Sag das keinem, o. k.?!

Christina Heinen im Gespräch mit Gianna Maria Graf

Der JIM-Studie 2023 zufolge wurden 30 % der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren im Internet schon einmal sexuell belästigt, Mädchen häufiger (36 %) als Jungen (24 %). Nicht selten geht es den Belästigenden darum, einen sexuellen Kontakt mit einem Kind anzubahnen. Dies wird als Cybergrooming bezeichnet. Im Sinne des Strafrechts wird als Cybergrooming nur die Kontaktaufnahme mit Minderjährigen unter 14 Jahren erfasst. Gianna Maria Graf ist Staatsanwältin bei der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) und dort tätig in der „Task Force zur Bekämpfung des Kindesmissbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornographie in digitalen Medien“. mediendiskurs sprach mit ihr über Täterstrategien und Prävention

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 76-79

Vollständiger Beitrag als:


Kinder und Jugendliche werden im Netz extrem häufig Opfer von sexuellen Belästigungen und sexualisierter Gewalt. Hat das Internet sexuellen Kindesmissbrauch zum Massenphänomen gemacht oder fanden diese Straftaten vor den digitalen Medien auch schon so häufig statt und wir haben einfach die Augen konsequent davor verschlossen?

Sexuelle Gewalt im digitalen und im analogen Raum lässt sich schwer in dieser Form vergleichen. Kommunikation und soziale Beziehungen verlagern sich zunehmend ins Internet, damit nehmen auch die Straftaten im digitalen Raum zu. Cybergrooming – also das gezielte Ansprechen eines Kindes über das Internet mit dem Ziel, einen sexuellen Kontakt anzubahnen – gibt es selbstverständlich erst, seit es soziale Medien und Chatfunktionen gibt. In der analogen Welt sind im Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs andere Vorgehensweisen zu beobachten, insbesondere sogenannte Hands-on-Delikte stehen dort im Vordergrund.

Nicht jeder Täter, der in der digitalen Welt Kinder sexuell motiviert anspricht, wird einen realen sexuellen Missbrauch begehen.

Im digitalen Raum entstehen neue Arten von Straftaten. In Einzelfällen ist jedoch beides zu beobachten, Kontakte entstehen über digitale Medien und setzen sich in der Realität fort, indem Kinder beispielsweise konkret dazu veranlasst und angeleitet werden, teilweise erhebliche sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen.

Was ist über die Täter bekannt?

Es gibt nicht den einen Tätertypus. Die Motive sind vielfältig und können auch im Ermittlungsverfahren nicht immer eindeutig aufgeklärt werden. Oft geht es beispielsweise um Macht. Nicht in jedem Fall steht notwendigerweise eine pädosexuelle Neigung dahinter.

Das gilt auch für den analogen Raum. Wie gehen Täter vor?

Sie sprechen Kinder gezielt dort an, wo diese sich im digitalen Raum bewegen, auf Spieleplattformen beispielsweise. Dieses vermeintliche gemeinsame Interesse liefert einen ersten Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Die Kommunikation beim Cybergrooming zeichnet sich durch ein manipulatives „Einwirken“ auf das Kind aus. Sie ist geprägt von Elementen der Täuschung: Täter geben sich häufig jünger aus, als sie tatsächlich sind, belügen das Kind über ihr Geschlecht, ihre Identität etc. Das ist natürlich nicht untypisch für die Onlinewelt, man schafft sich einen Avatar, einen virtuellen Charakter, und tritt darüber miteinander in Kontakt.

Die Täter bahnen den Missbrauch durch vertrauensbildende Maßnahmen an, tauschen Erfahrungen mit dem Kind aus, machen Komplimente, schenken Aufmerksamkeit.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die Kinder den Tätern im realen Leben vermutlich gar nicht begegnen würden. Im Internet ist es für viele Kinder und Jugendliche hingegen normal, mit Personen zu chatten, die sie gar nicht persönlich kennen, die beispielsweise nicht in derselben Stadt, nicht im selben Land leben. Gleichzeitig ist die soziale Kontrolle viel geringer als im analogen Raum. Ein großer Teil der Kommunikation findet in privaten digitalen Räumen zwischen nur zwei Personen statt, sodass wir über das Dunkelfeld beim Cybergrooming keine gesicherten Erkenntnisse haben.

