Sexuelle Angebote im Netz und ihre Wirkungen
Pornosucht und neue Ansätze der Therapie
Weiß man ungefähr, wie viele Menschen von Pornosucht betroffen sind? Sind es eher Alleinstehende? Und gibt es Unterschiede zwischen jungen und alten Nutzern?
Wir gehen davon aus, dass von der erwachsenen männlichen Bevölkerung etwa drei Prozent pornosüchtig sind. Bei den Frauen sind wir uns da sehr unsicher, bei ihnen liegt der Anteil wahrscheinlich unter einem Prozent. Zusammengerechnet handelt es sich um ungefähr eine Million Betroffene, davon sind vermutlich 750 000 Männer und 250 000 Frauen.
Die Vorstellung, dass hauptsächlich Singles Pornografie konsumieren, scheint falsch zu sein.
Sie wird genauso in Partnerschaften konsumiert. Generell kann man sagen, dass mit zunehmendem Alter weniger konsumiert wird. Der Schwerpunkt liegt bei Menschen bis zum Alter von 30 Jahren. Wir haben deshalb eine Studie mit nur 18- bis 30‑Jährigen und dann noch eine weitere altersrepräsentative Studie mit dem Durchschnittsalter von 47 Jahren durchgeführt. In den beiden Gruppen haben die Nutzungszeiten sich doch eklatant unterschieden.
Während bei den bis 30‑jährigen Männern der Durchschnitt bei 15 Stunden pro Monat lag – also eine halbe Stunde pro Tag – waren es bei den bevölkerungsrepräsentativen Stichproben nur etwa sieben Stunden pro Monat, also die Hälfte. Auch internationale Zahlen zeigen, dass mit zunehmendem Alter der Konsum leicht abnimmt. Dabei muss natürlich auch berücksichtigt werden, dass die gegenwärtige Generation erstmals mit Pornografie groß geworden ist. Die Älteren mussten schon erheblichen Aufwand betreiben, um als Jugendliche an Pornografie zu kommen. Nach unseren Studien liegt das Einstiegsalter im Durchschnitt bei 13 oder 14 Jahren, bei der älteren Generation lag es dagegen bei 16 bis 17 Jahren. Interessant ist:
Von den Befragten, die durchschnittlich 15 Stunden im Monat Pornografie nutzen, waren mehr als 75 % in festen Beziehungen. Und die haben genauso konsumiert.
Pornografie galt lange als Ersatzbefriedigung oder Fremdgehen in der Fantasie. Ist es inzwischen eher ein eigenes Programm?
Ja, auf jeden Fall. Wir fragen regelmäßig in den Studien: Wie positiv finden Sie Pornografie auf einer Skala von null bis zehn? Sehr negativ ist dabei null und sehr positiv zehn. Und bei der bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe liegen die Männer im Durchschnitt bei sieben, die Frauen bei fünf. Frauen stehen dem also eher neutral gegenüber. Bei einer Jugendstichprobe hatten nur etwa 15 % der Frauen eine negative Einstellung zur Pornografie, die meisten waren neutral, ungefähr 30 % standen der Pornografie sogar positiv gegenüber. Bei Männern steht in der Jugendstichprobe dagegen die überwiegende Mehrheit der Pornografie positiv gegenüber, die negative Einschätzung ist fast zu vernachlässigen. Spannend fand ich die Frage: Wie wichtig ist Pornografie für ihr Leben? Und bei den Kategorien „extrem wichtig“ und „sehr wichtig“ stimmten bei den jungen Männern 35 % zu. Pornografiekonsum scheint inzwischen zum Leben dazuzugehören und zu einer wichtigen Emotionsregulationsmethode geworden zu sein.
Sie würden Pornografie also nicht generell als etwas Gefährliches ansehen, sondern das eher davon abhängig machen, wie man mit ihr umgeht?
Als Wissenschaftler versuche ich immer, mich nicht in irgendwelche Polarisierungen hineinziehen zu lassen oder etwas mit positiv oder negativ zu bewerten. Es geht eher darum, zu beschreiben, wie etwas heute aktuell aussieht.
Und da stellen wir fest, dass 90 % der Männer regelmäßig Pornografie konsumieren. Davon haben aber nur drei Prozent die Kontrolle über ihren Konsum komplett verloren.
