Tauchen Jugendliche zu tief in die Welt digitaler Medien ein?

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Medien hatten schon immer eine besondere Faszination für Jugendliche. Angesichts der starken Bindung, die sie zu Smartphones und Messengerdiensten, Social-Media-Angeboten und digitalen Spielen aufbauen, ist im öffentlichen Diskurs immer häufiger von einer dysfunktionalen Mediennutzung die Rede, von einer Sucht oder Abhängigkeit, aus der die Betroffenen von alleine nicht mehr herausfinden (können).

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 13-15

Vollständiger Beitrag als:

Sucht – oder einfach nur viel?

Man muss nur einmal die Daten der letzten KIM-Studie zurate ziehen, um einen ungefähren Eindruck davon zu bekommen, wie rasant der Medienumgang bereits im Kindesalter an Bedeutung gewinnt. Demnach brachten im Jahr 2016 die 6- bis 7-Jährigen täglich fast drei Stunden mit Medien zu, vor allem mit dem Fernsehen, im Weiteren mit digitalen Spielen, Radio, Büchern und Internet. In der Gruppe der 12- bis 13-Jährigen – auch hier ist die Handynutzung abseits digitaler Spiele noch nicht mit erfasst – summiert sich die Nutzung auf über fünf Stunden (vgl. MPFS 2017). In der wenigen Zeit zwischen Schulschluss und Zubettgehen funktioniert das längst nur noch als Multitasking, mit Parallelnutzung und dem Verschmelzen von medialen und nonmedialen Aktivitäten.

Die beeindruckenden Nutzungszeiten alleine sind aber noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass mit Einstieg in das Jugendalter vielerorts bereits eine Sucht oder Abhängigkeit vorliegt. Vielmehr hat sich im Fachdiskurs der Konsens herauskristallisiert, dass (noch) andere Kriterien erfüllt sein müssen. Im Fokus steht hier weniger die (exzessive) Nutzung an sich, sondern es sind bestimmte mit ihr verbundene Verhaltensweisen, die als problematisch oder pathologisch eingeschätzt werden und für die Betroffenen negative Konsequenzen haben können (vgl. Evers-Wölk/Opielka 2016). Ein sehr wichtiges Kriterium ist hier der sogenannte Kontrollverlust, also wenn es für Betroffene immer schwieriger wird, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen und einzuschränken.

Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer klassischer Suchtkriterien (Toleranzentwicklung, Einengung des Alltags, Regulation negativer Gefühle, Entzugserscheinungen, Rückfälle und negative Folgen für den Alltag), die auf den Bereich digitaler Medien übertragen worden sind und für sich betrachtet durchaus den Alltag vieler Jugendlicher kennzeichnen können (vgl. Hajok/Seiß 2018). Von Abhängigkeit spricht man aber erst dann, wenn der Medienumgang über Monate hinweg gleich mehrere dieser Kriterien erfüllt. Hierauf weisen auch die Checklisten hin, mit denen beispielsweise Eltern prüfen können, ob der Medienumgang ihrer Schützlinge schon ein echtes Problem mit Handlungsbedarf ist (vgl. Klicksafe 2018).

Schon länger wird eine Medienabhängigkeit auch als eine psychische Störung mit Krankheitswert diskutiert. Für das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) fixierte eine Expertenkommission bereits im Jahr 2013 Kriterien zur Diagnostik einer Gaming Disorder, die mit der aktuellen Revision der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Klassifizierung von Krankheitsbildern (ICD-11) nun auch als mentale Verhaltens- und Neuroentwicklungsstörung klassifiziert ist (vgl. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2018). Die Kriterien, die über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten vorliegen müssen, sind neben dem Kontrollverlust eine zunehmende Priorisierung des Spielens (mit Vorrang im Alltag) und negative Konsequenzen.
 

Jugendliche als Hauptrisikogruppe

Anhand solcher „Suchtkriterien“ wird die Verbreitung einer Medienabhängigkeit auch statistisch erfasst und die in diesem Sinne pathologische bzw. dysfunktionale Mediennutzung als Problem in der Lebenswelt vor allem von Jugendlichen beschrieben. Bereits die zu Beginn der 2010er-Jahre veröffentlichten Studien, die den besonderen Stellenwert von Smartphones noch nicht einfangen konnten, kamen zu dem Ergebnis, dass zwischen 2 % und 6 % der Deutschen eine Medienabhängigkeit (Computerspiel- oder Internetabhängigkeit) entwickelt haben und sie bei Heranwachsenden überdurchschnittlich stark verbreitet ist (vgl. Hajok 2017).

