Streitkultur 3.0
Lernräume zur Auseinandersetzung mit Hass und Gewalt im Netz
Nahezu jeder Jugendliche hat heutzutage ein eigenes Smartphone und damit einen beinahe permanent verfügbaren Zugang zur digitalen Welt und einer Flut an Informationen (JIM-Studie 2018 [mpfs]). Internetnutzung und Medienverhalten haben einen signifikanten Einfluss auf die sensible Phase der Identitätsbildung bei Jugendlichen. Das Smartphone ist für sie nicht mehr nur Kommunikationsmittel, um mit Freunden und der Familie in Kontakt zu bleiben. Vielmehr dient es als Lieferant und Quelle von Informationen und Wissen.
Über soziale Netzwerke, Plattformen und Messengerdienste sind Kinder und Jugendliche schon früh mit Meldungen, Berichten und Bildern konfrontiert, die Ängste hervorrufen und sogar traumatisieren können. Zudem fällt es immer schwerer, Desinformation von Fakten, Gerüchte von Nachrichten zu unterscheiden, auch weil die Technik immer bessere „Fakes“ ermöglicht. Sogenannte Deep Fakes, also durch künstliche Intelligenz entstandene Bilder und Videos, wirken täuschend echt, obwohl sie es nicht sind.
Die Schnelligkeit der Medien, die schwindende Funktion von Journalistinnen und Journalisten als Gatekeeper und das Web 2.0, in dem jede und jeder zum Sender von Informationen werden kann, führen zu einer nie dagewesenen Informationsdichte, die die Verbreitung von Desinformationen, Propaganda und Hassreden begünstigt und vorantreibt. Algorithmen und Social Bots verstärken diesen Effekt zusätzlich. Kontroverse Inhalte schaffen es nur selten in die Timeline, ein Austausch mit Andersdenkenden findet online zumindest nicht konstruktiv statt. Die Funktionsweise der sozialen Netzwerke, dass vor allem Inhalte angezeigt werden, die den Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer entsprechen, verstärkt Filterblasen und kreiert Echokammern. Dadurch werden Erwartungssicherheiten bei den Nutzerinnen und Nutzern verstärkt und kontroverse, aber konstruktive Debatten verhindert.
Die Möglichkeiten, miteinander in einen Dialog zu kommen, verringern sich, nicht nur in der digitalen Welt. Perspektivwechsel werden schwieriger, eine Polarisierung setzt ein. Gerade in der für die Identitätsbildung sensiblen Phase entstehen hier für Jugendliche neue Herausforderungen, aber auch für ihre Eltern, Lehrkräfte und Multiplikatoren. Umso wichtiger ist es, die friedenspädagogische Medienkompetenz von Jugendlichen zu stärken. Sie werden befähigt, Inhalten, die Unsicherheit bei ihnen hervorrufen, kompetent zu begegnen und Strategien für den Umgang mit der eigenen Filterblase zu entwickeln. Hier setzt das Projekt „Streitkultur 3.0“ mit einem innovativen Konzept an. Es will junge Menschen gegenüber Hass und Desinformation im Netz sensibilisieren, friedenspädagogische Medienkompetenzen stärken und sie ermutigen, sich für ein friedliches Miteinander im Netz einzusetzen.
Die Idee für das Projekt „Streitkultur 3.0“ entstand aus dem Kinderportal www.frieden-fragen.de/, das die Berghof Foundation schon seit 2005 betreibt. Neben multimedial gestalteten Themenwelten, u.a. zu den Hauptthemen „Frieden und Krieg“, „Gewalt und Streit“, bildet das Frage-Modul das Herzstück der Webseite. Hier können Kinder und Jugendliche ihre Fragen stellen, die das Redaktionsteam individuell und persönlich per Mail beantwortet oder bei Fehlen einer Mailadresse auf der Webseite veröffentlicht.
Dabei fiel eine zunehmende Verunsicherung der Fragenden auf, gerade im Hinblick auf aktuelle politische Ereignisse. Kriege, Terrorismus, Gewalt und Unterdrückung schüren Ängste, vor allem, wenn eine Einordnung der Geschehnisse fehlt oder nicht wahrgenommen wird. Jugendlichen fällt es teilweise schwer, bei Meldungen zwischen Gerüchten und Fakten zu unterscheiden. Immer wieder wurde in Fragen auf Verschwörungsseiten verwiesen: Ob dies wirklich stimme. Auch in sozialen Netzwerken und Messengern stoßen Kinder und Jugendliche auf vermeintliche Nachrichten, wie etwa die Ankündigung eines Dritten Weltkrieges oder einer Zerstörung der Welt durch Atomwaffen. Dadurch werden Ängste und Unsicherheiten weiter verstärkt, was wiederum Extremistinnen und Extremisten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Sie verstärken Polarisierungen, versuchen die Agenden von Medien zu beeinflussen und können sogar zur Radikalisierung beitragen.
