Polemische Öffentlichkeiten

Zur Geschichte und Gegenwart von Meinungskämpfen in Literatur, Medien und Politik

Andrea Schütte, Elke Dubbels, Jürgen Fohrmann (Hrsg.)

Bielefeld 2021: transcript
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Online seit 13.01.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/polemische-oeffentlichkeiten-beitrag-1123/

 

 

Die zehn Beiträge des Bandes setzen sich vorwiegend aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Verhältnis von Polemik und Öffentlichkeit auseinander. Das Ziel des Bandes wird von Elke Dubbels und Andrea Schütte folgendermaßen benannt: Es geht darum, „in perspektivischer Dopplung sowohl nach dem Stellenwert der Öffentlichkeit für die Polemik als auch nach der Bedeutung der Polemik für die Struktur historischer Öffentlichkeiten und deren Theorie“ zu fragen (S. 8). In historischer Perspektive reicht das von den Polemiken Jakob Michael Reinhold Lenz’ gegen Christoph Martin Wieland im 18. Jahrhundert bis hin zu Polemiken von Maxim Biller und in der Netzöffentlichkeit. Johannes F. Lehmann weist in seinem Beitrag zu Lenz contra Wieland zu Recht darauf hin, dass Polemik der modernen Öffentlichkeit inhärent ist, „weil jede öffentliche Aussage als Intervention in die Öffentlichkeit und als Element des Kampfes um Deutung gedacht werden kann“ (S. 28; H. i. O.). In einigen Beiträgen geht es auch um die Gemeinsamkeiten und Differenzen von analoger und digitaler Polemik.

Während die polemischen Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Vorstellungen von Feminismus in der Zeitschrift „Emma“ der analogen Sphäre zuzuordnen sind, wie Karolin Kupfer in ihrem Beitrag zeigt, macht Andrea Schütte in ihrem Beitrag über die Polemik von Maxim Biller deutlich, dass sowohl analoge wie digitale öffentliche Polemik gemäß ihrer medialen Verfasstheit als Reaktion auf die immer stärkere Ausdifferenzierung von Kommunikation und deren Verdichtung zu sehen sind. Denn: „Öffentlichkeit differenziert sich in Bezug auf die Medienformate aus zu Öffentlichkeiten“ (S. 174). Die Polemik von Kommentaren im Netz stellt also lediglich eine zusätzliche Form dar, in der es – wie bei der Moral – um „Achtung und Nicht-Achtung von Personen“ sowie „Anerkennung und Nicht-Anerkennung von Normen“ geht (S. 176). So sieht Schütte „keinen kategorialen Unterschied zwischen Print- und Netzpolemik“ (S. 178; H. i. O.).

Am Beispiel des Rezo-Videos Die Zerstörung der CDU zeigt Niels Werber, dass Polemik nur dann öffentlich wirksam ist, wenn sie auch populär ist. Von der Kritik aus Reihen der Union ausgehend, setzt sich der Autor mit populistischen Polemiken auseinander und stellt fest:

Im Politischen markieren Populismen die hohe Popularität von Positionen oder Personen, die missbilligt und abgelehnt werden.“ (S. 197)

Der Popularität des Videos wird mit der Herabsetzung von Rezo begegnet. Auf diese Weise wird das Thema in der Öffentlichkeit gehalten und führt zur Skandalisierung (vgl. S. 201). Der Soziologe Giancarlo Corsi sieht in den Massenmedien einen wichtigen Faktor bei der Erstarkung des Populismus und „der polemischen Öffentlichkeit im Allgemeinen“ (S. 214). Denn eine der Eigenschaft von Medien ist, dass sie Reaktionen erzeugen wollen. Allerdings sind diese nicht unbedingt vorhersehbar. Sie wissen nicht, ob das zu Konsens oder Dissens führt. So entsteht Unsicherheit. Wenn der Autor behauptet, dass die Medien gleichgültig gegenüber Inhalten sind, muss widersprochen werden. Er verkennt dann die Rolle von kritischem Journalismus, dem es sehr wohl um Inhalte geht – und manchmal auch um deren polemische Zuspitzung.

Die Beiträge des Bandes bieten einen gelungenen Überblick über die Funktionen von Polemik in den Öffentlichkeiten. Sie schlagen dabei einen weiten historischen wie medialen Bogen vom 18. Bis zum 21. Jahrhundert und von den analogen Printmedien bis hin zu den digitalen sozialen Medien. Dabei wird deutlich, dass es in der polemischen Kommunikation vor allem um sein geht: Aufmerksamkeit.