Die meisten bekommen das relativ gut hin. Eine andere Frage ist: Wie gehen Jugendliche damit um, wenn sie mit Pornografie konfrontiert werden? Da weiß man ganz wenig drüber. Wir wollten dazu mal Studien durchführen, aber das erwies sich aus ethischen Gründen als schwierig. Da bräuchten wir Längsschnittuntersuchungen, um die Wirkung einschätzen zu können. Wir erleben allerdings in unserer klinischen Praxis gelegentlich Männer, die offensichtlich über Pornografie sexuell sozialisiert worden sind. Und wenn ein junger Mann erst mit Mitte 20 die erste Partnerschaft aufnimmt und dann die Pornosexualität als Maßstab für sich gespeichert hat, sind echte Probleme vorprogrammiert. Aber das betrifft weniger als fünf Prozent der Männer.
Während der Reform des Sexualstrafrechts gab es 1970 eine Anhörung von circa 50 Sachverständigen aus verschiedenen Disziplinen im Deutschen Bundestag. Die Tendenz: Pornografie sei für Erwachsene nicht schädlich, aber man wisse zu wenig über die Wirkung auf Jugendliche. Man hat sie deshalb für Erwachsene freigegeben, aber für Jugendliche streng verboten – was damals im Gegensatz zu heute noch kontrollierbar war. Man wollte diese Frage allerdings wissenschaftlich untersuchen lassen. Danach ist in der Sache nichts mehr passiert. Und: Bei einem Blick in die meist subjektiven Statements zur Wirkung von Pornografie bekommt man den Eindruck, dass sie eher den jeweiligen ethischen Einstellungen der Autoren entsprechen.
Ein Problem liegt daran, dass man dazu nicht 13- bis 15‑Jährigen Pornos vorführen kann, um die Wirkung zu untersuchen. Zwar könnte man heute Jugendliche suchen, die bereits über Portale aus dem Netz Pornos kennen und sie befragen, wie sich das langfristig auf sie auswirkt.
Aber aus Sicht der Ethikkommission könnten Jugendliche allein durch diese Frage auf die Idee kommen, Pornografie zu konsumieren.
Ich habe es irgendwann aufgegeben, dazu Studien durchführen zu wollen. Jeder sagt, wir müssen darüber viel mehr wissen. Aber gleichzeitig gibt es viele praktische Probleme. Man kann unter anderem schnell mit Eltern in Konflikte geraten. Das ist also ein vermintes Gebiet. Ich finde es nebenbei bemerkt beeindruckend, dass der Staat Pornografie für Jugendliche verbietet, das Verbot aber nicht durchsetzen kann. Pornografie wird für unter 18‑Jährige verboten, obwohl jeder Jugendliche mit zwei Klicks auf Pornoportale kommt, die alles anbieten, was man sich vorstellen kann. Aber dazu Forschung durchführen, die das Gefahrenpotenzial auslotet, ist wie gesagt fast unmöglich.
Der Medienpsychologe und Kommunikationswissenschaftler Dolf Zillmann hat schon in den 70er-Jahren vermutet, dass Pornografiekonsumenten unzufriedener mit ihrer eigenen Sexualität sind. Würden Sie das auch so sehen?
Nicht grundsätzlich. Ich habe mit mehr als 300 Männern intensive Interviews geführt, die sich selbst als sexsüchtig bezeichnet haben. Und das ist noch mal ein ganz anderes Erfahrungsfeld geworden. Wenn 90 % der Männer regelmäßig Pornografie konsumieren, dann bekommen sie das mit ihren Beziehungen halbwegs in Einklang gebracht. Aber wenn jemand am Tag vier bis sechs Stunden Pornografie konsumiert und dann noch feststellt, dass ihn seine reale Sexualität, die er vielleicht noch mit einer Partnerin hat, überhaupt nicht mehr in der gleichen Weise stimuliert wie das Material des Pornofilms, dann sind Probleme vorprogrammiert.
Ein Patient fragte mich: „Glauben Sie, dass ich jemals im Leben wieder eine normale Beziehung führen kann? Bei jeder Frau, die ich sehe, gibt es sofort Tausende von Assoziationen. Und irgendwann noch einmal Kuschelsex zu haben, wird wohl bei mir nicht funktionieren.“ Diese Pornosucht führt zu einem gefährlichen Auseinanderfallen zwischen Sexualität und Intimität. Es fehlt diese emotionale Bindung, die Sexualität schafft: eine tiefe Vertrauensebene, in der man sich fallen lassen und gegenseitig die geheimsten Dinge erzählen kann. Das verbinden wir mit befriedigender Sexualität in Beziehungen.
