„Schönreden ist jedenfalls Quatsch!“

Jan Freitag im Gespräch mit Maja Göpel

Prof. Dr. Maja Göpel ist Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung.

Prof. Dr. Maja Göpel ist Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung. Sie sagt: „Aus der Notwendigkeit, zu handeln, kommen wir nicht heraus.“ Um der Klimakrise zu begegnen, müsse die Gesellschaft anfangen, Dinge umzusetzen, statt immer nur auf Gradzahlen zu starren.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 18-23

Vollständiger Beitrag als:


Wann wurde Ihr Interesse am Umweltschutz erst zur Berufung, dann zum Beruf?

Vermutlich vor der UN-Klimakonferenz 2001 in Bonn, bei der ich zwar nicht akkreditiert war, aber trotzdem an vielen der Side Events teilgenommen habe. Mich hatte das Thema „Nachhaltigkeit“ im Studium zur Medienwirtin angetrieben und meine Diplomarbeit ist der Nachhaltigkeitskommunikation gewidmet. Aber in die Politikprozesse eingestiegen bin ich erst, als ich dort mit Leuten wie Klaus Töpfer geredet und direkt mit anderen eine europäische Jugendorganisation gegründet habe.

Das ist mehr als 20 Jahre her. Seither gab es bei ungebremst steigenden Emissionen viele Klimagipfel voll ehrgeiziger Abkommen mit zwei Zahlen, die den politökonomischen Diskurs bestimmen: 1,5 oder 2 Grad maximale Erderwärmung. Können wir die aus Ihrer Sicht noch erreichen?
 


Auch 2 Grad sind noch viel, viel, viel besser als 3 Grad Erhitzung.



Ich finde schon die Frage nicht allzu hilfreich. Im Prinzip ist es zwar richtig, wissenschaftlich fundierte Ziele so zu setzen, dass wir die Überschreitung bestimmter CO₂-Budgets verhindern, von denen wir wissen: Sie ziehen sehr viele sehr gravierende Konsequenzen nach sich, deren Gesamtvolumen kaum vorhersehbar wäre. Deshalb würde es nicht nur sehr teuer werden, sondern auch sehr viele Dinge, die wir heute noch gewohnt sind, unmöglich machen, wenn wir diese Nutzungsgrenzen überschreiten.

Warum ist die Frage nach Gradzahlen kontraproduktiv?

Weil wir anhand dieser Budgets rückwärts rechnen sollten, wie viel CO₂ wir in welcher Zeit noch verbrauchen dürfen, und einen Transformationspfad bauen, den man daran messen muss, ob die Maßnahmen im richtigen Verhältnis zum Ziel stehen. Wenn wir jedoch direkt nach der Zielvereinbarung diskutieren, ob die 1,5 oder 2 Grad überhaupt noch erreichbar sind, anstatt einfach das, was wir wissen, so schnell wie irgend möglich umzusetzen, verlabern wir weiter unsere Chancen und erwecken den Anschein, als ob es sich sonst nicht mehr lohne, als ginge es um einen Schalter, Klimawandel an oder aus.

Dabei geht es darum, dass auch 2 Grad noch viel, viel, viel besser sind als 3 Grad Erhitzung. Aus der Notwendigkeit, zu handeln, kommen wir also gar nicht heraus.

Die Botschaft lautet also?

Weder wie ein Reh im Scheinwerferkegel aufs herannahende Temperaturziel zu starren, noch wie ein Faultier irgendwann vom brennenden Baum zu plumpsen, sondern sich klarzumachen: 1,6 Grad sind viel besser als 2 Grad. Und 2,1 Grad viel besser als 3. Denn die will wirklich niemand von uns erleben.

Bedeutet das aus krisenkommunikativer Sicht demnach, bei den Zielmarken möglichst unkonkret zu bleiben und dafür das Mindset der Menschen so zu beeinflussen, dass sie zur Veränderung der Wegmarken bereit sind?

Beides ist wichtig. Wir brauchen quantifizierbare Zielgrößen, sonst ist ja unklar, wie schnell wir agieren sollten. Aber wir brauchen eben genau die vielen kleinen Zwischenziele, die dann zeigen, ob wir auf Kurs sind. Also ob wir es jetzt schaffen, den Trend zu drehen, anstatt schon wieder mehr Emissionen als zuvor auszustoßen. Denn je weniger das infrage gestellt wird und umso konsequenter die Lenkungswirkung der politischen Mittel auf die Zielmarken ausgelegt und ihre Wirkung gemessen wird, umso eher werden auch die Aufmerksamkeit und die Alltagspraxis der Menschen verändert.

