Schweden: Witz in der Coronakrise

Jörg Räwel

Jörg Räwel ist Soziologe und Publizist.

Anhand der massenmedialen Reaktionen zum Vorgehen Schwedens in der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie werden die Funktionen von humoristischer und moralischer Kommunikation erläutert. Es wird gezeigt, dass Reflexivität unterdrückende, schnelles und unmittelbares Handeln ermöglichende moralische Kommunikation als ein wichtiges Medium verstanden werden kann, das die Durchsetzung des gesellschaftlichen Lockdowns in der Coronakrise ermöglichte bzw. ermöglicht. Der Lockdown wird als die Unterordnung nahezu aller funktionalen Sphären der Gesellschaft (etwa Politik, Wirtschaft, Kunst, Erziehung, Religion) an die Erfordernisse des Gesundheitssystems aufgefasst, das in seinem Funktionieren nicht lebensgefährdend „überlastet“ werden soll.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 49-51

Vollständiger Beitrag als:

Ein Witz zeichnet sich dadurch aus, dass er in Form einer Pointe eine (allenfalls konstruiert) konventionelle Sichtweise infrage stellt. Also Erwartungen, die mit etablierten Perspektiven einhergehen, absichtlich enttäuscht und so ermöglicht, deren fadenscheinige Bewährtheit zu offenbaren. Witze, als eine der vielfältigen Formen humoristischer Kommunikation, reflektieren also gängige, eingefahrene Sichtweisen (vgl. Räwel 2005). Guter Humor schafft es, zum Nachdenken anzuregen.

Die Strategie Schwedens in der Bekämpfung der Coronapandemie scheint, so gesehen, das Zeug zu haben, als extrem guter Witz durchzugehen. Es ist notwendig, alle Kitas und Schulen zu schließen? – In Schweden bleiben sowohl Kitas als auch Schulen bis zur 9. Klasse geöffnet. Alle Restaurants, Bars und Cafés müssen geschlossen werden? – Schweden zeigt, dass dies unter Beachtung angemessener Distanzierung nicht notwendig ist. Es ist geboten, dass sich selbst unterschiedliche Familien nicht mehr besuchen dürfen? – In Schweden sind Versammlungen erst ab 50  Personen verboten. Humoristisch gleicht oder glich die Situation in Schweden der Disposition von Asterix, der von René Goscinny und Albert Uderzo kreierten Comicserie. Es konnte festgestellt werden:

Wir befinden uns im Jahre 2020 n. Chr., die ganze Welt hat sich auf eine Strategie zur Bekämpfung der Coronapandemie geeinigt … Die ganze Welt? Nein! Ein von unbeugsamen Schweden bevölkertes Land …“

Nun soll es nicht darum gehen, unterschiedliche Strategien zur Bekämpfung der Pandemie zu diskutieren. Zumal davon ausgegangen werden kann, dass kein Staat, auch Schweden nicht, in seinen Bemühungen, Covid‑19 einzudämmen, das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger fahrlässig aufs Spiel setzt. Anhand der massenmedialen Reaktionen auf die schwedische Strategie sollen vielmehr die sozialen Bedingungen humoristischer Kommunikation erläutert werden. Unter welchen Umständen wird der gewöhnlich gesellschaftlich geschätzte Humor dubios oder gar von moralischer Kommunikation verdrängt? Kommunikation also, die gewissermaßen allergisch, im Zuweisen von Achtung und Missachtung auf Handelnde, auf Enttäuschungen von Erwartungen reagiert, die mit (etablierten) Perspektiven verbunden sind.
 

Eigentümliche Neutralität humoristischer Reflexion

Schwedens Strategie weist zwar Grundzüge von Humor auf. Konventionelle Sichtweisen reflexiv zu brechen, ist allerdings lediglich eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung humoristischer Kommunikation. Beim Humor geschehen Reflexionen, also das absichtliche Enttäuschen von Erwartungen, um der Reflexion selbst willen. Humor ist in seiner Reflexivität selbstgenügsam, wie sich idealtypisch etwa an Formen wie dem Nonsens oder dem Zynismus zeigt (vgl. Räwel 2007). Humor lässt sich vorderhand nicht vor einen bestimmten Karren spannen, spezifischen Funktionen zuordnen (vgl. Räwel 2005, S. 34 ff.).

Allerdings ist es gerade durch die eigentümliche reflexive Neutralität des Humors möglich, ihn unschwer zu instrumentalisieren. Etwa durch Moral in Formen wie dem Sarkasmus oder dem Spott; oder durch die Form der Satire in Bezug auf Politik; oder von der Wirtschaft in Form humoristischer Werbung. Auch mit Blick auf Erziehung ist gängig, Unterricht pädagogisch sinnvoll durch Humor „aufzulockern“. Nicht zuletzt ist die Kunst zu nennen. Marcel Duchamps berühmtes Kunstwerk eines Pissoirs als Readymade ist ein vorzügliches Beispiel für seine Instrumentalisierung durch Kunst. Die charakteristische Funktionslosigkeit humoristischer Reflexionen ermöglicht, diese für eine Vielfalt von Funktionen zu (miss-) brauchen (ebd., S. 137 ff.).