Aber ich glaube, die Konzepte über Sexualität verändern sich gerade. Einige junge Menschen denken: Ich brauche da keine tieferen Gefühle, ein bisschen Gymnastik zusammen zu haben reicht und macht mir super Spaß. Und man muss nicht über die Interaktion mit den Gefühlen in der Beziehung nachdenken. Es gibt keine Schuldgefühle. Es ist eben eine Freundschaft plus. In diesem Zusammenhang wurde diskutiert, ob bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Forschungsschwerpunkt Sexualität 2.0 eingerichtet werden sollte. Verschiedene Forscher aus ganz unterschiedlichen Bereichen haben darüber diskutiert, ob unsere abendländisch geprägten Vorstellungen von Sexualität mit der Vorstellung von Monogamie möglicherweise auslaufen. Wir sprechen jetzt über Pornos, übermorgen sprechen wir über Robotersex, und in China hat schon der Erste angeblich seine Sexpuppe geheiratet.
Unsere Vorstellung, Sexualität sei der Gipfel der Liebe in Partnerschaften, ist vielleicht ein Auslaufmodell.
Das wird sicher noch 30 bis 40 Jahre dauern, aber da wird noch einiges auf uns zukommen, weil die Industrie natürlich auch daran interessiert ist. Zahlen weisen darauf hin, dass der Ausbau des Internets zum Teil über die Verbreitung von Pornos vorangetrieben worden ist.
Studien, zum Beispiel von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über die Entwicklung der Sexualethik, stellen fest, dass traditionelle Werte wie Treue und Familie hoch im Kurs stehen.Kann es sein, dass sich die Wünsche und Vorstellungen diversifizieren? Dass es also verschiedene sexuelle Skripte gleichzeitig gibt?Viele Menschen wollen in ihrem Leben vielleicht auch einen Gegenpol zu dieser Pornografisierung aufbauen, weil die Vorstellung, die eigene Freundin oder der eigene Freund würde sich so verhalten wie im Porno, unerträglich wäre.
Im Internet- und in Social-Media-Kanälen bewegt man sich in Blasen, in denen man sich gegenseitig die jeweilige Lebensform als das Normale präsentiert. Aber eines möchte ich noch ergänzen: die oft gezeigte Kombination zwischen Sexualität und Gewalt. Bei unseren Interviews wurde tatsächlich häufig die Steigerung der Gewaltfantasien durch entsprechende Darstellungen deutlich.
Am Anfang war Mainstream-Pornografie noch ausreichend, aber dann kamen immer mehr gespielte Vergewaltigungen dazu, um nochmal einen besonderen Kick zu bekommen.
Ich glaube zwar nicht, dass jemand allein deswegen in der Realität zum Vergewaltiger wird, aber man engt den Erfahrungsbereich, in dem man sexuell befriedigt werden kann, immer mehr ein. Wenn man immer stärkere Stimuli braucht, um bei der Masturbation zum Orgasmus zu kommen, dann ist es noch viel schwieriger, in einer Partnerschaft eine befriedigende Sexualität zu erleben. Das wird zum Beispiel oft in Zusammenhang mit Ejakulationsschwierigkeiten berichtet. Auch wenn sich die Erektion noch einstellt, kommt man nicht zum Orgasmus, weil einfach die Stimulation zu schwach ist.
In den 70er-Jahren wurde die Spiraltheorie vertreten: Der Nutzer braucht immer mehr Reize, um denselben Stimulus zu erreichen. Wenn die normale Sexualität nicht mehr ausreicht, dann kommt Pornografie mit Gewalt oder mit Kindern hinzu.
Von den von uns interviewten 300 Pornosüchtigen haben etwa zwei oder drei beschrieben, dass sie auch kinderpornografisches Material konsumiert haben, aber angaben, definitiv nicht pädophil zu sein. Es ging ihnen eher um diesen Kick des Verbotenen. Diese Eskalationsspirale, die Sie beschrieben haben, trifft auf manche zu, aber auf andere definitiv nicht. Es gab einen Patienten, der ausschließlich schwarzhaarige Frauen mit großen Brüsten suchte. Und er besaß Sammlungen mit Bildern und Filmen nur zu diesem Thema, und das hat sich über 20 Jahre hinweg nie verändert. Das war sein Fetisch. Man darf also nicht generalisieren. Aber klar ist:
Wer jeden Tag sehr viel Pornografie konsumiert, braucht immer etwas Neues.