Was bedeutet das für die politische und publizistische Kommunikation?

Dass die Menschheit darin als lernbereite, anpassungsfähige und kreative Spezies dargestellt wird, die ihre Zukunft selbst gestalten kann, sofern sie sich nicht von einem Konsum-, Bequemlichkeits- und Anspruchsnarrativ unterwerfen lässt, das wir mit viel Geld dahinter normalisiert haben.

Aber wenn nur eine Minderheit bereit ist, persönlich Konsequenzen zu ziehen – reichen da Appelle an die Eigenverantwortung? Oder muss die Gesetzgebung ran?

Sowohl als auch. Wobei wir hier mal wieder vorsichtig sein sollten mit solch hypothetischen Spielchen und Framings, die nicht den empirischen Befunden entsprechen: Wiederholt geben 80 % der Deutschen an, dass Klimaschutz unter den Top 2 bis 3 der wichtigsten Themen für sie ist. Ja, es gibt den Gap zwischen Sagen und Im-Alltag-Tun.

Ein gewaltiger Gap sogar …

Darum ist es zentral, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen und politischen Strategien, in denen Industrie- und Lebensmittelproduktion, Mobilität oder Infrastrukturen geplant, subventioniert, angereizt und gefördert werden, neu ordnen, damit Nachhaltigkeit zum Standard und für alle überall zugänglich wird.

Damit entwickeln wir dann auch hier die Lösungen, die im 21. Jahrhundert Chancen auf globale Verbreitung haben. Dieser Kreislauf muss so kommuniziert werden, dass jene, die überzeugt werden wollen, auch überzeugt werden können.
 


Wer Probleme transparent benennt, kommt in den Lösungsmodus, wer sie verschweigt, schürt Ängste ob versteckter Agenden.



Das bremsen konservative Politiker*innen im Rahmen ihrer Wahlzyklen allerdings gern mit der Floskel aus, alle mitnehmen zu müssen, also nicht ständig mit Konsequenzen und Wahrheiten zu verschrecken.

Wie schon angedeutet, lassen sich mittlerweile theoretisch 80 %, die den Klimawandel als reale Bedrohung betrachten, sehr wohl mitnehmen. Diese Menschen sind in großer Sorge, aber in noch größerer davor, dass Politik, Wirtschaft und die Medien zu wenig dagegen unternehmen. Das heißt, dieses Rumdrücken, Wahrheiten zu unterschlagen, beeinträchtigt das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit weit mehr, als sie klar zu formulieren. Das Überforderungsnarrativ hinkt der öffentlichen Wahrnehmung extrem hinterher – was sich auch darin zeigt, dass Politiker wie Robert Habeck, der unbequeme Wahrheiten offener ausspricht, im Sympathieranking weiter oben stehen als jene, die zögern. Wer Probleme transparent benennt, kommt in den Lösungsmodus, wer sie verschweigt, schürt Ängste ob versteckter Agenden.

Welche Rolle spielen wir, die Medien, um, wenn schon keinen Konsens, so doch wenigstens allgemeine Akzeptanz unwiderlegbarer Realitäten zu erzielen?

Durch umfassende, ausgewogene Informationen. Dauerhaft. Es gibt da z. B. die Initiative KLIMA° vor acht, die einerseits um ehrliche Aufklärung über den Stand des Klimawandels und der restlichen CO₂-Budgets bemüht ist, andererseits mehr mediale Aufmerksamkeit für Lösungen zur Primetime fordert. Menschen lernen unter drei Motivationsfaktoren: moralisch, um schlechte Zustände zu beenden; innovativ, um bessere Zustände zu erreichen; und komparativ, indem sie etwas Überzeugendes nachmachen. Berichterstattung, die beschreibt, was ist, wie es sich verbessern lässt und was das Einzelnen ebenso wie allen anderen bringt, ist zielführende Berichterstattung.

Die sozialen Medien führen zwar zur Erweiterung und damit Demokratisierung der Debattenräume, andererseits aber auch zu deren Radikalisierung?

Die Plattformen an sich bieten zunächst mal allen gleichermaßen Platz zur Entfaltung. Aber durch die Algorithmisierung der Beitragspräsenz werden negative Emotionen und Tabubrüche bekanntlich schneller nach oben gespült. Das verzerrt die Wahrnehmung dessen, was inzwischen als normal gilt. Auch was die Umgangsformen betrifft, hat es eine Erosion zum Negativen gegeben. Auf der anderen Seite sehen wir aber, wie aufklärerische Positionen dank Social Media eine Präsenz kriegen, die auf den Plattformen klassischer Medien kaum möglich wäre.