Schwedens Strategie in der Krise ist natürlich deshalb kein Witz, weil es das Land nicht darauf anlegt, anderen Staaten eine lange Nase zu drehen, strategisch anders vorzugehen, um der Andersartigkeit willen. Die Strategie, wie auch die anderer Länder zielt selbstverständlich darauf ab, das Leben der Bürgerinnen und Bürger (langfristig) möglichst gut zu schützen. Da es sich bei Covid‑19 um eine neue Infektionskrankheit handelt – mit einem entsprechend hohen Maß an Unwägbarkeiten, Risiken und Unsicherheiten –, sollte, so könnte man meinen, eine strategische Vielfalt in der Bekämpfung der Pandemie zu erwarten sein. An den massenmedialen Reaktionen zum Vorgehen Schwedens zeigt sich jedoch, dass sich rasch eine vorherrschende Strategie durchsetzte. Nämlich ein mehr oder minder harter Lockdown gesellschaftlichen Lebens. Kennzeichen dafür ist, dass das Abweichen von dieser dominanten Perspektive (moralisch) diskreditiert wird, wie an folgender Auswahl von Schlagzeilen veranschaulicht werden kann:
 

Massenmediales Moralisieren

Grundschulen und Restaurants offen. Zweifel am schwedischen Sonderweg in der Corona-Krise werden lauter
(Neue Osnabrücker Zeitung, 25.03.2020)
Schwedens Krisenkonzept. Kann das gutgehen? (faz.net, 31.03.2020)
Wie der schwedische Corona-Sonderweg scheiterte (Tichys Einblick, 06.04.2020
Coronakrise. US-Präsident zieht Schweden als Negativbeispiel heran (Die Presse, 08.04.2020)
Folgen nicht abzusehen. 10 Prozent Sterberate: Schwedens lascher Sonderweg in Corona-Krise droht zu scheitern (Focus online, 17.04.2020)
Strategie gegen Corona. Schweden taugt nicht als Vorbild (Stuttgarter Nachrichten, 26.04.2020)
Hohe Sterberate unter Älteren in Schweden erwartet (euronews.com, 27.04.2020)
Coronavirus in Schweden. „Wir haben die Entwicklung der Todeszahlen unterschätzt“ (Süddeutsche Zeitung, 30.04.2020)
Kein großflächiger Shutdown. Schweden wählt in Corona-Krise Sonderweg – die Wirtschaft bricht trotzdem ein (Focus online, 01.05.2020)
Von wegen die Schweden machen’s besser (t-online.de, 13.05.2020)
Beim Schutz der Alten ist Schweden gescheitert (rbb24.de, 19.05.2020)
Schweden verzeichnet höchste Todesrate seit Jahrzehnten (Frankfurter Rundschau, 20.05.2020).


Die Dominanz einer Perspektive misst sich daran, wie schwer es ist, diese reflexiv zu brechen. Wobei Humor lediglich ein auf Reflexivität spezialisierter Sonderfall ist. Für die moderne Gesellschaft ist eine leichte reflexive Brechung von Perspektiven geradezu charakteristisch. Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sie vielfältig funktional ausdifferenziert ist, etwa in die Systeme der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung, Massenmedien. Es ist üblich, jedes gesellschaftliche Thema reflexiv auf multiple Perspektiven herunterzubrechen. Der Bau einer Schule z.B. wird nicht lediglich unter erzieherischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern es werden etwa auch wirtschaftliche („Da entstehen überbordende Kosten!“), politische („Schadet die Zustimmung zum Bau der Religionsschule unserer Partei?“), künstlerische („Passt diese Art der Architektur in diesen Stadtteil?“) oder etwa massenmediale („Brisantes Thema – darüber müssen wir berichten!“) Aspekte berücksichtigt (vgl. Luhmann 1997).
 

Repression gesellschaftlicher Reflexivität durch den Lockdown

Ein sogenannter gesellschaftlicher Lockdown, den wir sehen bzw. sahen, kann als massive Einschränkung regulärer gesellschaftlicher Reflexivität begriffen werden. Dem Imperativ einer Perspektive – das Gesundheitssystem darf auf keinen Fall überlastet werden, damit menschliches Leben nicht durch Covid‑19 gefährdet wird – haben sich alle anderen gesellschaftlichen Betrachtungsweisen unterzuordnen. Wirtschaft wird weitgehend, abgesehen von lebenswichtigen Sparten wie etwa der Lebensmittelproduktion, „heruntergefahren“ bzw. unter dem Vorbehalt „hochgefahren“, dass es angesichts einer „zweiten Welle“ wieder zum Lockdown kommen muss. Politik verlegt sich darauf, allgemeingültige Normen (etwa „Abstandsregeln“) zur Pandemiebekämpfung hervorzubringen. Massenmedien befassen sich fast monothematisch mit Corona unter vielfältigen Blickwinkeln. Erziehung und Wissenschaft werden in der Schließung von Universitäten und Schulen, bei präferiertem „Homeoffice“ und „Homelearning“, massiv eingeschränkt. Künstlerische, kulturelle und religiöse Veranstaltungen erscheinen obsolet (vgl. Stichweh 2020).