Wir haben untersucht, welche der verschiedenen Kategorien im Internet besonders häufig konsumiert wurden. Bestimmte Kategorien kommen selten vor, Sex mit Exkrementen mögen viele nicht. Aber: Je mehr jemand konsumiert, umso mehr entsteht das Bedürfnis, etwas Neues auszuprobieren. Für einige ist das Übertreten moralischer Normen ein sexueller Reiz. Auch Neugierde wurde in den Fragebögen immer als Motiv angegeben.
Oft sind die Frauen und Männer in den Pornos hübscher als die eigene Freundin oder der Freund. Und sie machen alles mit. Man gewöhnt sich an eine ästhetische Norm. Führt das im Vergleich zum eigenen Partner beziehungsweise der eigenen Partnerin zu Frustrationen, weil man die fiktionale Ästhetik in der Realität niemals erreichen wird?
Das wird natürlich als Kontrast zur Realität erlebt. Die entscheidende Frage aber ist, wie partnerschaftlicher Sex in der Regel abläuft. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig sich Paare über Sex in Gesprächen austauschen. Oft passiert über 20 Jahre immer das Gleiche, und das wird langweilig, weil man es nicht schafft, sich zum Beispiel über gegenseitige Wünsche oder Präferenzen auszutauschen. Das scheint sich auch bei Jugendlichen nicht geändert zu haben. Das fängt schon mit den Begriffen an, die man verwendet. Benutzt man Blümchensprache, Kindersprache oder Bürokratensprache? In keinem anderen Bereich haben wir schon bei der Sprache solche Schwierigkeiten.
Eine Wirkung von Pornografie könnte sein, anders und offener über Sex nachzudenken und zu reden.
Eine amerikanische Kollegin hat in einem Vortrag über die Behandlung von Pornografiesucht vorgeschlagen, dass Männer ihren Frauen den meist verheimlichten Konsum gestehen und sie ermutigen sollten, das mit ihnen zusammen anzuschauen. Das könnte möglicherweise bei einigen Paaren Pornografiesucht als Problem komplett auflösen.
Kommen wir zum Thema der Sucht. Man schaut sich Pornos an und empfindet ein starkes, stimulatives Glücksgefühl, das man dann immer wieder erleben möchte. Ist dieser Lernprozess der Grund für das Entstehen einer Sucht?
Wir unterscheiden in der Psychologie zwischen positiver und negativer Verstärkung. Negative Verstärkung heißt, dass man durch das Abstellen von etwas Unangenehmen belohnt wird. Wenn ein 13‑jähriger Junge aus der Schule kommt, keine Lust auf die Hausaufgaben hat und keine Freunde da sind, mit denen er etwas Spannendes unternehmen kann, entsteht Langeweile und Stress, und so sucht er nach Glücksmomenten, um die negativen Emotionen abzustellen. Das erreicht er durch das Ansehen von Pornos, was er selbst steuern kann. Patienten haben beschrieben, dass sie bei der Masturbation den Orgasmus über vier Stunden herausgezögert haben. Und dass der Orgasmus vom Erleben her ähnlich sei wie die Wirkung von Kokain. Und das will man regelmäßig wiederholen. So entsteht ein Konditionierungsprozess.
Patienten erleben das immer wieder, wenn sie nach Hause kommen und ihre Partnerin oder ihr Partner nicht da ist. Und irgendwann haben sie schon 5 000 Mal in solchen Situationen Pornografie konsumiert. Also kommt es auch zum 5 001. Mal: Sie betreten die Wohnung und sofort wird im Gehirn die Erwartungshaltung aufgebaut, zu wiederholen, was in der Vergangenheit angenehm war. Das ist der Lernprozess des Gehirns, in bestimmten Situationen dieses Glücksgefühl wiederherstellen zu wollen. In einer komplizierten Welt nimmt es uns viel Arbeit ab, weil es wie ein Autopilot aufgrund seiner Erfahrungen tagtäglich Prädiktionen für die Zukunft entwickelt. Wenn ich eine rote Ampel sehe, dann trete ich auf die Bremse, ohne darüber nachzudenken. Und genauso baut es eine Reaktionstendenz auf, wenn ich Stress oder Langeweile empfinde. Verschiedene Theorien gehen davon aus, dass immer mehr vorgelagerte Reize zum Auslöser werden:
Wenn ich mich alleine fühle, wenn ich frustriert bin, wenn mich der Chef zusammengestaucht hat und ich in der Vergangenheit solche Situationen erfolgreich durch Pornografiekonsum bewältigt habe, werde ich getriggert, das zu wiederholen.
