Parasoziale Beziehungen in Videospielen

Vielfältige Verhältnisse zwischen Spieler*innen und Avataren

Christoph Klimmt, Daniel Possler

In vielen Videospielen übernehmen Nutzer*innen die Kontrolle über Spielfiguren (Avatare). Die Forschung zeigt, dass dabei ganz unterschiedliche Formen von Beziehungen zwischen Spieler*innen und Avataren entstehen – von rein funktionaler Interaktion über intensive parasoziale Bindungen bis zum Erleben einer „Verschmelzung“ mit dem Avatar (Identifikation).

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 38-43

Vollständiger Beitrag als:


Parasozialität auch in Videospielen?

Die Welt der Videospiele ist bevölkert von unterschiedlichsten Figuren. Einige von ihnen besitzen menschliche Gestalt; andere ähneln Tieren, Maschinen oder Fabelwesen. Für das Erleben der Spieler*innen und auch die medienpädagogische Einordnung steht indes eine andere Unterscheidung im Vordergrund: Während manche Figuren von den Spieler*innen gesteuert werden können (Avatare), treten andere eigenständig in Erscheinung und unterliegen nicht der Kontrolle der Spieler*innen (Non-Player-Characters). Insbesondere Avatare stellen wichtige Bezugspunkte für Spieler*innen dar: Sie stehen häufig im Zentrum der Handlung eines Spiels, besitzen zumeist eine (umfangreiche) Hintergrundgeschichte und werden zuweilen wie Prominente inszeniert. In manchen Spielen können die Nutzer*innen Aussehen und Eigenschaften „ihrer“ Avatare selbst bestimmen; andere Spiele erfordern die Steuerung und das „Sich-Einfühlen“ in eine vorgegebene Persona. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle von Avataren in Videospielen und der gleichzeitigen enormen Vielfalt ihrer Präsentation stellt sich die Frage, welche Art der Beziehung Spieler*innen zu Videospiel-Avataren entwickeln und welche Auswirkungen diese Beziehung auf das Spielerleben entfaltet.
 

Naruto to Boruto: Shinobi Striker – Avatar Customization (Playstation, 30.08.2018)



Zur Beantwortung dieser Frage kann die Kommunikationswissenschaft auf ein umfangreiches Portfolio an theoretischen Konzepten zurückgreifen. In der Forschung zur Beziehung des Publikums zu Film- und Fernsehpersonen hat sich insbesondere das Konzept der parasozialen Interaktionen (PSI) und Beziehungen (PSB) etabliert. Das Konzept beschreibt, wie das Publikum die Hauptfiguren in audiovisuellen Angeboten wahrnimmt, bewertet und in den Kreis der ihr bekannten (realen) Personen integriert (Vorderer 1996). Fernsehfiguren können demnach wie gute Freund*innen, entfernte Bekannte, nervige Nachbar*innen oder auch angehimmelte Objekte der Begierde erlebt werden. Dementsprechend kann der mediale Kontakt zu Fernsehfiguren vielfältige emotionale Bedürfnisse erfüllen. Es scheint naheliegend, PSI und PSB auf den Kontext der Videospiele zu übertragen. Dabei stellt sich allerdings die Herausforderung, dass Videospiele eine interaktive Auseinandersetzung mit Avataren ermöglichen und erfordern: Avatare repräsentieren die Spieler*innen im Spiel und sind meist das zentrale Hilfsmittel, mit dem Nutzer*innen die Spielwelt beeinflussen. Avatare sind daher weniger autonom als Fernsehfiguren, zugleich aber (vermutlich) auch in der Wahrnehmung der Spieler*innen „näher an ihnen dran“.


Theoretische Ansätze: Spieler*innen-Avatar-Beziehungen

Da PSI und PSB nicht ohne Weiteres auf Videospiele übertragen werden können, hat die Forschung verschiedene Versuche unternommen, die potenziell vielfältigen Formen der Beziehungen von Spieler*innen zu ihren Avataren theoretisch zu beschreiben. Ein Ansatz liegt in der Unterscheidung zwischen dyadischen und monadischen Konzepten (Klimmt u. a. 2009): Dyadische Konzepte wie PSI oder Character Liking beschreiben Spieler*innen als Beobachter*innen von Videospielfiguren. Beziehungen zu Avataren entstehen, wenn Rezipierende Interesse an den Figuren entwickeln und auf diese emotional reagieren (Klimmt u. a. 2006). Avatare werden jedoch als eigenständige Personae wahrgenommen, die sich von den Spieler*innen unterscheiden. Monadische Konzepte hingegen gehen davon aus, dass „Videospiele (teilweise) die Distanz zwischen Mediennutzenden und Mediencharakteren außer Kraft setzen“ (Klimmt u. a. 2009, S. 354; Übers. d. Verf.). Spielende identifizieren sich mit den Avataren, d. h., sie integrieren Teile der Identität der Figuren vorübergehend in ihr eigenes Selbstkonzept. In solchen Situationen fühlen sich Spieler*innen als ihr Avatar – sie erleben sich selbst beispielsweise als Superheldin, Profifußballer oder Magierin. Ermöglicht wird diese Verschmelzungserfahrung durch die Interaktivität, also die handelnde Kopplung zwischen Spieler*in und Avatar.
 


