Panorama 99

Die Studie Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen, durchgeführt unter der Leitung von Dr. Christine Linke, Professorin für Kommunikationsdesign und Medien an der Hochschule Wismar, ist Ausgangspunkt für einen Blick auf Gewalt gegen Frauen.

Printausgabe tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99), S. 48-49

Vollständiger Beitrag als:

 

Gewalt gegen Frauen und die Medien

Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, sie hat viele Gesichter und ist so normal, dass sie lange Zeit nicht einmal von Frauen als strukturelle Gewalt wahrgenommen wurde (man hat ihnen erzählt, es läge daran, dass sie von Natur aus schwächer sind): das Angetatschtwerden im Bus, die sexistische Kleiderordnung im Job, der Racheporno im Netz.

Das sind Beispiele aus den ersten drei Folgen von H24, einer dokumentarisch angelegten Serie auf ARTE.1 In insgesamt 24 Episoden von je 4 Minuten werden wahre Geschichten mit Schauspielerinnen nachgestellt. So wird in der Gesamtschau ein Tag im Leben einer Frau abgebildet – bedrängt, bedroht, belästigt und zum Objekt herabgewürdigt von morgens bis abends. Diese Dichte und Massivität sind eine künstlerische Zuspitzung, die meisten Episoden für sich genommen zeigen jedoch Dinge, die nur wenige Frauen noch nicht erlebt haben dürften. Nicht immer geht die Gewalt allein von Männern aus, Frauen tragen das System leider auch mit, sonst könnte es gar nicht so gut und so dauerhaft funktionieren.
 

24 Stunden im Leben einer Frau | H24 - Gesamte Serie | ARTE (2021)



Gewalt gegen Frauen wird auch in zahlreichen TV-Formaten dargestellt, Krimis und True-Crime-Serien leben vielfach von Femiziden, aber auch in Nachrichten und Unterhaltungsshows spielt das Thema regelmäßig eine Rolle. Das Framing ist allerdings selten kritisch: Es dominiert die Darstellung als Einzelfall, die eigentlich entscheidende Ebene struktureller, einer durch Diskriminierung, systematische Benachteiligung und Frauenhass motivierten Gewalt bleibt weitgehend ausgeblendet (vgl. Meltzer 2021a).

Spektakuläre Morde, vorzugsweise durch Fremde, die scheinbar aus dem Nichts heraus passieren, sind gegenüber alltäglichen Delikten in Beziehungen wie psychischer Gewalt, Nötigung oder Stalking deutlich und in stark verzerrender Weise überrepräsentiert. Dadurch wird verschleiert, wie die – sehr gut erforschte und belegte – Eskalationsdynamik von häuslicher Gewalt tatsächlich funktioniert, und somit Aufklärung und Prävention verhindert – im Sinne einer Ermutigung, sich Hilfe zu suchen und sich frühzeitig zu trennen von kontrollierenden, die Frau als minderwertig und als Besitz ansehenden und somit potenziell gewalttätigen Partnern.

Häusliche Gewalt ist ein Problem immensen Ausmaßes: Alle zweieinhalb Tage wird in Deutschland eine Frau durch ihren (Ex‑)Partner getötet, jeden Tag eine versuchte Tötung registriert, und die Dunkelziffer liegt ca. 90 % höher als die Zahlen des Hellfeldes bei häuslicher Gewalt (vgl. Bosen 2021) – wird aber kaum in den Medien zum Thema gemacht.

Darin, wie Opfer repräsentiert werden, liegt ebenfalls eine starke Verzerrung: Junge, weiße Frauen wie Gabby Petito erfahren viel Aufmerksamkeit, obwohl Frauen anderer ethnischer Herkunft und anderer Altersgruppen vergleichsweise häufiger Opfer eines Gewaltverbrechens werden.

