Schöne neue Medienwelt

Zur Geschichte der Mediengesellschaft im digitalen Zeitalter

Wolfgang Pensold

Köln 2023: Böhlau
Rezensent/-in: Marian T. Adolf

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 89-90

Vollständiger Beitrag als:

Schöne neue Medienwelt

Sollte es Zeitgenoss*innen geben, die die letzten 50 Jahre der digitalen Medienentwicklung verpasst haben, so könnten sie durch die Lektüre von Wolfgang Pensolds Buch ihren Wissensstand ziemlich lückenlos auf das heutige Niveau heben. Schöne neue Medienwelt liefert eine detaillierte, aber niemals langatmige Darstellung der wichtigsten Etappen der Digitalisierung der Medien und der Kommunikation. Sie beginnt mit dem Einzug des Computers in den Haushalt, dargestellt anhand der Produktpalette von Apple, vollzieht nach, wie die E-Mail in den Alltag tritt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass solche technischen Innovationen stets mehr sind als technologische Entwicklungsschritte: Sie verändern immer auch die menschliche Kommunikation und damit das gesellschaftliche Zusammenleben. Geschickt verwebt der Autor historische Daten, technologische Genealogien und soziale Folgen dieser Entwicklung.

Bei der Lektüre ereilt den Leser immer wieder das nostalgische Gefühl, eigene Erfahrungen nachzuerleben. Der Aufstieg von Computer und Internet ist für viele Zeitgenoss*innen Teil der eigenen Medienbiografie. Immer wieder wird einem bewusst, dass viele der Innovationen, die längst unseren Alltag prägen, noch gar nicht so alt sind. Dass beispielsweise FaceTime erst seit 2010 mit dem iPhone 4 weite Verbreitung gefunden hat, ist ein solches Datum, ebenso wie die Tatsache, dass Letzteres bei seinem Erscheinen 2010 in den USA für gerade einmal 199 Dollar zu haben war. Erst die sorgfältige Datierung einzelner Technologien und Techniken führt uns die Schnelligkeit der Digitalisierung der Medienkommunikation vor Augen.

Pensold beschreibt Aufschwung und Fallstricke des E‑Commerce ebenso wie den medientechnisch ermöglichten Aufstieg der Selfie-Kultur, geht auf Instagram, Snapchat und Photoshopping ebenso ein wie auf Ghosting, Stalking und Cybermobbing. Er beschreibt die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs und den unaufhaltsamen Aufstieg von Amazon zum globalen Kaufhaus. Die Besprechung neuer Medienformen wie dem MP3-Player, dem E‑Book-Reader oder dem Tablet geschieht nicht ohne Verweis darauf, wie Big-Tech-Konzerne stets darauf bedacht sind, die Kulturproduktion in proprietäre digitale Ökosysteme zu packen. Pensold erklärt das Geschäftsmodell von Google und die Ankunft einer ausufernden Datenökonomie, die immer genauere Vermessung des digitalen Menschen in seiner primären Rolle als Kund*in. Auch die sogenannte Sharing Economy, die Karriere des Homeoffice, die Anfänge von Tesla, die Problematik des Elektroschrotts und die fehlende Nachhaltigkeit unserer digitalen Konsumgesellschaft werden besprochen.

Das Kapitel über Streaming und Gaming führt uns zurück in die Hochzeiten von Tauschbörsen wie Napster. Dass Digitalisierung eben auch Miniaturisierung, Virtualisierung sowie die Individualisierung des Medienkonsums bedeutet, wird in vielen der beschriebenen Entwicklungen deutlich. Wenn etwa die Durchsetzung von streamingfähigen Mediaplayern die Rezeption audiovisueller Inhalte von den Zeitstrukturen des Fernsehzeitalters entkoppelt, werden damit zugleich auch jene Entwicklungen befördert, die heute zu einem demokratisch bedenklichen Niedergang der redaktionell bewerkstelligten Massenkommunikation führen.

Die Schattenseiten der Digitalisierung bleiben nicht unerwähnt. Pensold diskutiert die Entwicklung des Internets zwischen Wissensrevolution und sozialer, politischer sowie kultureller Segmentierung und widmet sich dem Internet als Raum konflikthafter Kommunikation. Heute virulente Phänomene wie Shitstorms und Hatespeech werden ebenso thematisiert wie der sogenannte „Kulturkampf“ der Gegenwart, die entzivilisierenden Tendenzen in den sozialen Netzwerken und Messengerdiensten, die Radikalisierung im Netz, die Absurditäten von QAnon und anderen allgegenwärtigen Verschwörungstheorien. Auch der virtuosen politischen (Un‑)Kommunikation von Donald Trump und seinem Erfolgsmedium Twitter ist zu Recht ein eigenes Kapitel gewidmet.

Der Autor versteht es dabei auch immer, den Wandel der Medienkultur, die mit neuen Technologien, neuen Nutzungsformen und neuen innovativen Angeboten einhergeht, darzulegen. Die detaillierte Technik- und Produktgeschichte der digitalen Medien wird um die Auswirkungen der rasanten Digitalisierung ergänzt, der Autor zeichnet ökonomische Kalküle, technische Möglichkeiten und soziale wie politische Folgen nach. Aus der krisenhaften Perspektive der Gegenwart fügen sich Pensolds Ausführungen zu einer Problemerzeugungsgeschichte der Plagen von Fake News, Desinformation, Empörungskommunikation, diskursiver Fragmentierung und politischen Polarisierungen, die nur scheinbar plötzlich über uns hereingebrochen sind.

Und so führen Pensolds Beschreibungen der schönen neuen Medienwelt mitten in die chaotische digitale Gegenwart, in der wir uns mit den Chancen und Gefahren der künstlichen Intelligenz beschäftigen, in der kein Tag ohne Schlagzeilen über Elon Musk vergeht und von der wir nicht absehen können, wo sie uns noch hinführen wird. Die Anspielung auf den deutschen Titel des dystopischen Romans von Aldous Huxley erweist sich letztlich als passend. Und wenn das Buch nach genau 222 Seiten endet, hat man nicht nur den Eindruck, ein weit ausführlicheres Werk gelesen zu haben. Vor allem machen Wolfgang Pensolds Ausführungen deutlich, dass Mediengeschichte nicht nur Zeit- oder Technikgeschichte, sondern in ganz wesentlichem Maße auch Gesellschaftsgeschichte ist.

FH-Prof. Dr. Marian Adolf