Die Ergebnisse der aktuelleren Teilstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Drogenaffinität Jugendlicher weisen eindrucksvoll auf steigende Prävalenzen hin. So wird für die 12- bis 17-Jährigen ein deutlicher Anstieg einer computerspiel- oder internetbezogenen (Sucht-)Störung von knapp über 3 % im Jahr 2011 auf fast 6 % im Jahr 2015 ausgewiesen und weiteren über 20 % ein problematisches Nutzungsverhalten attestiert (vgl. Orth 2017). Zudem kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass weibliche Heranwachsende signifikant häufiger betroffen sind als männliche und der pathologische Umgang mit Computerspielen und Internet bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich oft verbreitet ist.

Die Geschlechterunterschiede sind im Kontext der spezifischen Zugänge zu Social Media zu sehen. So attestiert eine aktuelle DAK-Studie fast doppelt so vielen Mädchen wie Jungen (3,4 % zu 1,9 %) eine Abhängigkeit von WhatsApp, Instagram und Co. (vgl. DAK-Gesundheit 2018). Bei den hier abgefragten neun „Suchtkriterien“ gab ein Drittel der befragten 12- bis 17-Jährigen an, soziale Medien oft zu nutzen, um nicht an unangenehme Dinge denken zu müssen. Jeweils mehr als ein Siebtel der Befragten nutzte demnach Social Media oft heimlich, konnte die Nutzung nicht stoppen (obwohl andere gesagt haben, dass sie es wirklich tun müssten) oder fühlte sich oft unglücklich, wenn die Nutzung nicht möglich war.

Eine zentrale Frage können solche Querschnittsuntersuchungen allerdings nur bedingt klären: Handelt es sich bei der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) beobachteten dysfunktionalen Mediennutzung um eine bereits manifestierte Mediensucht oder (lediglich) um eines dieser Durchgangsphänomene, wenn sich Heranwachsende (zeitlich begrenzt) sehr intensiv und exzessiv einer Sache widmen, um sich dann von selbst wieder anderen Dingen zuzuwenden? Auch hinsichtlich der Medienzugänge ist das Jugendalter nun einmal eine sehr bewegte, schnelllebige Phase mit sich wandelnden persönlichen Interessen.
 

Individuelle, soziale und mediale Faktoren

Wenn die Bindung zu digitalen Medien übergroß wird, dann stehen dahinter multifaktorielle Zusammenhänge. Hervorzuheben sind erstens bestimmte individuelle Faktoren, etwa wenn das Leben eines Jugendlichen von Einsamkeit, Schüchternheit und geringem Selbstwertgefühl, von Depression, Stress und (Versagens-)Ängsten, einer gering ausgeprägten Verhaltenskontrolle oder der Unfähigkeit, Probleme zu bewältigen, geprägt ist. Zudem können Medien ihre besondere Sogwirkung besonders dann entfalten, wenn Misserfolge und mangelnde Erfolgserlebnisse in der realen Welt oder Langeweile, Frustration und kritische Lebenssituationen den Alltag dominieren (vgl. Klicksafe 2018).

Zu verweisen ist zweitens auf soziale Faktoren, etwa die Eingebundenheit der Jugendlichen in ihre Peergroup. So kann der Rückzug in die Welt der Medien durchaus eine Reaktion auf soziale Ausgrenzung sein, der Schritt zurück in die „reale Welt“ durch Akzeptanz und Toleranz des dysfunktionalen Medienumgangs im Freundeskreis erschwert werden. Im Fach „diskurs“ wird zudem ein gestörtes Familienklima mit problematischen Eltern-Kind-Beziehungen als ein zentraler Risikofaktor identifiziert und ein Rückzug in die Welt der Medien als eine Reaktion auf Konflikte mit Eltern beschrieben (vgl. Hirschhäuser/Rosenkranz 2012).

Nicht zu übersehen ist drittens, dass Jugendliche heute in einer vernetzten Welt heranwachsen, in der sie sich die Grenzen zunehmend selbst setzen müssen. Mit ihrer Interaktivität und Multioptionalität, ihrer Omnipräsenz im Alltag, Endlosigkeit und permanenten Verfügbarkeit sowie ihren vielfältigen Möglichkeiten zu Eigenaktivität und Selbstausdruck, Involvement und sozialer Vernetzung ist gerade digitalen Medien ein besonderes „Suchtpotenzial“ immanent, das Jugendliche quasi ziellos und unentwegt von Post zu Post, Level zu Level, Link zu Link treiben lässt (vgl. Hajok 2017).
 