Die Art und Weise, wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten und diese in Fictionformaten abbilden, beeinflusst den Umgang damit. Die lange Zeit gängige Privatisierung und Verharmlosung der Tötung von Frauen in Partnerschaften oder durch Expartner als quasi schicksalhafte „Familientragödie“, „Ehedrama“ oder „Beziehungstat“ verschränkt sich mit xenophoben und rassistischen Narrativen – geschieht ein Femizid in einer Familie mit Migrationsgeschichte, so wird dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit als „Ehrenmord“ tituliert – die anderen haben schließlich ein ernsthaftes Problem mit Frauenhass und Rückständigkeit, wir selbstverständlich nicht.

Die dpa hat diese verharmlosenden Begriffe ebenso wie „Sex-Täter“ oder „Sex-Attacke“, welche sexuelle Gewalt beschönigen und naturalisieren, 2019 endlich auf den Index gesetzt (vgl. Christine Meltzer im Gespräch mit Bettina Schmieding 2021b). Dass Gewalt gegen Frauen so wenig als solche sichtbar ist, obwohl doch alle Frauen sehr gut wissen, dass es sie gibt, hängt auch damit zusammen, dass sie in der Polizeilichen Kriminalstatistik bislang nicht erfasst wird. Die SPD drängt auf eine systematische Erfassung von frauenfeindlichen und homophoben Gewaltverbrechen (siehe Baumgärtner/Müller 2021).

Christine Linke, Professorin für Kommunikationsdesign und Medien an der Hochschule Wismar, hat zusammen mit Ruth Kasdorf die Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt im deutschen Fernsehen untersucht. Die Ergebnisse der Studie sind deprimierend: Gewalt gegen Frauen ist zwar in ca. einem Drittel der untersuchten Sendungen (Fiction [Spielfilme und Serien] genauso wie Nachrichten, Unterhaltungsshows und dokumentarische Formate; Spitzenreiter sind wenig überraschend Krimis) Thema bzw. szenisch umgesetzt, die gesellschaftlich relevante Dimension struktureller Gewalt wird dabei jedoch so gut wie nie adressiert bzw. sichtbar gemacht. Die Perspektive der Opfer der Gewalt wird nur in einem Drittel der untersuchten Fälle zumindest ansatzweise gezeigt (vgl. Linke/Kasdorf 2021).

Dass Gewalt gegen Frauen eine strukturelle Dimension hat, verdeutlicht die Präambel der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt:

„[…] in Anerkennung der Tatsache, dass die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen ist;
in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben;
in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat, sowie der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden […]“, heißt es dort.  

Eine Erkenntnis, die Feminist*innen schon vor einem halben Jahrhundert im Zuge der Frauenbewegung der 1970er-Jahre formuliert haben und die endlich stärker Beachtung finden sollte, auch bei der Darstellung von Gewalt gegen Frauen in den Medien. Hoffentlich ändern sich die Macht- und Gewaltverhältnisse dann.
 

Anmerkung:

1) Die Serie H24 – 24 Frauen, 24 Geschichtenist in der ARTE-Mediathek abrufbar unter: www.arte.tv/de

 

Literatur:

Baumgärtner, M./Müller, A.-K.: Vorstoß der SPD. Frauenfeindliche Motivation soll bei Straftaten extra vermerkt werden. In: Spiegel.de, 17.02.2021. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de

Bosen, R.: Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Gewalt gegen Frauen: Wenn der Alltag zum Albtraum wird. In: DW, 25.11.2021. Abrufbar unter: https://www.dw.com/de

Europarat: Die Istanbul-Konvention: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011 formuliert, 2014 in Kraft getreten). Abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de

Linke, C./Kasdorf, R.: Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen. Wismar/Rostock 2021. Abrufbar unter: https://fg.hs-wismar.de

Meltzer, C. E.: Tragische Einzelfälle? Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten. Frankfurt am Main 2021a. Abrufbar unter: https://www.otto-brenner-stiftung.de

Meltzer, C. E.: Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen / Zu viel Sensationsgier, zu großer Fokus auf Täter. Christine Meltzer im Gespräch mit Bettina Schmieding. In: Deutschlandfunk, 12.07.2021b. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de

[Alle Links zuletzt abgerufen am 25.01.2022]