Selfies und Selbstrepräsentation

Ramón Reichert

Dr. phil. habil. Ramón Reichert ist European Project Researcher an der University of Lancaster, Studienleiter und Koordinator des postgradualen Masterstudiengangs „Data Studies“ an der Donau-Universität Krems.

Das Buzzword „Selfie“ beschreibt ein zentrales Kulturmuster der digitalen Gesellschaft. In der Selfie-Generation nehmen egozentrische Selbstdarsteller und smarte Power-User immer mehr Einfluss auf soziale Rollenmodelle, Identitätsskripte und politische Denkweisen der Gegenwart. Selfies sind längst nicht nur Verstärker der digitalen Ego-Netzwerke, sie beherrschen die Bildkultur der Gegenwart und formen das kollektive Gedächtnis für künftige Generationen.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 4/2017 (Ausgabe 82), S. 32-36

Vollständiger Beitrag als:

Das Medium einer selbstverliebten Generation?

Als im Jahr 2013 Barack Obama mit dem britischen Premier David Cameron und der dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt beim Begräbnis von Nelson Mandela für ein Selfie posierte, verlor der digitale Kult des Selbstporträts seine öffentliche Unschuld. Die britische Boulevardzeitung „The Sun“ titelte No Selfie Respect und skandalisierte den Schnappschuss gar als „Selfie-Gate“. Auf Twitter wurde das Obama-Selfie mit dem Hashtag #EpicFail konnotiert. Obwohl das Selfie der drei Politiker nie die Öffentlichkeit erreichte und lediglich ein heimlich aufgenommenes Paparazzo-Foto das Posieren vor dem Handy belegte, tobte ein Shitstorm durch die sozialen Medien, der die moralische Integrität von Obama nachhaltig beschädigte. Warum konnte ein Bild, das in der Öffentlichkeit gar nicht sichtbar war, einen derartigen Skandal hervorrufen?

Selfies sind Fotos von sich selbst. Sie dienen der Selbstdokumentation und der Automedialisierung und befinden sich daher in einem diametralen Spannungsverhältnis zu sozialen Konventionen, in denen der Einzelne nicht im Mittelpunkt steht. Von dieser Spannung profitiert die mediale Skandalisierung der Selfies, die den „Narzissmus“ der Selbstdarstellung anprangert und dabei oft private Fotografien ins Licht der Öffentlichkeit zerrt (um sie noch bekannter zu machen).

Seit dem sogenannten „Selfie-Gate“ versucht die Medienberichterstattung, vor allem das jugendkulturelle Bildhandeln verächtlich abzumahnen. Es heißt dann, dass das Selfie stellvertretend für eine „selbstverliebte“ Generation stehen würde, die vor allem über Selbstbilder kommuniziert und nur an sich selbst interessiert sei. Es ist auffällig, dass die aktuellen Medienberichte den jugendkulturellen Gebrauch von Selfies allgemein als Narzissmus einer ganzen Generation brandmarken und dabei oft Mädchen zeigen, die ihre Handys als Spiegel benutzen. Damit suggerieren sie, dass Selfies genuin einem weiblich konnotierten Gebrauchskontext entstammen und instrumentalisieren Frauen als Allegorien einer moralisch verwerflichen Bildpraxis. Sie unterstellen Frauen ein genuin weibliches Genießen an der Selbstdarstellung und bestätigen damit alte Vorurteile und stereotype Ressentiments gegenüber Frauen.

Als Bildmotiv von Vanitas-Allegorien etablierten sich seit Jahrhunderten die sogenannten Toilettenszenen, die eine dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprechende Frau vor dem Spiegel zeigten. In seiner moralischen Verwendung wurde der Spiegel in den Allegorien der Sünden stets negativ eingesetzt und konnotierte „Unkeuschheit“, „Eitelkeit“ und „Stolz“, die an die „Schönheit“, „Jugendlichkeit“ und „Selbstverliebtheit“ der Frau gekoppelt waren. Dabei überwog die „selbstgefällige Eigenbetrachtung“ die kontemplative Funktion des „Sich-Widerspiegelns“. Durch die Verknüpfung der Vanitas-Allegorie mit dem Spiegelmotiv wurde ein Frauenbild entworfen, in dem sich ein „eitler“ Selbstbezug als schöner Schein entlarven sollte. Spiegelszenen kommunizierten stets auch eine normative Vanitas-Idee: Die in den Spiegel blickende Frau gelangt zu der Erkenntnis, dass er als Medium keines ihrer Bilder speichern kann. Diese Versuchsanordnung leitet das Motiv der Vergänglichkeit vom Scheitern ab, ein Bild der Frau herzustellen, das Bestand hat.