Dyadische Bindungen zwischen Spielenden und Avataren:
Avatare werden als eigenständige Personae wahrgenommen, die sich von den Spielenden unterscheiden.


Monadische Bindungen zwischen Spielenden und Avataren:
Spielende identifizieren sich mit den Avataren, sie erleben sich im Spiel beispielsweise als Superheldin oder als Profifußballer.



Ergänzend zu dieser Unterscheidung fand Banks (2015) in Interviewstudien vier verschiedene Typen von Beziehungen zwischen World of Warcraft-Spielenden und ihren Avataren: Avatare können demnach wahrgenommen werden (1) als bloße Objekte, (2) als virtuelle Erweiterungen der Spielenden, (3) als Masken, die benutzt werden, um neue Personen/Rollen zu erschaffen, oder (4) als eigenständige Subjekte, die eine realitätsnahe Interaktion ermöglichen. Eine wichtige Erkenntnis aus dieser Studie ist, dass die Beziehungen zwischen Spieler*innen und Avataren auch Formen umfassen, die einem herkömmlichen Verständnis von „Beziehung“ nicht entsprechen. So können Spieler*innen ihre Avatare aus einer rein instrumentellen Perspektive als bloße „Spielfiguren“ betrachten, die keiner (para‑)sozialen Behandlung bedürfen, sondern lediglich dazu dienen, Aufgaben innerhalb des Spiels zu bewältigen. Demgegenüber stehen Verschmelzungserfahrungen von Spieler* innen mit ihren Avataren (Identifikation), die sich ebenfalls nicht als PSB verstehen lassen, weil sie gerade nicht auf der Relation zwischen zwei sozialen Einheiten (Spieler*in und Avatar) beruhen.
 

Creating your character! - New & Returning Player Guides by Bellular (World of Warcraft, 04.08.2018)



Empirische Befunde: eine Interviewstudie mit deutschen und US-amerikanischen Spieler* Innen

Weiterführende Erkenntnisse zur Vielfalt (para‑)sozialer Beziehungen zwischen Spieler*innen und ihren Avataren lieferte eine Interviewstudie, die wir gemeinsam mit Studierenden durchgeführt haben (Possler u. a. 2016). Insgesamt 32 erfahrene Spieler*innen aus Deutschland und den USA nahmen daran teil (Alter zwischen 17 und 34 Jahren; 27 Männer und fünf Frauen). Sie gaben Auskunft darüber, wie sie die Beziehungen zu ihren Avataren erleben. Unser Interviewleitfaden ging dabei besonders auf dyadische Beziehungen (z. B. das Erlebnis, mit Avataren „mitzufühlen“ oder mit ihnen zu sprechen [Banks 2015]) und monadische Bindungen ein (z. B. das Erlebnis, dass Avatare den Spieler* innen gleichen und mit ihnen verschmolzen sind [Klimmt u. a. 2009]).

Auf Basis dieser Daten konnten wir fünf typische Spieler*in-Avatar-Beziehungen ermitteln:

  1. Instrumentelle Beziehungen: In manchen Fällen entwickeln Spieler* innen keine emotionale Bindung zu ihren Avataren, sondern nehmen diese einfach als Werkzeuge zum Erreichen des Spielzieles wahr. Beispielsweise gibt eine befragte Person an, dass er/sie einen Avatar manchmal nur zum Spaß sterben lässt. Leistung ist ein wesentliches Momentum dieser Beziehungsform – das „Werkzeug“ Avatar soll aus Spieler*innensicht möglichst gut „funktionieren“.
  2. Empathiebasierte dyadische Beziehungen: In manchen Konstellationen von Spieler*in, Spiel und Figur nehmen Nutzer*innen ihre Avatare als eigenständige Persönlichkeiten wahr. Durch das Miterleben, was mit den Avataren im Spiel geschieht, werden die Spieler*innen emotional involviert; die Distanz zu den Avataren schwindet (ein*e Interviewpartner* in beschreibt dies wie folgt: „Man hat meistens Kenntnis vom Gefühlsleben der Protagonisten, und daher sind sie einem sehr nahe“). Zahlreiche Antworten verweisen hier auf die Ähnlichkeit zum Erleben von Filmen und damit auch auf die konzeptionelle Nähe dieses Typus der Avatar-Beziehung zu klassischer PSI und PSB (Vorderer 1996).
  3. Intensive dyadische Beziehungen: Einige der Interviewpartner*innen berichteten uns von starken emotionalen Bindungen zu ihren Avataren oder sogar einer Form der Intimität. Avatare werden dabei als nahestehende Person erlebt – wie ein guter Freund. Beispielsweise berichtete ein*e Interviewpartner*in, dass er*sie „Feuer und Flamme“ für ihren Avatar ist, andere sprachen von einer vertrauensvollen Beziehung, die auch über die eigentliche Videospielepisode hinausreicht. Diese Form der Beziehung ähnelt daher einer ausgeprägten parasozialen Beziehung (vgl. Klimmt u. a. 2006). Zudem werden Übereinstimmungen mit Fanbeziehungen deutlich, also besonders starken, lang andauernden und emotional aufgeladenen PSB.
  4. Selektive Identifizierung: Wiederum andere Spieler*innen berichteten von Erlebnissen der Identifikation mit dem Avatar, in denen die Grenzen zwischen ihrem eigenen Selbst und den Avataren verschwammen. Eine solche Identifikation scheint besonders solche Avatar-Eigenschaften zu betreffen, die den Spieler*innen ähneln oder ihrem Idealbild entsprechen. Angesprochen auf einen Avatar, mit dem er/sie sich verbunden fühlt, berichtete eine*r der Interviewpartner*innen: „[…, der Avatar] ist die Art von Person, mit der man im echten Leben zusammen sein möchte. Und […] du kontrollierst sie und bist tatsächlich sie.“
  5. Verschiebung der Identität: Schließlich berichteten einige Spieler*innen, dass sie manchmal vollständig die Perspektive ihres Avatars übernehmen und daher einen (vorübergehenden) Identitätswechsel erleben. Das Gefühl, der Avatar mit all seinen Zielen und Perspektiven zu „sein“, wird etwa wie folgt beschrieben: „Seine Tochter ist auf einem Schiff […], du sollst sie retten. Und ich wurde richtig wütend: […] ‚Geht verdammt noch mal weg von meiner Tochter!‘“ Wenn diese extreme Art der Identifikation auftritt, beherrschen die Eigenschaften und Emotionen des Avatars das temporäre Selbstbild der Spieler*innen; die Rolle eines*r Beobachter*in des Avatars (PSI) weicht zugunsten einer Verschmelzungserfahrung.
     

Resümee und Anschlussperspektiven

Unsere Studie und vorangehende Befunde (Banks 2015) zeigen: Die Beziehungen zwischen Spieler*innen und ihren Avataren sind von einer großen Vielfalt geprägt und schlagen sich im Rezeptionserleben, aber auch dem gedanklichen Involvement außerhalb der Spielsituation nieder. Insofern scheinen viele Avatar-Spieler*innen-Beziehungen durchaus mit klassischen PSI und PSB vergleichbar zu sein. Gleichzeitig resultieren aus der interaktiven Kontrolle über den Avatar Beziehungsvarianten, die im Kontext audiovisueller Medien kaum auftreten (insbesondere starke Formen der Identifikation).

Es lässt sich schlussfolgern, dass vornehmlich jene Avatare, mit denen Spieler*innen sehr viel Zeit verbringen, eine hohe emotionale Relevanz besitzen: Sie gehören ebenso zu den „Medienfreund*innen“ von Menschen wie Musikstars, Comic-Superheld*innen und Serienprotagonist*innen. Ergo erfüllen sie vermutlich eine ebenso große Bandbreite sozioemotionaler, identitätsbezogener und auch selbstwertbezogener Bedürfnisse: Einem Avatar eng – parasozial und/oder identifizierend – verbunden zu sein, sollte somit eine wichtige Ressource für den eigenen Selbstwert darstellen und damit Optimismus und Wirksamkeitserwartungen befördern – auch jenseits des Videospielens wie beispielsweise beim Lernen oder im Beruf.
 

Literatur:

Banks, J.: Object, Me, Symbiote, Other: A social typology of player- avatar relationships. In: First Monday, 2/2015. Abrufbar unter: https://doi.org/10.5210/fm.v20i2.5433

Klimmt, C./Hartmann, T./Schramm, H.: Parasocial Interactions and Relationships. In: J. Bryant/P. Vorderer (Hrsg.): Psychology of Entertainment. Mahwah 2006, S. 291–313

Klimmt, C./Hefner, D./Vorderer, P.: The Video Game Experience as „True“ Identification: A Theory of Enjoyable Alterations of Players’ Self-Perception. In: Communication Theory, 4/2009, S. 351–373

Possler D./Klimmt, C./Carnol, N./Weber, I./Raney, A. A.: Variation in Player-Avatar Relationships: Towards a Genre-Independent Typology. Vortrag im Rahmen der 66. Jahrestagung der International Communication Association. Fukuoka, 09.–13.06.2016

Vorderer, P. (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen 1996

 

Dr. Christoph Klimmt ist Professor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Seine Forschungsinteressen umfassen Medieneffekte und -prozesse, mediale Unterhaltung und digitale Spiele.

Dr. Daniel Possler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. In seiner Forschung untersucht er die Nutzung und Wirkung interaktiver Medien, insbesondere von Videospielen, sowie den Einsatz innovativer, computergestützter Methoden in der Kommunikationswissenschaft.