Ein Rezo z. B. …

… Oder auch Mai Thi Nguyen-Kim, die ebenso wie viele Podcaster*innen ihre Informationen in einer Form und Frequenz verbreitet, mit denen tradierte Medien schwerer klarkommen oder sie nun kopieren und bei sich einbauen. Eine Rückbesinnung auf die Funktion von Medien als vierte Gewalt ist aber aus meiner Sicht noch etwas anderes und kann nur funktionieren, wenn das Spielfeld Debattenräume sorgfältig kuratiert und Beiträge gut recherchiert werden. Einen solchen Schutzraum gibt es auf Social-Media-Kanälen natürlich nicht. Ich merke ja bei mir selbst, wie ich mich vor manchen Tweets frage, ob ich die Kraft habe, das Feuer zu parieren.

Als Wissenschaftlerin oder als Frau?

Beides, aber Letzteres ist die schwerere Rolle. Selbst Wissenschaftlerinnen, die nie persönlich werden, werden nachweislich anders und öfter als ihre Kollegen auf einer sehr persönlichen Ebene dafür attackiert, wie sie reden, aussehen, agieren. Schutzräume, in denen sich Menschen aller Art trauen, Dinge barrierefrei darzulegen, müssen wir als zivilisatorische Errungenschaften verteidigen.

Was ist da Ihr Ratschlag als wissenschaftliche Publizistin an Gleichgesinnte, die sich gegen eine kleine, aber sehr laute Minderheit behaupten müssen: dagegenhalten oder ignorieren?

Da gibt es mehrere Strategien, aber die wichtigste vorweg: Ich halte bei direkten Angriffen oft gegen, würde aber niemals Menschen persönlich, also anders als evidenzbasiert angehen. Mir geht es daher selten um Einzelfälle, sondern ich versuche, die Muster aufzuzeigen, die sich abspielen. Also nicht, dass ich als Frau angegriffen werde, sondern dass diese Form von Angriff nachweislich Frauen viel häufiger trifft. Mir ist an Transparenz über die strukturelle Verhältnismäßigkeit gelegen.

Aber weil diese Verhältnismäßigkeit tendenziell eine strukturelle Unverhältnismäßigkeit zugunsten der Lauten, Brutalen, Bauchorientierten ist, fragen sich die Leisen, Friedfertigen, Vernunftbegabten langsam: Sollten wir nicht auch mal zurückpöbeln?

Bei mir persönlich endet der Versuch der Überzeugung spätestens nach zwei Schritten, in denen die andere Seite zeigt, dass es ja gar nicht um die Inhalte geht. Aber zurückpöbeln? Als Wissenschaftlerin möchte ich einfach mit Fakten und Quellen arbeiten, nicht mit Beschimpfungen. Denn viel schlimmer ist ja, dass viele der Zivilisierten den Diskursraum verlassen, wenn es zu fies wird.
 


Je öfter wir diese Spaltung der Gesellschaft herbeischreiben, desto mehr betrachten Menschen die Welt durch diese Perspektive.



Wenn Sie bei bloßer Wissenschaftskritik taktvoll bleiben – wie ist es dann bei der nächsthöheren populistischen Zündstufe: manifester Wissenschaftsfeindlichkeit, die Haltung mit Wissen gleichsetzt und YouTube-Videos höher gewichtet als evidenzbasierte Forschung?

Diese Personen können Sie sowieso nicht medial, sondern nur im persönlichen Austausch erreichen. Ich bin keine Medienwissenschaftlerin, finde aber interessant, was Bernhard Pörksen als solcher dazu gesagt hat: Wichtiger als Debunking, also die reaktive Widerlegung von Fake News, sei Prebunking – die aktive Vorbeugung wissenschaftsfeindlicher Behauptungen, bevor sie zum Trend werden. Zugleich sollten wir uns aber davor hüten, solche ersten Behauptungen zu Trends hochzuschreiben und die Filterblasen, in denen sie entstehen, damit aufzuwerten. Je öfter wir diese Spaltung der Gesellschaft herbeischreiben, desto mehr betrachten Menschen die Welt durch diese Perspektive, desto größer könnte dieser Spalt werden. Ähnliches gilt für die erwähnte Wissenschaftsfeindlichkeit. In der Pandemie hat sich zuletzt ja die Wertschätzung großer Teile der Gesellschaft für Wissenschaft und Forschung gezeigt.

Und beim Klimawandel?