Ansatzpunkte für Schutz und Prävention

Anstatt eine ganze Generation als „abhängig“ oder „süchtig“ zu stigmatisieren, gilt es, zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass die Nutzung von Social Media und digitalen Spielen vielerorts einen erheblichen Teil der Lebenszeit von Jugendlichen in Anspruch nimmt, ohne dass hier per se ein dysfunktionaler bzw. pathologischer Medienumgang vorliegt. Handlungsbedarf besteht insbesondere dann, wenn die Jugendlichen so tief in die Welten digitaler Medien eintauchen, dass die anderen wichtigen Dinge des Alltags nicht mehr angemessen bewältigt werden können.

Damit es so weit nicht kommt, sollten Eltern und pädagogische Fachkräfte frühzeitig gegensteuern und sich hierbei auch an den Vorschlägen orientieren, die ihre Schützlinge artikulieren. Sie selbst empfehlen mediale Abstinenzräume und medienfreie Zeiten. Sie wünschen sich eine Kommunikation mit den Erwachsenen „auf Augenhöhe“ und klare Regeln zum Medienumgang, die sie gemeinsam mit ihren Erziehenden aushandeln. Sie kritisieren demgegenüber Vorurteile, fehlendes Wissen und eine zu große Besorgtheit von Eltern und von pädagogischen Fachkräften, ebenso dämonisierende und pauschalisierende Informations- und Lernmaterialien (vgl. Wölfling u.a. 2015).

Wenn Eltern verhindern wollen, dass ihre Schützlinge zu tief in die Welt digitaler Medien eintauchen, müssen sie frühzeitig auf eine diskursiv-begleitende Medienerziehung setzen. Das bedeutet, den Medienumgang von Heranwachsenden von Beginn an im Auge zu behalten, klare zeitliche und inhaltliche Regeln mit ihnen auszuhandeln, sie bei der Ausbildung der Fähigkeit zur Selbstregulation zu unterstützen und Selbstreflexionsprozesse anzuregen. Eltern sind hier nicht auf sich allein gestellt, sondern erhalten mit den aktualisierten Klicksafe-Tipps (vgl. Klicksafe 2018) oder auf den Seiten des Onlineelternratgebers „SCHAU HIN!“ sehr gute Unterstützung.

Pädagogische Fachkräfte können demgegenüber auf Materialien für den Einsatz in schulischer und außerschulischer Arbeit zurückgreifen. Beispielhaft zu nennen ist das von Klicksafe und Handysektor herausgegebene Unterrichtsmaterial Always ON. In seinem Onlineangebot bietet Handysektor im Bereich „Sucht“ auch direkt an Jugendliche adressierte Aufklärung und Anregung zur Selbstreflexion. Von hier gelangen potenziell Betroffene auch zu einem Selbsttest zur Videospielsucht und exzessiver Internetnutzung, der auf dem BZgA-Angebot ins-netz-gehen.de online verfügbar ist.
 

Literatur:

DAK-Gesundheit (Hrsg.): WhatsApp, Instagram und Co. – so süchtig macht Social Media. DAK-Studie: Befragung von Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren. Hamburg 2018

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hrsg.): Drogen- und Suchtbericht. Berlin 2018

Evers-Wölk, M./Opielka, M.: Neue elektronische Medien und Suchtverhalten. Endbericht zum TA-Projekt. Berlin 2016

Hajok, D.: Alte Muster – neue Abhängigkeiten? Wenn die Nutzung digitaler Medien außer Kontrolle gerät. In: Die Kinderschutz-Zentren (Hrsg.): Psychische Erkrankung und Sucht. Hilfen für betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern. Köln 2017, S. 89 – 110

Hajok, D./Seiß, L.: Sucht, Abhängigkeit? Oder doch nur ein ganz normales Heranwachsen mit digitalen Medien?. In: JMS-Report, 5/2018/41, S. 6 – 10

Hirschhäuser, L./Rosenkranz, M.: Exzessive Internetnutzung in Familien. In: tv diskurs, Ausgabe 62, 4/2012, S. 14 – 19

Klicksafe: Digitale Abhängigkeit – klicksafe-Tipps für Eltern. Damit der Spaß nicht aus dem Ruder läuft. Düsseldorf 2018

MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) (Hrsg.): KIM-Studie 2016. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017

Orth, B.: Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2015. Teilband Computerspiele und Internet. Köln 2017

Wölfling, K./Brand, M./Klimmt, C./Krämer, N./Löber, S./Müller, A./Wildt, B. te: Neue elektronische Medien und Suchtverhalten. Mainz 2015