zentral sind, ebenso verfügen sie über eine gewisse Sensibilität gegenüber sexualisierter Gewalt. Zum anderen wird deutlich, dass die aus dem Datenmaterial rekonstruierten Mythen hinsichtlich Individualisierung und Schuldzuschreibung sowie Scham bei sexualisierter Gewalt keineswegs obsolet geworden sind, sondern ihre vergeschlechtlichte Wirkmächtigkeit und Normierung in der andauernden Verhandlung von Normalität weiterhin entfalten.
 

Anmerkung:

1 Beide Forschungsprojekte wurden von den Hochschulen Kiel, Landshut, Hildesheim und Kassel realisiert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

 

Literatur:

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Barthes, R.: Mythen des Alltags. Berlin 1964

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Lembke, U. (Hrsg.): Regulierungen des Intimen. Sexualität und Recht im modernen Staat. Wiesbaden 2017

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Wolff, M./Schröer, W./Fegert, J. M. (Hrsg.): Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch. Weinheim/Basel 2017

 


Zu den Autor:innen:

Tom Fixemer ist in der wissenschaftlichen Mitarbeit im Fachgebiet Soziologie der Diversität der Universität Kassel tätig. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Sexualität, Gewalt und Diversität.

Dr. Anja Henningsen ist Professorin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kiel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u. a. feministische Theorie und Geschlechterforschung sowie Sexualforschung.

Dr. Tanja Rusack ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Kinder- und Jugendrechte.

Dr. Elisabeth Tuider hat die Professur für Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel inne. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Gender und Queer Studies sowie Cultural und Postcolonial Studies.



Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Sexualität und Gewalt: Normalitätskonstruktionen junger Menschen in: Zeitschrift für Sexualforschung, 1/2024/37, S. 17–28 [efirst 2023]. Abrufbar unter: DOI: 10.1055/a-2181-0447.