Selbstjustiz im Medieninteresse

Vor 40 Jahren begann der Prozess gegen Marianne Bachmeier

Skandale, über die in den Medien intensiv berichtet wird, regen gesellschaftliche Diskussionen an, in denen Wertvorstellungen kontrovers verhandelt werden: Welches Verhalten ist richtig? Was ist gerecht? Welche Strafe hat ein*e Mörder*in verdient? Welche Gefühle oder Rachegelüste hat man als Mutter gegenüber dem Täter der eigenen Tochter? Vor 40 Jahren begann der Prozess gegen Marianne Bachmeier, der wahrscheinlich wie kaum ein anderer in der Mediengeschichte die Frage aufgeworfen hat, welche Strafe der Mörder eines Kindes erhalten soll.

Online seit 18.11.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/selbstjustiz-im-medieninteresse-beitrag-1122/

 

 

Der Fall

Zur Erinnerung: Am 5. Mai 1980 schwänzt die siebenjährige Anna Bachmeier nach einem Streit mit ihrer Mutter die Schule und gerät an den späteren Täter Klaus Grabowski. Dieser ist wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestraft, hatte aber in der Psychiatrie einer Kastration zugestimmt und unterzog sich anschließend einer Hormonbehandlung, die seinen Sexualtrieb wiederherstellen sollte. Grabowski lockt Anna in seine Wohnung, hält sie dort gefangen und erwürgt sie mit einer Strumpfhose. Ob das Mädchen zuvor missbraucht wurde, kann nicht geklärt werden. (vgl. Altenmüller 2022)

Grabowskis Verlobte bringt die Polizei auf die Spur des Täters, er gesteht den Mord, streitet aber ab, das Kind missbraucht zu haben. Die Version Grabowskis: Anna habe ihn erpresst, sie habe gedroht, ihrer Mutter zu erzählen, sie sei von Grabowski sexuell belästigt worden, wenn er ihr kein Geld gebe. Aus Angst, nach einer solchen Behauptung aufgrund seiner Vorstrafe wieder ins Gefängnis zu müssen, habe er Anna schließlich erdrosselt. (ebd.)

Dies erklärt Grabowski auch beim Gerichtsprozess. Die Mutter, Marianne Bachmeier, nimmt an dem Prozess teil und kann, wie sie später aussagt, nicht ertragen, dass Grabowski ihrer Tochter eine Mitschuld an dem Mord geben will. Sie beschließt, Grabowski zu töten: „Er sitzt in Saal 157 des Lübecker Landgerichts, als sich von hinten Marianne Bachmeier nähert – Annas Mutter. Sie zieht eine Beretta, Kaliber 22, aus ihrer weiten Manteltasche, zielt auf Grabowskis Rücken und drückt acht Mal ab. Sechs Schüsse treffen. Der 35-jährige Fleischer stirbt noch im Gerichtssaal. ‚Ich wollte ihm ins Gesicht schießen. Leider habe ich ihn in den Rücken getroffen. Hoffentlich ist er tot‘, sagt Marianne Bachmeier kurz nach der Tat. Die 31-Jährige lässt sich widerstandslos festnehmen.“ (Altenmüller 2022)
 

Tödliche Schüsse im Gerichtssaal | Der Fall Marianne Bachmeier (Der Fall, 27.07.2021)



Der Fall erzeugt ungeheure Aufmerksamkeit und wird zum Medienthema Nummer eins. Wer eigene Kinder hat, kann sich gut in die Gefühle einer Mutter hineinversetzen, die in einem Prozess dem Mörder ihres Kindes gegenübersitzt und sich dann anhören muss, ihr Kind trage eine Mitschuld an seiner Ermordung. Marianne Bachmeier wird nun selbst wegen Mordes angeklagt. Am 2. November 1982 – vor nunmehr 40 Jahren – beginnt in Lübeck der Prozess gegen sie. (vgl. ebd.)
 

Das Urteil: Mord, Totschlag oder Freispruch?

Der Fall führt in der Öffentlichkeit zu einer Diskussion darüber, ob man das Verhalten einer Mutter in einer solchen Situation nachvollziehen kann. Die einen sagen, Selbstjustiz sei nun mal nicht erlaubt, die Tat sei kaltblütig geplant worden und deshalb handele es sich um Mord. Andere können die Gefühle Bachmeiers verstehen und sprechen sich dafür aus, dass Bachmeier nicht bestraft wird. Möglicherweise durch diesen kontroversen öffentlichen Diskurs geleitet, entscheidet sich das Gericht für einen Mittelweg und folgt im Wesentlichen der Verteidigung: Marianne Bachmeier wird am 2. März 1983 nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags im Affekt und unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Haft verurteilt. Es bleibt die Frage, wie das geplante Besorgen der Waffe inklusive Schießübungen im Keller ihres Hauses als „Affekt“ angesehen werden kann. Bei dem Urteil sind wohl mindestens Sympathie und Verständnis für die Mutter im Spiel. Dafür spricht auch, dass Bachmeier bereits im Juni 1985 vorzeitig freikommt. (ebd.)
 

