Publikumsbeobachtung im digitalen Wandel

Massenmedien und Verdatung am Beispiel publizistischer Printmedien

Karsten Pieper

Bielefeld 2023: transcript
Rezensent/-in: Claudia Töpper-Ko

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 87-88

Vollständiger Beitrag als:

Publikumsbeobachtung im digitalen Wandel

Im Zuge der Etablierung des Internets haben sich auch die Vermessung und Verdatung des massenmedialen Publikums verändert und neue Möglichkeiten des Vergleichens, Bewertens und Legitimierens eröffnet. Während das Fernsehen seine Angebotsnutzung bereits seit 1963 statistisch durch Einschaltquoten beobachtet (S. 14), waren die Möglichkeiten für Printmedien bislang eingeschränkt und technisch schwierig. Lediglich die Anzahl der verkauften Auflagen und ein Publikumsfeedback in Form von Leserbriefen, vereinzelten Befragungen, Leserschaftsanalysen oder aufwendigen Readerscans gaben Aufschluss über das Publikum. Welche Artikel oder Teile von Zeitungen gelesen wurden, war den Redaktionen unklar. Zeitungen hatten hierdurch einen hohen Grad an Freiheit in der Produktion, Selektion und Publikation ihrer Inhalte und konnten mit ihrem Gesamtprodukt lange Zeit hohe wirtschaftliche Gewinne erzielen. Mit der Einführung des Internets sahen sich jedoch auch Printmedien gezwungen, Trends der Leser*innen- und Leseverluste gezielter zu verfolgen. Aufgrund sinkender Einnahmen im Printbereich wurde das Internet damit nicht nur als Distributionsweg, sondern auch für Nutzungsdaten bedeutend. Neue Möglichkeiten der Quantifizierung des Publikums eröffneten sich, z. B. durch Klickzahlen, Likes, Kommentierungen etc. Diese Entwicklung hatte und hat jedoch auch Auswirkungen auf das Binnenleben und die Binnenverhältnisse der Printmedien.

Aus dieser Perspektive widmet sich die als Dissertation eingereichte Publikation von Karsten Pieper der Publikumsbeobachtung in Printmedien. Im Rahmen einer systemtheoretischen Herangehensweise analysiert er den Einfluss der Verdatung auf Zeitungsredaktionen als Medienorganisationen. Pieper beschäftigt sich zum einen mit der Frage, wie sich die Möglichkeiten der Publikumsbeobachtung und ‑verdatung im Internet ausdifferenzieren, und zum anderen damit, welche medienorganisationalen Restrukturierungs- und Transformationsprozesse im Redaktionsgeschehen von Printmedien damit einhergehen. Somit befasst er sich mit einem deutschsprachigen Forschungsdesiderat,

[d]enn es existiert keine Forschung, die sich aus der Innenansicht von Redaktionen mit dem Umgang, Einfluss und Nutzen von Online-Nutzungsdaten beschäftigt“ (S. 15).

Bislang wurden vorrangig eher Funktions- und Interaktionsebenen betrachtet. Aber laut Pieper werden

[e]rst durch eine Organisationsbetrachtung der Massenmedien […] die Komplexität der Publikumsbeobachtung und die Folgeprobleme, die sich die Medienorganisationen im Zuge dessen einhandeln, sichtbar“ (S. 40). Entsprechend stellt er die Organisationsebene in den Mittelpunkt seiner ethnografischen Untersuchung.

Trotz des schwierigen Feldzugangs (S. 109) konnte Pieper im November 2018 eine überregionale Tageszeitung für sein Vorhaben gewinnen und dort zwei Wochen Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung für seine empirische Fallanalyse unternehmen. Dabei nahm er an täglichen Redaktionskonferenzen und unterschiedlichen redaktionellen Treffen teil, in denen der Datenumgang und die Datenauswertung besprochen wurden. Zudem führte er Interviews und Gespräche mit Mitarbeitenden aus der Abteilung Produktmanagement Content sowie leitfadenorientierte Experteninterviews. Das erhobene empirische Material besteht aus Audioaufnahmen mit dem Chefredakteur, dem Teamleiter der Datenanalyse, dem Teamleiter für Social Media und Leserdialog, einem technischen SEO-Mitarbeiter und der Teamleiterin für User Research, außerdem aus Feldnotizen, Beobachtungsprotokollen und einem Forschungstagebuch. Ausgewertet wurden die Daten nach der Grounded Theory.

Die Arbeit ist sehr nachvollziehbar in insgesamt acht Kapitel gegliedert. In drei theoretischen Kapiteln wird zunächst die Publikumsbeobachtung der Massenmedien beschrieben, der Zusammenhang von Organisation, Quantifizierung und Digitalisierung betrachtet und schließlich die Publikumsbeobachtung von Printmedien unter Internetbedingungen dargestellt. Ein Zwischenfazit fasst die theoretischen Erkenntnisse zusammen, benennt zentrale Forschungslücken und formuliert Forschungsfragen. Der empirischen Fallanalyse vorgelagert sind Erläuterungen zur methodischen Vorgehensweise. Im achten Kapitel wird ein Resümee gezogen und es erfolgt ein mediensoziologischer Forschungsausblick.

Die Arbeit ist insgesamt sehr gut lesbar und verständlich geschrieben, an manchen Stellen allerdings etwas redundant. Deutlich wird, dass die Sammlung und Auswertung von Publikumsdaten als ein komplexes, entscheidungsbedürftiges und transformatives sowie strukturell und sozial folgenreiches medienorganisationales Geschehen zu verstehen ist. Der „digital turn“ wandelt dabei nicht nur das Verständnis des Publikums, sondern macht auch interne Restrukturierungsmaßnahmen erforderlich. „Zur Publikumsverdatung verläuft so gesehen eine komplementäre Organisationsverdatung“ (S. 209), wodurch Redaktionen eine „folgenreiche Selbstbeobachtung und ‑thematisierung im Spiegel der Daten [erfahren]“ (S. 210). Die binnenorganisatorische Perspektive der Arbeit bietet damit nicht nur einen detailreichen Einblick in die Praxis der Onlinepublikumsmessung, sondern führt auch zu Thesen einer organisationsübergreifenden Verdatung, die nicht auf Massenmedienorganisationen beschränkt bleiben müssen.

Dr. Claudia Töpper-Ko