Gibt es neben Täterstrategien wie Täuschung und Manipulation noch weitere Gründe, warum Kinder und Jugendliche sich nur schwer vor Cybergrooming schützen können?

Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche sich durchaus davor schützen können, wenn sie für das Thema sensibilisiert und darüber aufgeklärt sind – und wenn es eine Vertrauensperson gibt, an die sie sich in so einem Fall wenden können. Es ist sicher richtig, dass das Vorgehen der Täter darauf zielt, dass Kinder ihre Absichten nicht unmittelbar durchschauen können. Das gilt aber für jedes manipulative Vorgehen. Gerade im Bereich der Internetkriminalität erkennen auch viele Erwachsene beispielsweise Betrugsversuche nicht.

Kinder sollten ermutigt werden, zu spüren, wo ihre eigenen Grenzen sind, damit sie eine Grenzüberschreitung auch als solche wahrnehmen können.

Und sie sollten wissen, was strafrechtlich relevant ist und dass sie sich in Situationen, wo sie unsicher sind, jemandem anvertrauen können. Im Idealfall sollte man Kinder in ihrem Umgang mit sozialen Medien begleiten.

Das ist schwer umzusetzen. Sobald Kinder ein eigenes Smartphone haben, möchten sie meist nicht, dass man ihnen bei der Nutzung über die Schulter schaut. Die Freiräume von Kindern engen sich in der analogen Welt immer mehr ein. In der Regel verstehen sie schnell, dass das Internet der Raum ist, wo sie sich unbeobachtet ausprobieren können.

Das ist sicher richtig. Man wird Cybergrooming wohl auch nicht vollständig verhindern können. Aber wenn man Kinder in einem kompetenten Umgang mit sozialen Medien schult und sie dafür sensibilisiert, wie sie auf Cybergrooming reagieren können, bietet das einen gewissen Schutz. Und wenn es doch geschieht, sollte man in jedem Fall eine Strafanzeige erstatten.

Gibt es kritische Punkte in der Kommunikation, über die man Kinder aufklären kann – wenn z. B. der Täter darauf drängt, die Handynummer zu bekommen und den Austausch von der Plattform aufs Handy zu verlagern, sodass niemand mehr mitlesen kann?

Objektive Kriterien für Grenzüberschreitungen zu formulieren, ist schwierig. Im Idealfall entwickeln Kinder ein Gespür dafür, was nicht in Ordnung ist.

Wenn Kinder selbst in der Lage sind, zu erkennen, dass die Frage oder die Forderung des Gegenübers gerade unpassend ist und ihre Grenzen verletzt, bietet das einen gewissen Schutz.

Das setzt aber voraus, dass sie das Unrecht, welches ihnen geschieht, überhaupt als solches erkennen und benennen können und dass sie sich jemandem mitteilen können.

Welche Straftatbestände kommen bei Cybergrooming in Betracht?

Es gibt zwei hauptsächliche Straftatbestände bei Cybergrooming: erstens nach § 176b Strafgesetzbuch (StGB) die Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Strafrahmen sieht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor. Umfasst werden hierbei sämtliche Formen der aktiven unmittelbaren und intensiven psychischen Beeinflussung mit einer gewissen Hartnäckigkeit bzw. Nachdrücklichkeit, wobei auch neutrale Inhalte umfasst sind. Die notwendige Einschränkung der Strafbarkeit erfährt die Vorschrift im subjektiven Bereich.

Erforderlich ist insofern, dass der Täter entweder in der Absicht handelt, das Kind zu sexuellen Handlungen am oder vor dem Täter oder Dritten zu veranlassen oder solche durch den Täter oder einen Dritten zu dulden.

Erfasst ist auch, wenn der Täter beabsichtigt, das Kind zu einer Handlung i. S. d. § 184b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 StGB zu veranlassen. Also Taten im Vorfeld der Herstellung kinderpornografischer Inhalte. Dass es tatsächlich zu sexuellen Handlungen kommt, ist hingegen nicht erforderlich.