Die Medienvermarktung

Die gut aussehende 30-jährige Marianne Bachmeier wird zu einer Art Medienstar, gleich zweimal wird ihre Geschichte verfilmt. Beide Regisseure – Hark Bohm und Burkhard Driest – hatten wohl darüber nachgedacht, Marianne Bachmeier sich selbst spielen zu lassen: „Die Tatsache, daß er in der Zwischenzeit daran dachte, Marianne Bachmeier in seinem Film sich selbst spielen zu lassen, dementiert Regisseur Böhm [sic!]: ‚Nee … also, ich wundere mich wirklich, wie solche Gerüchte entstehen … nee!‘ Marianne Bachmeier allerdings hat in einer Sendung von ‚Panorama‘ laut über die Möglichkeit ihres Filmdebuts nachgedacht, und Böhm hat durchaus seinem Verleih gegenüber mehrfach geäußert, Bachmeier vielleicht Bachmeier spielen zu lassen. Pit Schröder, […] Mitarbeiter des ‚Filmverlages der Autoren‘: ‚In einem Telephonat fragte er mich: Was hältst du davon, wenn sie die Rolle selber spielt, sie würde das, glaube ich, auch machen. Ich habe ihm gesagt: Gar nichts, es wäre sicher sehr spektakulär, aber sie hat keine Ahnung vom Film!‘“ (Müller-Scherz 1983)

Außerdem verkauft sie ihre Geschichte für 250.000 DM an das Magazin „Stern“. „In 13 Folgen erfahren die Leser Details aus Mariannes unglücklicher Kindheit und Jugend in einem streng gläubigen Elternhaus mit einem autoritären Vater, einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS. Marianne ist mit 16 Jahren zum ersten Mal schwanger und erwartet mit 18 erneut ein Kind. Beide Töchter gibt sie zur Adoption frei. Kurz vor der Geburt der zweiten Tochter wird sie vergewaltigt. Als 1973 ihre dritte Tochter Anna zur Welt kommt, behält die damals 23-Jährige das Kind bei sich.“ (Altenmüller 2022)

Das Bild der liebenden Mutter, die aus Verzweiflung getötet hat, gerät durch die Veröffentlichungen ins Wanken. Bachmeier ist auf jeden Fall zwielichtig. Sie hat nicht nur sympathische Seiten, wodurch ihr Fall nur noch interessanter wird. Der Grund für ihre Tat war vermutlich Rache. Und das können viele Menschen verstehen: „Das Bedürfnis gehört zu unserer Urausstattung, es ist tief verankert im menschlichen Geist. Evolutionsbiologen begründen das damit, dass erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit rechtsstaatliche Institutionen die Aufgabe übernommen haben, für Gerechtigkeit zu sorgen. Zuvor konnten sich die Menschen jahrtausendelang nicht auf Polizei und Gerichte verlassen. Sie mussten selbst dafür sorgen, dass Unrecht gesühnt wird.“ (Lache 2022)

Nach ihrer Freilassung lebt Marianne Bachmeier zunächst in Nigeria, später arbeitet sie in Sizilien als Sterbebegleiterin in einem Hospiz. Sie erkrankt an Bauchspeicheldrüsenkrebs und stirbt 1996 mit 46 Jahren. Sie wird in Lübeck neben ihrer Tochter beerdigt, obwohl sie selbst eine Beerdigung in Palermo vorgezogen hätte. Ihr Interesse, im Mittelpunkt der medialen Berichterstattungen zu stehen, blieb auch während ihrer Krankheit erhalten, das Interesse der Öffentlichkeit hatte zwar nachgelassen, aber ihr Name war immer noch bekannt: Die letzten sechs Wochen ihres Lebens hat der NDR-Reporter Lucas Maria Böhmer in einem Film dokumentiert. (vgl. Altenmüller 2022)  

Quellen:

Altenmüller, I.: Der Fall Marianne Bachmeier: Selbstjustiz einer Mutter. In: NDR.de, 02.11.2022. Abrufbar unter: www.ndr.de

Lache, A.: Experteninterview: Die Macht der Rache. Gespräch mit dem Psychiater Reinhard Haller. In: stern.de, 08.07.2022. Abrufbar unter: www.stern.de

Müller-Scherz, F.: Bachmeier-Filme: Bohm contra Driest – Die Frage ist nur, wer ist geschmackloser. In: DIE ZEIT Nr. 43/1983, 21.10.1983. Abrufbar unter: www.zeit.de
 

Weiterlesen/-sehen/-hören:
Der Fall
: Tödliche Schüsse im Gerichtssaal | Der Fall Marianne Bachmeier. In: Der Fall, YouTube, 27.07.2021. Abrufbar unter: www.youtube.com
Simsek, M.: Selbstjustiz-Prozess gegen Marianne Bachmeier (am 02.11.1982). In: WDR ZeitZeichen, 02.11.2022. Abrufbar unter: www1.wdr.de