… Fiel mir grad auf, wie Ökonomen, die zuvor moralisierende Bevormundung durch jahrzehntelange Klimaforschung deklariert haben, einige Änderungen in ihr makroökonomisches Modell getippt haben und der Bundesregierung daraufhin empfehlen, die Gasimporte aus Russland sofort zu stoppen, sonst würde sie unmoralisch und feige handeln. In dieser Form sollte sich Wissenschaft aus meiner Sicht nie in politische Diskurse einmischen.

Wir können nur die wissenschaftliche Grundlage politischer Entscheidungen liefern und aus Expertensicht bewerten, ob die Maßnahmen auch zu den deklarierten Zielen passen, nie die Entscheidungen, welche Ziele aufgegeben werden und bei welcher Risikokalkulation. Da ist unsere Zunft gut beraten, mit der Macht, die wir durch Forschung und Prognosen haben, verantwortungsvoll umzugehen.

Finden Sie eigentlich, dass die Leugnung des Klimawandels angesichts seiner unwiderlegbaren Existenz ein Straftatbestand wie Hatespeech sein sollte?

(Überlegt ziemlich lange) Ich bin tatsächlich aktuell intensiv damit befasst, inwieweit das Nichthandeln juristisch als Verstoß gegen die völkerrechtlichen Verträge, aber auch gegen unsere Verfassungsziele zu ahnden ist. Aber dass eine x‑beliebige Person das nicht mehr leugnen kann, das ginge mir zu weit. Viel wichtiger finde ich daher, dass Wissenschaftler*innen, deren Erkenntnisse regelmäßig falsifiziert werden, die aber dennoch gegen unwiderlegte Kolleg*innen polemisieren, nicht als gleichberechtigte zweite Meinung in den Medien gehört werden.

Stichwort „False Balance“.

Oder False Bias. Da muss der öffentliche Raum selbst dann sorgfältig kuratiert werden, wenn die Redaktion einer Talkshow meint, Meinungspluralität widerspiegeln zu müssen. Stichhaltige Evidenz liefern und eine Meinung haben sind eben nicht das Gleiche – wie das stichhaltige Monitoring der Einhaltung von Zielen nicht das Gleiche ist, wie Ziele zu definieren. Um zu zeigen, dass selbst ein überwältigender Konsens weiter von einigen bestritten wird, muss man die wenigen ja nicht gleich in identischer Anzahl einladen; es reicht, ihre Existenz zu erwähnen.

Und den Rest erledigt gutes Fact-Checking?

Theoretisch ja. Praktisch war es vor der letzten Bundestagswahl so, dass Klimawissenschaftler*innen sich die Parteiprogramme durchgeschaut haben, die sich zu den Pariser Klimazielen bekennen, und erkannt haben, dass nicht eins davon ausreichende CO₂-Einsparpotenziale enthält. Bei denen, die am schlechtesten abgeschnitten hatten, war die Reaktion darauf dann der Vorwurf, die Wissenschaft reagiere damit ideologisch. Da fällt mir nix mehr ein.

Müssen sich die Medien in der Klimaberichterstattung zwischen Alarmismus und Diplomatie entscheiden – oder geht beides?

Gegenfrage: Ist eines von beiden denn Ihr Auftrag? Besteht der nicht darin, ehrlich zu berichten, wo wir stehen, und Leute zu zitieren, die nach Lösungen suchen? Da gibt es mittlerweile ja Schlagworte wie „konstruktiver Journalismus“ oder aus dem Englischen „solutions journalism“. Schönreden ist jedenfalls Quatsch! In einer partizipativen, lösungsorientierten, lernfähigen Gesellschaft möchte doch niemand erst dann gewarnt werden, wenn die Katastrophe da ist. Genau das aber ist beim Klimawandel geschehen, sodass es jetzt schockbasierte Innovationen braucht, um auf die Krise zu reagieren.
 


Wir leben in einer komplett anderen Gesamtsituation, als sie in der menschlichen Geschichte bisher gegeben war.



Gibt es aus Ihrer Sicht als publizistisch tätige Wissenschaftlerin so etwas wie einen weder didaktischen noch verharmlosenden journalistischen Handlungsleitfaden „Klimawandel erklären“?

Mein Tipp wäre die Erwähnung und Erklärung des Begriffs „Anthropozän“.

Also die Klassifizierung unserer erdgeschichtlichen Epoche als menschengeprägt.