Nicht erstaunlich ist so gesehen, dass Humor lediglich zu Beginn der Krise, als diese als entferntes „chinesisches Problem“ erschien, etwa in den sozialen Medien florierte. Gegenwärtig erscheint damaliger Humor, etwa Witze zu den Hamsterkäufen von Toilettenpapier, fast schon wie eine ferne Erinnerung.

Mit der Reflexivität unterdrückenden Ernsthaftigkeit des gesellschaftlichen Lockdowns wurde humoristische weitgehend durch moralische Kommunikation im negativen wie positiven Sinne ersetzt.

Also einerseits etwa durch Diskreditierung abweichender Perspektiven, wie oben genannte Schlagzeilen zur schwedischen Bekämpfung der Pandemie veranschaulichen. Andererseits durch moralische Appelle und Durchhalteparolen, wie sie beispielsweise auf fast jedem Fernsehkanal dauerhaft eingeblendet wurden: „Wir bleiben zu Hause“, „Together we are strong“, „#StayTheFuckHome“, „#zusammenhalten“ etc.
 

Funktion von Humor und Moral

An diesem Geschehen lässt sich die gegensätzliche Funktion von humoristischer und moralischer Kommunikation verdeutlichen. Während Humor ein Medium ist, das Reflexivität erleichtert, erscheint Moral als eines, das Reflexen dient (vgl. Räwel 2005, S. 155 ff.). Angesichts von augenscheinlich tödlichen Gefahren ermöglicht Moral schnelle, unmittelbare Reaktionen und Handlungen. Eine mit lebensgefährlichen Auswirkungen verbundene Krise wird offenkundig zunächst als Zeitproblem erfahren. Wie der Lockdown zeigt, werden nicht nur humoristische Reflexionen, sondern etwa auch wirtschaftliche Einwände, erzieherische Bedenken, künstlerische Interventionen, ja selbst wissenschaftliche Reflexionen abseits der Virologie und Epidemiologie zumindest anfänglich als irrelevant eingeschätzt. Dies schlicht deshalb, weil dafür angesichts von lebensbedrohlichen Gefahren keine Zeit bleibt – sagt gewissermaßen eine durch (Not-) Regulierungen schnell handelnde Politik und eine Exekutive, die diese Regelungen rasch und rigide durchsetzt und überwacht.

Moral dient dazu, eine fraglos gültige, gar als lebensnotwendig erachtete Perspektive abzusichern. Nämlich dadurch, dass erwartungskonformes bzw. ‑abweichendes Handeln reflexhaft mit Achtung bzw. Missachtung Handelnder belegt wird. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass derzeit Perspektiven abseits der etablierten schnell als Verschwörungstheorien diskreditiert werden. Auch hier erscheint aktuell noch zu zeitaufwendig, gut begründete Bedenken, seien diese nun wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder sonstiger Art, reflexiv von offenkundig absurden Verschwörungstheorien zu unterscheiden.

Schwedens Strategie zur Eindämmung von Covid‑19 kann tatsächlich als „guter Witz“ begriffen werden. Angesichts von Gefahren, die als lebensgefährdend eingeschätzt werden, mag Reflexionen unterdrückende, schnelles Handeln ermöglichende moralische Kommunikation zunächst gute Dienste leisten. Der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann wies Ethik allerdings die Aufgabe zu, vor Moral zu warnen (Luhmann 1990). Die Triftigkeit dieser Auffassung bewahrheitet sich auch in der aktuellen Krise. Die erfolgreiche Bekämpfung einer Pandemie mit immer noch sehr großen Wissenslücken – schon hinsichtlich der zentralen Frage, wie die Letalität von Covid‑19 einzuschätzen ist – bedarf der reflexiven Stärke aller Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Die Dominanz einer Reflexe präferierenden bzw. Reflexivität unterdrückenden moralischen Kommunikation schadet langfristig mehr, als dass sie nutzt.
 

Literatur:

Luhmann, N.: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises. Frankfurt am Main 1990

Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997

Räwel, J.: Humor als Kommunikationsmedium. Konstanz 2005

Räwel, J.: The Relationship between Irony, Sarcasm and Cynicism. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 1/2007/37, S. 142 – 153

Stichweh, R.: Simplifikation des Sozialen. Durch die Corona-Pandemie wird die Weltgesellschaft einer unbekannten Situation ausgesetzt: Was passiert, wenn alle ihre Funktionssysteme zeitweilig einem einzigen Imperativ folgen?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2020, S. 9