Aus den genannten Gründen entstand das Projekt „Streitkultur 3.0“ als Antwort darauf. Hier soll in einem partizipativen Prozess die friedenspädagogische Medienkompetenz von Jugendlichen gestärkt werden und sie vor allem darin ermutigt werden, das Netz als positiven Gestaltungsraum zu begreifen und aktiv zu werden. Denn auch, wenn es aktuell in den Kommentarspalten nicht so scheint, glauben wir daran, dass auch im digitalen Raum eine konstruktive Streitkultur möglich ist. Diese ist dringend notwendig, um ein gewaltfreies, friedliches Miteinander zu ermöglichen, sowohl online als auch offline. Denn Gewalt im Netz bleibt nicht folgenlos, sie wirkt auch im realen Leben fort.
Um eine konstruktive digitale Streitkultur zu ermöglichen, wurden im Projekt „Streitkultur 3.0“ fünf Themenbereiche in Dialoglaboren aufbereitet:
- Fake oder Fakt: zum kritischen Umgang mit Informations- und Meinungsbildungsangeboten
- Hass und Hetze: Angebote gegen Menschenverachtung, Ausgrenzung und Gewalt
- Bots und Algorithmen: Leitfaden für Multiperspektivität statt Meinungsmache
- Friedenspädagogische Medienkompetenz: Beiträge zu einer digitalen Ethik
- Engagement im Internet: Gewaltfreiheit und Demokratie stärken
Das „3.0“ im Projekttitel steht für eine angestrebte Weiterentwicklung des bekannten Web 2.0, in dem zwar jeder zum Sender werden kann, aber nicht unbedingt Verantwortung übernimmt und sich für ein aktives und gewaltfreies Miteinander im Netz engagiert. Ziel ist es, Jugendliche zu ermutigen, zu einer starken, vielfältigen digitalen Zivilgesellschaft beizutragen, die im Netz genauso notwendig ist wie im realen Leben. Das „3.0“ steht aber auch für den besonderen methodischen Ansatz, nämlich eine Verschränkung von analog und digital bei der Umsetzung der Dialoglabore. Die Teilnehmenden erhalten über die App Streitkultur 3.0 auf ihrem Smartphone digitale Impulse, in Form von Meinungsspiegeln, Textbausteinen, Bildern und Videos. Diese bearbeiten sie dann wiederum analog in Einzel- oder Gruppenarbeit und kommen schließlich miteinander in einen Dialog.
Zwar sind die allermeisten Jugendlichen sehr eloquent in der Bedienung ihres Smartphones, dies trifft vor allem aber auf technische Aspekte und die Anwendung von Apps zu, nicht immer unbedingt auf eine kritische Mediennutzung. Teilnehmende des Projekts „Streitkultur 3.0“ merkten etwa an, dass sie es zwar unheimlich fanden, dass Google Maps ihnen ihren Nachhauseweg praktisch selbstständig anzeigte, aber wussten großteils nicht, wie sie damit umgehen können. Eine Teilnehmerin stellte für sich fest:
Entweder bin ich im Netz unterwegs und gebe meine Privatsphäre auf, oder ich bleibe eben offline.“
Auch beim Thema „Bots & Algorithmen“ ist das Interesse der Zielgruppe sehr groß, einige Teilnehmende fanden es zu Beginn des Dialoglabors überaus „praktisch“, dass ihnen nur Produkte und Neuigkeiten im eigenen Feed angezeigt werden, die die Person auch interessierten. Bei einer näheren Beschäftigung und Sensibilisierung fiel das Urteil im Anschluss wesentlich kritischer aus.
Bei „Streitkultur 3.0“ steht vor allem die friedenspädagogische Medienkompetenz im Vordergrund. Es geht nicht nur darum, Jugendlichen Wissen über das Netz und seine Funktionsweisen zu vermitteln und sie dazu zu befähigen, kompetent mit unterschiedlichen digitalen Phänomenen zu agieren. Vielmehr erkunden die Jugendlichen das Netz als einen Raum, in den sie sich aktiv einbringen können, den sie für die Gestaltung und Verwirkung ihres eigenen Engagements nutzen und damit zu einem friedlichen Miteinander im Netz beitragen. Sie werden ermutigt, sich für demokratische Werte und Gewaltfreiheit im Netz einzusetzen. Sie tragen so zu einer konstruktiven, digitalen Streitkultur bei und werden Teil einer digitalen Zivilgesellschaft. Denn auch online ist Zivilcourage und das Einstehen für demokratische Werte unerlässlich.