Weil wir in einer Welt leben, die sich radikal von jener vor der Industrialisierung unterscheidet, ist die Idee, vorindustrielle Lösungen oder auch nur solche des frühen 20. Jahrhunderts zur Gestaltung des Anthropozäns zu wählen, schlicht und einfach aus der Zeit gefallen. Bevor wir Lösungen suchen, müssen wir erst mal die aktuelle Lage richtig verstehen. Und neben der Erderhitzung gehören dazu auch das Artensterben, Vermüllung, die Begrenztheit materieller Ressourcen. Wir leben in einer komplett anderen Gesamtsituation, als sie in der menschlichen Geschichte bisher gegeben war. Kontext herstellen ist die Aufgabe der Medien.

Jetzt sorgt die Erkenntnis, wie endlich wir wirklich sind, dafür, dass wir hier im Westen unser Konsumverhalten grundlegend ändern müssen. Wie sähe da der journalistische Handlungsleitfaden „Wohlstandseinschränkung erklären“ aus?

Er würde zuallererst mal die Begrifflichkeiten klären. Wenn wir solche wie „Wohlstand“ oder „Konsum“ und ganz wichtig „Wachstum“ entglorifizieren und auseinandernehmen, was sich dahinter verbirgt und warum das immer positiv sein sollte, dann kämen wir schon ein Stück weit aus der Panikzone des Verlustdenkens heraus. Ob mit Wachstum das zunimmt, was wir uns unter Wohlstand vorstellen, oder ob mit Konsum Wertschöpfung verbunden ist, sagen so abstrakte Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt gar nicht aus. Wir brauchen ein neues Fortschrittsvokabular, und da könnte der Journalismus mithelfen.

Welche Vokabeln schlagen Sie vor?

Wertschöpfung ist doch ein Superstart: Was empfinden wir als wertvoll? Und wie drückt sich das in Zahlen aus, mit denen wir ökonomische Geschichten von Kosten-Nutzen oder „leisten können“, von „wirtschaftlich handeln“ oder „erfolgreich sein“ erzählen? Ist der soziale, ökologische, menschliche Mehrwert aus einer Produktion oder einer Leistung in den Preisen ausgedrückt? Oder die Minderwerte, die wenig rücksichtslose Produktionsprozesse mit sich bringen? Dann würden die Geschäftsmodelle, Tätigkeiten und Investitionen honoriert, die ökologisches, soziales, menschliches Vermögen in einer Gesellschaft aufbauen, anstatt dass wir jubeln, wie viel Geld irgendwo angehäuft wird, egal, wer dafür aus Wohnungen vertrieben wird oder Landflächen verloren hat, wie die dann genutzt werden und ob die Nutzung den Bestand langfristig gut erhält oder regeneriert. Ohne einen Blick auf diese qualitativen Fortschrittsfragen starren wir gebannt auf den Wachstums-Tacho und fragen dabei weder, wohin es eigentlich gehen soll, noch was die Tankanzeige so sagt.
 


Dass Konsumismus Wohlstand mehrt, ist kein Naturzustand, sondern das Narrativ unablässiger Werbebotschaften.



Und bei diesem Tacho-Blick gilt aus publizistischer Sicht dann auch: nicht sagen, was schlecht ist, sondern wie wir es besser machen?

Ja, klar! Wenn wir mal ehrlich bilanzierten, sähen viele an Nachhaltigkeit orientierte Veränderungen direkt wie ein Schritt nach vorn aus (lacht). Natürlich darstellen, wie sehr die konventionelle Landwirtschaft die Böden ruiniert, aber gekoppelt an die Information, wie regenerative Landwirtschaft den Böden dabei hilft, wieder Nährstoffe und Wasser zu speichern. Gleiches gilt für Mobilität, Stadtplanung. Bebauung eines Planeten, dessen Landfläche begrenzt ist. Eher positiv sein und Mut machen.

Geht es auch darum, Verzicht nicht als Verlust, sondern als Zugewinn darzustellen und Wohlstand weniger materiell als immateriell, in Form von Ruhe, Zeit, Konzentration aufs Wesentliche z. B.?

Es geht vor allem um Verantwortung und die Freiheit, auch wieder aufhören zu können. Dass Konsumismus Wohlstand mehrt, ist doch kein Naturzustand, sondern das Narrativ unablässiger Werbebotschaften. Dass mangelnder Konsumismus unsere Wirtschaft ins Stottern bringt, ist der eigentliche Elefant im Raum. Aber an den will keiner ran, dann müsste nämlich deutlich mehr verhandelt werden, als weniger schädliche Produkte zu shoppen.
 


Dies ist die gekürzte Fassung eines Interviews, das im August 2022 im Magazin „journalist“ erstmalig veröffentlicht wurde.