Bildkultur 2.0

Das Neue an Selfies ist, dass die Übertragung von Bildern instantan möglich sein kann, sie sind quasi in Echtzeit im öffentlichen Raum verbreitbar, und Selfies schaffen es, Skandale in der Öffentlichkeit herzustellen. Ein Beispiel dafür sind die in der Medienöffentlichkeit skandalisierten Holocaust-Selfies. Selfies werden heute etwa mittels Twitter verbreitet und können mithilfe von Retweet-Ketten binnen weniger Stunden Tausende Nutzer erreichen. Die rasante Verbreitung von digitalen Selbstbildern erweitert private Nutzungsräume und sorgt für eine bisher ungekannte Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit. Diese neue Vermischung von persönlicher Intimität und öffentlicher Wahrnehmung ist besonders augenfällig geworden an der Verbreitung von Selfies an Orten der kollektiven Erinnerungskultur.

In der medienöffentlichen Wahrnehmung firmieren Gedenkstätten als einmalige Gedächtnisorte kollektiver Trauer: Eine Inszenierung von privaten Selbstbildern widerspricht dem Selbstverständnis einer kollektiv geteilten Trauerkultur. Holocaust-Selfies resemantisieren diese Gedächtnisräume kollektiver Identitätspolitik und erzeugen eine Spannung zwischen kollektiver Trauer und radikal subjektiver Aneignung, die vermittels der Selfies als „privatisierbar“ in Aussicht gestellt wird. Auch wenn Holocaust-Selfies privat hergestellt werden, erreichen sie dennoch vermittels einschlägiger Hashtags und digitaler Profilbildung eine breite Medienöffentlichkeit.

Diese vereinfachten Möglichkeiten zur multimedialen Selbstveröffentlichung im Internet ermöglichen neue Formen der kollektiven Vernetzung von Bildern. Kennzeichnend für die niedrigschwellige und zeitsparende Produktion von Selbstbildern ist die Kultur des Selbermachens. Diese Kultur des Selbermachens eröffnet nicht nur ein neues Wechselverhältnis von Praktiken des Selbstbezugs und medialen Technologien, sondern beeinflusst auch als ästhetisches Mittel die Repräsentationen des kulturellen Erinnerns von Gemeinschaften.

Die Intimsphäre, das persönliche Bekenntnis, die inszenatorische Selbstdarstellung u.a.m. werden zu Themen mehr oder weniger neuer massenmedialer Formate, die sich auf die interaktiven Onlinemedien ausdehnen. In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund wird die als mach- und planbar wahrgenommene Lebensgeschichte zum Gegenstand medialer Erzählstrategien, mit denen versucht wird, das eigene Leben vermittels narrativer Identitätsstile, multimedialer Medienformate und Formen der Geschlechtsinszenierung zu verorten.

Die digitalen Medien der Selbstdokumentation vermittels der Smartphone-Technologien der permanenten Konnektivität und ihrer räumlichen Annotationen (Snapchat u.a.) eröffnen daher neuartige Handlungsräume für Selbstmodellierungen, insofern die Selbstbilder immer auch in digitale Gebrauchs- und Verbreitungskontexte – Tracking-, Gamification- und Surveillance-Tools – verwoben sind. Die kommerziell motivierte Adressierung der User als Produzenten ihres eigenen Selbstbildes (Do-it-yourself-Ästhetik) darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Selfies immer auch in digitalen Medienkulturen verortet werden und innerhalb der Ökonomien der digitalen Vernetzung vermittels der Klicks, Likes, Tags und Comments mit den Kulturtechniken des Benennens, Sammelns, Auswertens und Zählens verknüpft sind.

In dieser Hinsicht sind nicht nur die Selfies als Content, sondern auch die technischen Infrastrukturen der Vernetzungskulturen (Foren, Plattformen) in ökonomische und politische Strukturen eingebettet, die zur Herausbildung von spezifischen Ritualen, Normen und Leitbildern der Selbstdarstellung führen. Im Social Net befindliche Selfies werden unaufhörlich weitergereicht, kommentiert und bearbeitet. Daher sind die Prozeduren der wechselseitigen Bewertung und die Zirkulationssphären der Bilder genauso wichtig wie die Inhalte selbst: Selfies sind heute untrennbar verbunden mit Feedbacksystemen, Leistungsvergleichen, Qualitätsrankings, flexiblen Prozesssteuerungen, Selbsterfahrungskatalysatoren oder Zufriedenheitsmessungen. Erfolgreiche Selfies werden in den sozialen Netzwerkseiten sichtbar gemacht. Ihre Transparenz sorgt wiederum für Anpassungsleistungen, denn andere Nutzer entwickeln eine plattformspezifische Aufmerksamkeit für erfolgreiche Selfies und versuchen in der Folge, diese mimetisch auf ihr eigenes Selbstbild zu übertragen.
 

Die faciale Gesellschaft

Die hohe Verbreitungsdichte der Smartphones und ihrer mobilen Vernetzung mittels Apps hat dazu geführt, dass kommunikative Praktiken der Selbstthematisierung stark an Bedeutung gewinnen konnten. In Verknüpfung mit den bildgebenden Aufzeichnungs- und Speichermedien spielen Bilder in der alltäglichen Kommunikation eine zentrale Rolle. Wenn Bilder bei der Anerkennung von Individuen einen derart großen Stellenwert aufweisen, dann gewinnen auch medienvermittelte Aufführungen, Inszenierungen und Rituale immer mehr an Bedeutung.

Digitale Kommunikationsmedien erzeugen einen sozialen Druck, sein Gesicht zu zeigen. Der Kulturtheoretiker Thomas Macho führt die allgegenwärtige Präsenz von Gesichtsbildern auf spezifische Medientechniken zur Vervielfältigung des Porträts zurück. In diesem Sinne verdankt sich der Aufstieg der facialen Gesellschaft den Massenmedien und ihren Verbreitungstechnologien – von der Rotationspresse des 19. Jahrhunderts bis zu den Retweet-Ketten als Verbreitungsmechanismus für Selbstbilder. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Geschichte des Gesichts als eine Geschichte seiner medialen Ermöglichung und gesellschaftlichen Codierung, die sich in den unterschiedlichen Darstellungen des Gesichts widerspiegelt. Über die Präsentation, den Austausch und die Zirkulation von Bildern beziehen die Digital Natives ihre Selbstbilder. Mit ihren Selfies basteln sie an ihrem digitalen Image und erzeugen dabei Wunschbilder, die tagtäglich aufs Neue befriedigt werden müssen. Das Selfie ist das visuelle Vermächtnis der Facebook-Generation. Seine Existenzgrundlage bilden die „Likes“ der Netz-Communities. Mit ihren Selfies rücken sich zwar die Einzelnen ins Bildzentrum, aber als sozial geteilte Bilder müssen sie sich auch bestimmten Rollenerwartungen, Körpernormen und Schönheitsidealen unterordnen. In dieser Hinsicht sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation machen. Selfies transportieren auch sozial habitualisiertes Verhalten und kulturelle Codes, mit welchen der Einzelne versucht, Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit zu lukrieren.
 

Selfies sind nichts Neues. […] Als Selbstporträts verweisen sie auf eine jahrhundertelange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, wenn wir an die Mumienporträts aus römischer Zeit denken.“


Historische Bildkulturen

Selfies sind nichts Neues. In ihnen überlagern sich alte und neue Bildkulturen. Als Selbstporträts verweisen sie auf eine jahrhundertelange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, wenn wir an die Mumienporträts aus römischer Zeit denken. In der Blütezeit der italienischen Renaissance wurde dem Porträt die Bedeutung eines Charakterbildes gegeben. Diese Bildkultur war eng geknüpft an den Aufstieg des Individuums. Auch städtische Adelsfamilien und Herrschaftshäuser waren Auftraggeber, nicht mehr nur die Kirche. Die Hauptmotive früherer Porträtkulturen kreisen nicht nur um die Selbstbezüglichkeit der Dargestellten. Selbstdarstellungen dienten etwa zur Standesrepräsentation und wurden zur bilddokumentarischen Legitimation von Herrschaft und Macht eingesetzt. Damit gehen Porträts weit über einen selbstdarstellerischen Gebrauch hinaus.

Es gab auch immer schon Künstler, die sich mithilfe des Spiegels selbst gezeichnet haben. Porträtbilder verweisen auf mehr oder weniger exklusive Bildpraktiken, die sowohl Praktiken der Selbsterkundung als auch Praktiken der Selbstvermarktung miteinschließen (siehe die Porträts von Dürer oder Rembrandt). Auch in der Fotografie hat es Selbstporträts seit Anbeginn – also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – gegeben. Damals fand eine schrittweise Demokratisierung des Porträts statt, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Erfindung der handlichen Kodak-Kamera (1888) hatte – eine Trendwende, da von da an die Kamera leicht zu bedienen und kostengünstig war. Mit der breiten Erschließung von Konsumentenmärkten konnten sich bald Amateurkulturen herausbilden. Die verfügbare Kamera im Eigenheim etablierte neue Bildpraktiken: Die erotische Fotografie erlebte einen ungeahnten Boom und intime Selbstporträts vor dem Spiegel wurden zum begehrten Tauschobjekt in Flirtbeziehungen.

Einer der Vorläufer der Selfie-Bilderproduktion ist auch in der von Andy Warhol stark geförderten Polaroid-Bewegung zu sehen. Warhol wollte, dass das Bild zirkuliert, veröffentlicht und vermittels sozialer Netzwerke geteilt wird. Er hat mit seinen Star-Polaroids die Demokratisierung visueller Reproduktion und Überlieferung stark in den Vordergrund gerückt, denn das Format war billig und stand nicht für Kunstfotografie. Damit hat Warhol nicht nur die Amateurästhetik des Low-Tech-Selfies vorweggenommen, sondern auch ihre Verbreitungslogik durch die Social Media.
 

Praktiken des Defacements

Mit dem viel beachteten Genre der Sellotape-Selfies hat sich eine gegenkulturelle Bildpraxis des Overacting im Feld der digitalen Selbstdarstellung herausgebildet. Die ästhetischen Materialgrundlagen der Sellotape-Selfies bestehen aus einem Klebeband und einem bereitwilligen Subjekt, das sich ein Klebeband um das Gesicht binden lässt. In ihrer Verbreitung als Internet-Meme (qua Nominierungen auf Facebook) wird ihnen eine bildkulturell wirksame Reflexion der facialen Gesellschaft zugeschrieben. Mediale Gesichter sind nicht unschuldig, denn mit ihnen kann Macht ausgeübt werden – von der facialen Inszenierung personaler Herrschaft bis zur Authentifizierung bestimmter Produkte in der Maxime der Werbeästhetik.

Die Sellotape-Selfies verweisen auf das historische Unbehagen der Kunst, im Porträt „Wahrheit“ und „Einzigartigkeit“ abzubilden. 1948 malte Francis Bacon sein erstes, monströs anmutendes Antiporträt seiner Heads-Serie. Und im Jahr 1966 verstümmelte sich Gerhard Richter mit Klebeband im Gesicht und nahm alle weiteren Sellotape-Interventionen vorweg. Al Hansen (1970) und Douglas Gordon (1996) sind weitere Künstler, die in der Folgezeit versuchen, mit Klebeband ihr Gesicht zu entstellen, um mit ihren künstlerischen Porträt-Interventionen gegen die Schönheitsnormen, erkennungsdienstlichen Logiken und politischen Instrumentalisierungen des Gesichts zu protestieren. Auch wenn die Sellotape-Selfies mittlerweile von TV-Shows zu einem Trending Topic stilisiert wurden, können sie zumindest als ein ästhetisches Spiel mit dem Kontrollverlust gesichtlicher Mimik angesehen werden. Als Praktiken des Defacements durchkreuzen Sellotape-Selfies die Ohnmachtsgefühle, in einer facialen Gesellschaft leben zu müssen, und können produktive Medienreflexionen in Gang setzen.

Neigt sich mit der Verweigerung, sein Gesicht zu zeigen, die Ära der Selfies wieder ihrem Ende zu? Diese Frage kann gegenwärtig noch nicht beantwortet werden. Dennoch kann festgehalten werden, dass den Bildern der Gesichtsauflösungen immer auch eine Bildkritik inhäriert und sie das Potenzial einer Sensibilisierung für die Visibilität von Nutzeraktivitäten besitzen. Die Gesichtsexperimente schärfen die Aufmerksamkeit für den Befund, dass bildbezogene Selbstthematisierungen ein zentrales Kulturmuster der spätmodernen Gesellschaft verkörpern. In diesem Sinne gehören auch die Gesichtsrepräsentationen der Selfies zu den neuen Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft. Sie sind nicht nur Ausdruck persönlicher Selbstdarstellung, sondern verkörpern als visuelles Kollektivmedium das Selbstverständnis von Gesellschaften. Selfies sind also immer auch mehr als nur private und intime Selbstentblößungen, sie sind ein Spiegel von sozialem Wandel und kulturellen Entwicklungen.