Entwickeln Menschen mit einem insgesamt weniger reiz- oder lustvollem Leben, mit vielen Frustrationen im Büro oder zu Hause, eher eine Pornosucht?
Das kann ein Weg sein. Andere sind dafür empfänglich, weil sie viel stärker auf die Stimuli reagieren.Es gibt offensichtlich diese zwei Belohnungswege: Einmal will man negative Stimmung loswerden, zum anderen erwartet man eine Gratifikation –wir sprechen über Kompensation und Gratifikation.Die einen sagen: Wow, ich finde es dermaßen geil, dass ich es immer wieder brauche, die anderen finden es gar nicht so geil, können durch den Konsum aber wenigstens für ein paar Stunden ihre triste Umwelt vergessen.
Wie gehen Sie in der Therapie vor?
Die Therapie steht auf zwei Säulen: Die eine ist das tatsächliche Suchtgeschehen. Hier geht es darum, wieder eine Impulskontrolle zu installieren: Wenn die Idee durch den Kopf schießt, ich könnte über ein Hilfsmittel wie ein Computerspiel, Alkohol, Rauchen oder eben Pornokonsum mein negatives Gefühl kompensieren und mich ablenken, wird diese Idee zu einem starken Impuls. Dieser starke Impuls wird sich irgendwann wieder abschwächen, aber diese ersten fünf bis zehn Minuten muss ich überbrücken. Ein Patient hat sich eine Blocking-Software installiert. Das Problem: Man kann sie jederzeit wieder deinstallieren. Also hat er das für die Deinstallation notwendige Passwort im Büro deponiert. Und er ist dann allen Ernstes nachts um 1:00 Uhr zu seiner Arbeitsstelle gefahren, die 45 Minuten entfernt war. Und auf der Hälfte der Strecke hat er sich gefragt: Was mache ich denn hier? Ich fahre mitten in der Nacht durch die Pampa, nur um wieder an die Pornos zu kommen, und er ist dann direkt wieder zurückgefahren. Über den Zeitgewinn kann man diesen Impuls also abkühlen.
Man muss dem Großhirn eine Chance geben dazwischenzukommen, die Nachteile deutlich zu machen, die ich durch den Konsum habe.
Das ist die erste Säule: zu lernen, direkt mit diesen Anreizsituationen umzugehen, die Impulskontrolle wiederzugewinnen und Kontrolle über das eigene Verhalten aufzubauen.
Und die zweite Säule?
Da geht es um den Sitz im Leben: Offensichtlich haben nur 3 % der Pornokonsumenten diese Probleme, bei 97 % funktioniert das dagegen. Was ist bei denen anders? Schaut man in ihre Biografien, gibt es verschiedene Hinweise, zum Beispiel finden wir oft soziale Ängste und Schwierigkeiten, auf das andere Geschlecht zuzugehen. Da müssen wir die entsprechenden Kompetenzen aufbauen. Wenn jemand nur über die Pornografie die Möglichkeit hat, Emotionen zu kontrollieren, kann man sich über Alternativen Gedanken machen, etwa Sport, eine Meditation oder Musik zu hören, wenn man ins Bett geht. Das ist sehr individualisiert, was genau für diesen Patienten ein geeigneter Weg sein könnte.
Wenn jemand zu Ihnen kommt, verspürt er Leidensdruck. Wie sehen die Probleme aus?
Sie sind sehr häufig partnerschaftlicher Art. Der Klassiker: Die Partnerin hat angedroht, ihn zu verlassen, wenn er weiter Pornografie konsumiert. Oder man merkt, dass man in der partnerschaftlichen Sexualität nicht mehr funktioniert, weil es Erektions- und Ejakulationsprobleme gibt. Viele müssen während der Arbeitszeit wiederholt auf die Toilette, um dort Pornografie zu konsumieren und merken, dass ihr ganzes Denken immer mehr um Pornografie kreist. Oder: Früher ist man abends mit Freunden ausgegangen, heute sitzt man jeden Abend vor dem Bildschirm. Irgendwann kommt die Einsicht, das ändern zu wollen, und man merkt: Das funktioniert nicht so einfach.
Jeden Tag nimmt man sich aufs Neue vor, das zu lassen, aber man schafft es nicht.
Dieses Störungsbild geht oft mit tiefer Depression und auch mit Suizidalität einher. Patienten haben sich umgebracht, weil sie dieses permanente Scheitern an ihren eigenen Wünschen als unerträglich erlebten. Für manche Betroffenen stellt sich das als Lebenskatastrophe dar. Wenn jemand aber ambivalent ist und denkt, ich bin jetzt nur in der Therapie, weil meine Freundin mich dahin geschickt hat, dann könnte ein Ergebnis der Therapie auch sein, dass sich der Betroffene von seiner Partnerin trennt
Sie haben eine App entwickelt, die sich gegenwärtig im Testmodus befindet.
Das Programm PornLoS läuft ab diesem Jahr an, und die App ist ein Baustein dazu. Sie hat zwei Funktionen: Einerseits stellt sie ein Notfallreservoir an Tools zur Verfügung, das individuell festgelegt wird. Jemand kann in entsprechenden Momenten seine Lieblingsmusik hören oder etwas spielen, was auch immer er gerne mag. Und zum anderen kann er jeden Tag die Tagebuchfunktion nutzen und eintragen, wie heute sein Suchtverhalten war. Das wird dann als Grundlage in der Therapie verwendet. Die App ist eine Ergänzung zur Therapie, kann sie aber nicht ersetzen. Da wir gerade erst angefangen haben, gibt es noch keine Daten über die Erfolgsaussichten. Wir haben jetzt noch drei Jahre Zeit, diese neuen Ansätze mit der Therapie zu vergleichen, wie sie bisher läuft.
Was ist der Unterschied zwischen der klassischen Therapie und dem, was Sie geschildert haben?
Üblicherweise entscheidet jede Psychotherapeutin und jeder Psychotherapeut bei einem Patienten mit Pornosucht die Vorgehensweise in der Therapie. Somit können sich die Therapien sehr stark unterscheiden. In dem Projekt PornLoS haben wir zwei neue hochstrukturierte Therapieansätze entwickelt. Hier wird also nach einem festen Therapieplan vorgegangen. Die beiden neuen Therapieansätze unterscheiden sich nur im Ziel, das in der Therapie verfolgt wird. Nämlich einmal die totale Abstinenz und einmal ein reduzierter, kontrollierter Konsum. Die Therapeutinnen und Therapeuten der neuen Therapie haben alle eine 20‑stündige spezielle Schulung hinter sich.
Das Ganze ist eine Kombination aus einer Einzeltherapie und einer Gruppentherapie über ein halbes Jahr.
Und wir beziehen noch andere Angebote mit ein. Wenn eine Partnerschaftsproblematik vorliegt, dann könnten die Patienten direkt bei pro familia eine Paarberatung in Anspruch nehmen. In dem Projekt PornLoS werden die beiden neuen Therapieansätze mit Therapien verglichen, wie sie üblicherweise angeboten werden. Wenn sich herausstellt, dass unsere neue Therapieform erfolgreicher ist als die bisherigen, dann wird sie bei diesem Störungsbild in die Regelversorgung übernommen. Bis jetzt haben die Krankenkassen zum Beispiel eine Paartherapie bei pro familia nicht bezahlt. Wir erforschen bei dieser Studie auch die gesundheitsökonomische Seite, da natürlich die Krankenkassen auch daran interessiert sind, ob sich durch eine verbesserte Psychotherapie sogar Geld sparen lässt.
Wer bezahlt das Ganze?
Auftraggeber ist der Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses, der von allen Krankenkassen gespeist wird. Dort werden pro Jahr 200 Mio. Euro vergeben. Wir werden aus diesem Fond mit 5,4 Mio. gefördert, da man offensichtlich die Notwendigkeit sieht, die Versorgung von Menschen mit Pornografiesucht oder einer Pornografie-Nutzungsstörung, wie es offiziell heißt, zu verbessern.
Die Zahl der Süchtigen könnte noch zunehmen?
Das ist eine sehr spannende, interessante Frage. Als ich 2005 angefangen habe, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, kamen gerade die Smartphones auf den Markt, das Internet ist immer mehr ausgebaut worden. Ich habe damals erwartet, dass eine riesige Welle auf uns zukommen würde. Das ist bisher nicht eingetreten, es gab einen leichten Anstieg, aber keine riesige Welle. Ich hoffe, dass es kein Riesenproblem oder gar eine Epidemie geben wird. Aber auch das werden wir in den nächsten Jahren wissen.
Rudolf Stark (Foto: privat)
Joachim von Gottberg (Foto: Sandra Hermannsen)