In den Dialoglaboren beschäftigen sie sich beispielsweise damit, welche Auswirkungen Hass und Hetze auf eine Gesellschaft haben können und was Hate Speech für Individuen und Mitglieder marginalisierter Gruppen bedeutet. An Beispielen aus unterschiedlichen Ländern wie Indien oder Myanmar erfahren Jugendliche im Dialoglabor „Fake oder Fakt“, welche Folgen Desinformation im Netz haben kann, und können sie in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext verorten. Dabei stehen nicht nur Gefahren und negative Konsequenzen im Vordergrund, sondern auch, welche Chancen der digitale Raum und technische Entwicklungen haben können, etwa, wie Algorithmen oder KI für eine digitale Demokratie genutzt werden können.
Der partizipative Ansatz von „Streitkultur 3.0“
Das Besondere an dem Projekt „Streitkultur 3.0“ ist die Zusammenarbeit des Projektteams mit einem eigens dafür gegründeten Jugendrat. Dieser bestand aus 22 Jugendlichen von fünf unterschiedlichen Schulen in Tübingen und der näheren Umgebung. Es sollten nicht nur Lernmaterialien für Jugendliche konzipiert werden, sondern gemeinsam mit Jugendlichen in einem partizipativ-pädagogischen Ansatz. Die Zielgruppe wurde in Form eines Jugendrates in den Konzeptions- und Produktionsprozess der Dialoglabore miteinbezogen. Die Jugendlichen führten Straßenumfragen durch, entwickelten Ideen für mögliche Module der Dialoglabore und konzipierten Drehbücher für die Erklärfilme. Diese wurden im Anschluss mit einer Agentur realisiert. Auch bei der Wahl des Stils der Erklärfilme wurde der Jugendrat befragt. Hier zeigt sich beispielhaft, wie wichtig die Einbeziehung der Zielgruppe in die Konzeption von Lernmaterialien, ‑medien und ‑formaten ist. Während vonseiten unterschiedlicher Agenturen darauf verwiesen wurde, dass für eine optimale Zielgruppenerreichung innovativere Stile als die Legetechnik für die Erklärfilme gewählt werden sollten, entschied sich der Jugendrat klar für diese Stilart. Durch den dialogorientierten, partizipativen Prozess setzt das Projekt direkt an den Bedürfnissen der Zielgruppe an und stellt die Jugendlichen selbst in den Mittelpunkt der initiierten und begleitenden Lernprozesse. Die Partizipation, aber auch das offene und dialogbasierte Konzept stellen die hohe Akzeptanz aufseiten der Jugendlichen sicher.
Innovativ ist auch das Medium, mit dessen Hilfe die Dialoglabore durchgeführt werden, die App Streitkultur 3.0. Oftmals sind Smartphones im Lernraum Schule verboten, dabei könnten sie auch im Unterricht genutzt werden. Jugendliche wünschen sich, ihr Smartphone auch im schulischen Kontext einzusetzen und nicht nur für Freizeitaktivitäten. Smartphones dienen wie schon erwähnt nicht nur der digitalen Kommunikation untereinander, sondern auch als Recherchewerkzeug und Nachrichtenmedium. Für die Auseinandersetzung mit digitalen Phänomenen wie Desinformation, Hate Speech und Algorithmen ist es zwingend erforderlich, dies nicht nur analog zu tun, sondern auch unter Verwendung digitaler Tools. Dabei können Smartphones zum Lernen im und über den digitalen Raum verwendet werden. In fünf unterschiedlichen Themenbereichen setzen sich Jugendliche damit auseinander, wie man Hass im Netz begegnen kann, wie sie manipulative oder gefälschte Inhalte erkennen können und wie auch trotz Filterblasen und Co. eine multiperspektivische Meinungsbildung gelingen kann. Außerdem sind die fünf im Projekt entstandenen Erklärfilme auf dem YouTube-Kanal und der Projektwebseite https://www.digitale-streitkultur.de/ zu sehen. Hier können sich auch interessierte Multiplikatoren und Lehrkräfte für ein Training mit der App Streitkultur 3.0 bewerben oder auch ein Dialoglabor für ihre Klasse oder Jugendgruppe buchen. Dieses ist zumindest bis Jahresende bundesweit und zudem kostenfrei möglich.
Da die Idee für „Streitkultur 3.0“ aufgrund unserer Erfahrungen auf www.frieden-fragen.de entstand, wurde die neue Themenwelt „Gewalt im Netz“ auf der Webseite gelauncht, in der über Phänomene wie Hate Speech und Fake News aufgeklärt wird und Handlungsoptionen aufgezeigt werden. Gerade bei Fragen, durch die die Jugendlichen aufgrund von Desinformationen einen Kriegsausbruch in Deutschland befürchten oder mit Gewalt im Netz konfrontiert sind, ist ein Verweis auf die multimediale Themenwelt sehr hilfreich.
Literatur:
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart 2018. Abrufbar unter: https://www.mpfs.de
Das Projekt „Streitkultur 3.0: Lernräume und ‑medien für junge Menschen zur Auseinandersetzung mit Hass und Gewalt im Netz“ wird von September 2017 bis Dezember 2019 im Rahmen von „Demokratie leben!“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert.