Sexualisierte Gewalt und digitale Medien

Reflexive Handlungsempfehlungen für die Fachpraxis

Frederic Vobbe, Katharina Kärgel

Wiesbaden 2022: Springer VS
Rezensent/-in: Christine Linke

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 82-82

Vollständiger Beitrag als:

Zum Problem sexualisierter Gewalt im Kontext digitaler Medien: Empirische Fallbeispiele für Prävention und Intervention

Das Buch von Frederic Vobbe und Katharina Kärgel stellt die Ergebnisse des Projekts „Human: Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis zum fachlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz“, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, vor und liefert enorm wichtige Einsichten und konkrete Handlungsempfehlungen für Soziale Arbeit.

Die Autor:innen, Prof. Dr. Frederic Vobbe und Katharina Kärgel, sind tätig im Bereich Soziale Arbeit an der Fakultät für Sozial- und Rechtswissenschaften der SRH Hochschule Heidelberg, an der das Forschungsprojekt umgesetzt wurde.

Der Band gliedert sich in drei Teile: Teil I dient als Einführung in das Thema und behandelt die mediatisierte sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen. Teil II konzentriert sich auf Falldiskussionen und Handlungsempfehlungen, was den umfangreichsten Teil des Buches ausmacht und im Kern Maßnahmen der Intervention behandelt, die darauf abzielen, Gefahren abzuwenden, Verletzungen zu reduzieren und deren Folgeschäden zu minimieren. Teil III des Buches beinhaltet das Schlusskapitel Kinder und Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien und mediatisierter sexualisierter Gewalt präventiv stärken, in dem die Maximen erfolgreicher Prävention von mediatisierter sexualisierter Gewalt in der pädagogischen Praxis zusammengefasst werden. Wichtig dabei ist den Autor:innen im Sinne der Autonomie und Selbstbestimmung, dass präventive Maßnahmen an den Lebensumständen und ‑realitäten von Kindern und Jugendlichen auszurichten sind. Und dazu gehört eine selbstbestimmte Nutzung digitaler Medien – keine Verbote dieser.

Das Projekt „Human“ hatte das Ziel, Empfehlungen für den professionellen Umgang mit mediatisierter sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend zu entwickeln. Um den Bedürfnissen von Fachkräften und Betroffenen gerecht zu werden, wurden Gewaltbetroffene, ihre Angehörigen, Fachkräfte der spezialisierten Fachberatung sowie interdisziplinäre Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis in die Entwicklung einbezogen. Ihre Expertise wurde in unterschiedlichen Formen eingebracht, um sicherzustellen, dass die Handlungsempfehlungen praxisrelevant sind. Diese Empfehlungen verstehen sich als Ansätze und müssen auf die individuelle Arbeit und den Einzelfall übertragen werden. Fallbeispiele dienen als Anregung für die persönliche Auseinandersetzung mit fachlichen Fragen und Herausforderungen.

Die Fallvignetten wurden im Rahmen von acht Focus-Group-Interviews mit 22 interdisziplinären Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis diskutiert. In jeder Gruppe wurde eine Schlüsselsituation einer Fallvignette erörtert, wobei es hauptsächlich darum ging, welche Interventionen unter welchen Bedingungen angemessen sind. Durch die verschiedenen Perspektiven ergab sich ein intensiver Austausch über Hintergründe, Annahmen und Grundsätze. Zusätzlich wurden leitfadengestützte Interviews mit Menschen geführt, die mediatisierte sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt haben. Zudem wurden 19 leitfadengestützte Interviews geführt zum Erfahrungswissen von Menschen, die mediatisierte sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (mit‑)erlebt haben. Der Fokus lag dabei auf den Anliegen und Ressourcen der Betroffenen während der Aufdeckungsphase und der professionellen Unterstützung.

Die gesammelten Daten umfassen umfangreiches Material und repräsentieren die Erfahrungsexpertise von Gewaltbetroffenen sowie Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis. Daraus wurden die fachlichen Leitlinien für den Umgang mit mediatisierter sexualisierter Gewalt abgeleitet und die Grundpfeiler der Handlungsempfehlungen erarbeitet. Dabei wurde die Reflexive Grounded Theory als Forschungsansatz genutzt – und im besten Sinne wird aus den umfangreichen Daten ein Verständnis für ein komplexes soziales Phänomen erreicht: Das Vorgehen der Forschenden wird schlüssig nachvollziehbar und die dargelegten Fallvignetten ermöglichen es Lesenden, sich der komplexen Thematik zu nähern und darüber hinaus konkrete Handlungsoptionen zu gewinnen. Hilfreich sind hierbei die Lektürehinweise der Autor:innen (Kapitel 3.1), die das Eintauchen in die konkreten Fälle, die gleichzeitig mehr als Einzelfälle sind, aufschlussreich gestalten.

Das Buch bietet einen umfangreichen theoretisch-fundierten Überblick zu dem Phänomen sexualisierter Gewalt im Kontext digitaler Medien und leistet – basierend auf einem umfangreichen und methodisch-anspruchsvoll umgesetzten Grounded-Theory-Projekt – einen hervorragenden Transfer der Befunde in die professionelle Arbeit und die gesellschaftliche Debatte. Ein enorm wichtiges Buch für die Soziale Arbeit, Medienpädagogik, Sozialwissenschaft und Medienforschung sowie für vielfältige gesellschaftliche Akteur:innen insbesondere im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes.  

Prof. Dr. Christine Linke