Bei Cybergrooming knüpft der Gesetzgeber an eine Vorbereitungshandlung an, eine dem sexuellen Kindesmissbrauch vorgelagerte Verhaltensweise, und weist in der Gesetzesbegründung auf die besondere Gefährlichkeit hin, die damit verbunden ist. Zu den objektiven Voraussetzungen dieser Vorbereitungshandlung zählt, dass sie sich bereits in Richtung des Kindes manifestiert haben muss. Das „Einwirken“ setzt dabei eine gewisse Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit seitens des Täters gegenüber dem Kind voraus. Es muss sich zur Erfüllung der Voraussetzungen der Strafbarkeit dabei jedoch nicht um ein Kind – d. h. juristisch eine Person unter 14 Jahren – handeln.

Schon wenn der Täter nur glaubt, mit einem Kind zu chatten, de facto die Kommunikationspartner*in aber z. B. eine Ermittlungsbeamt*in ist, kann er sich strafbar machen.

Außerdem kommt gegebenenfalls zweitens eine Strafbarkeit gem. § 176a StGB wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind in Betracht. Der Strafrahmen sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. In diesem Fall findet das „Einwirken“ auf das Kind durch einen pornografischen Inhalt oder entsprechendes Reden statt. Der Inhalt muss pornografisch und nicht lediglich sexualbezogen sein. Das kann der Fall sein, wenn der Täter einen entsprechenden Inhalt übersendet, der abgebildete Personen in grobem sexuellem Kontext objektiviert und diesen mit einer sexualbetonten Nachricht verbindet. Beim bloßen Übersenden pornografischer Dateien an Minderjährige – und zwar auch an Jugendliche – kommt jedoch eine Strafbarkeit gemäß § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht.

Strafbar macht sich der Täter also nicht erst dann, wenn es ihm gelungen ist, das Kind zu sexuellen Handlungen vor der Webcam zu bewegen, sondern es reicht, wenn er schreibt: „Schick mir doch mal ein Nacktfoto von dir“?

Das ist strafrechtlich stets anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen. Die gesamte Kommunikation und die Begleitumstände spielen eine Rolle. Ein einzelner, nur halb ernst gemeinter Kommentar reicht eventuell noch nicht aus, aber wenn deutlich wird, dass es sich um eine wiederholte und ganz gezielte Aufforderung handelt, dann ist eine strafrechtliche Relevanz gegeben.
 

 

Inwiefern spielt die Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt in Ihrer Arbeit eine Rolle?

Dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen. Im Bereich der Kinder- und Jugendpornografie handelt es sich weit überwiegend um männliche Tatverdächtige. Aus meiner Erfahrung werden sowohl Mädchen als auch Jungen Opfer von Cybergrooming.

Wie gestaltet sich die internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden im Bereich „Cybergrooming“?

Im Wege der Rechtshilfe, wenn es also darum geht, Ermittlungsschritte in einem anderen Land umzusetzen. In Abhängigkeit vom Tatvorwurf übergeben wir auch Fälle an Strafverfolgungsbehörden in anderen Ländern, wenn die Tatverdächtigen dort leben. Gerade im Bereich der Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen funktioniert die internationale Zusammenarbeit nach meiner Erfahrung unkompliziert und gut.

Was sollte man beachten, wenn man Strafanzeige erstatten möchte?

Man kann das auf unterschiedlichen Wegen tun, bei der örtlichen Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft, über die Onlineanzeige oder über die Internetseite www.fragzebra.de. Wesentlich dabei ist immer die Sicherung von Beweismaterial, Hinweise auf die Identität des Beschuldigten, z. B. das Profilbild, die Profilinformationen, die Angabe, auf welcher Plattform die Kommunikation wann stattgefunden hat, eventuell eine Handynummer oder E-Mail-Adresse. Außerdem ist der gesamte Chatverlauf unter Umständen relevant und sollte aufgehoben und im Idealfall mit Screenshots gesichert werden.

Gianna Maria Graf ist Staatsanwältin bei der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) und dort tätig in der „Task Force zur Bekämpfung des Kindesmissbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornographie in digitalen Medien“.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Prüferin in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).