The one and only

Barbara Bleisch im Gespräch mit Eva Illouz

Seit über 20 Jahren beschäftigt sich die Soziologin Dr. Eva Illouz, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie der École des hautes études en sciences sociales in Paris, mit der Liebe, dem kapitalistischen Einfluss ihres Werdens und Vergehens und den gesellschaftlichen Widersprüchen moderner Kulturen, die Menschen bei ihrer Partnerwahl beeinflussen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 24-29

Vollständiger Beitrag als:

 

Ihr neuestes Buch heißt Warum Liebe endet. Muss denn jede Liebe zwangsläufig enden?  

Natürlich nicht. Es gibt viele Liebesbeziehungen, die nicht enden, aber es passiert immer häufiger. Trennungen gehören inzwischen zu unserem Leben. Daher stellt sich die Frage: warum. Unter anderem, weil die Menschen, anders als früher, ihre Sexualität heute zunehmend erkunden. Außerdem ist die Sexualität zum Glück legitimer geworden. Die Menschen können mehr Partner haben und gehen daher zwangsläufig verschiedene Beziehungen ein. Bis sie die große Liebe finden oder eben nicht, probieren sie eine ganze Reihe von Beziehungen aus. Wenn ich über das Ende der Liebe spreche, meine ich damit natürlich nicht, dass jede Liebesbeziehung zum Scheitern verurteilt ist. Ich sage einzig, dass unser Lebensstil dazu führt, dass wir von einer Beziehung zur nächsten wechseln.

Sie beschreiben, wie früher das ökonomische Modell die Partner zusammengehalten hat – der Tausch Liebe gegen Geld. Der Mann hat in einer festen Beziehung Sexualität und Stammhalter erhalten. Die Frau brauchte einen festen Partner, um ökonomisch abgesichert zu sein. Sind heutige Verhältnisse ein Fortschritt?

Natürlich ist es ein Fortschritt. Das heißt aber nicht, dass die Dinge damit leichter werden oder wir automatisch glücklicher wären. In früheren traditionellen Gesellschaften waren Scheidungen viel schwieriger. Und es gab keine Wahlmöglichkeit, weder für Männer noch für Frauen, aber vor allem nicht für Frauen. Mit der Möglichkeit, einen Partner zu wählen, hat auch die Möglichkeit zugenommen, ihn wieder abzuwählen, also eine Beziehung, wenn man möchte, wieder zu beenden. Das ist ein Fortschritt, wenn man an die individuelle Freiheit und an die Unabhängigkeit glaubt sowie an die relative Autonomie der Individuen gegenüber der Gemeinschaft, der Religion und der Gesellschaft.

Das heißt, mehr Autonomie, mehr Selbstbestimmung machen nicht zwangsläufig glücklich?

Ja. Genau das meine ich. Viele Leute bringen das durcheinander. Deshalb kritisieren konservative Bürger immer wieder die heutige Gesellschaft oder liberale Normen oder die Freiheit, weil auch sie beobachten, dass uns die größere Freiheit nicht glücklicher macht. Aber ich denke, wir mussten uns entscheiden, ob wir freier oder glücklicher sein wollten. Und diese Entscheidung haben wir kollektiv getroffen. Der Preis, den wir für die Freiheit bezahlen, ist eine anspruchsvollere Moral, d. h., mehr Gleichberechtigung von Mann und Frau und mehr Gleichberechtigung zwischen denjenigen, die zu einer Gemeinschaft gehören, und jenen, die nicht dazugehören.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Trennungen meistens von den Frauen ausgehen. Warum ist das so?

Das ergaben Umfragen der 1980er- und 1990er-Jahre. Ich weiß nicht, ob es immer noch zutrifft. Ich denke, heute beenden auch vermehrt Männer Beziehungen, mehr als früher. Dass davor mehr die Frauen Trennungen initiiert haben, hat damit zu tun, dass sie immer mehr in den Arbeitsmarkt einstiegen und dadurch wirtschaftliche Alternativen und Möglichkeiten bekamen. Außerdem werden Frauen und Männer anders sozialisiert. Frauen werden dazu erzogen, für andere zu sorgen und ihre Gefühle auszudrücken. Daher erwarten sie das auch von den Männern. Diese hingegen werden dazu erzogen, im kapitalistischen Marktsystem konkurrenzfähig zu sein und ihre Gefühle nicht zu zeigen. Daher fällt es ihnen viel schwerer, die Forderungen der anders sozialisierten Frauen zu erfüllen. Ich vermute, dass dies bei den Frauen Frustrationen auslöst. Überdies herrscht immer noch Ungleichheit in den privaten Haushalten. Meistens leisten die Frauen doppelte Arbeit. Sie haben einen Job und übernehmen auch den Haushalt, weil die Männer ihren Anteil nicht leisten. Daher werden eher die Frauen unzufrieden.

Ein Kernbegriff Ihres Buches ist die „negative Beziehung“. Das Problem der negativen Beziehung ist weniger, dass es zu einer Trennung kommt, sondern dass die Beziehung gar nicht erst beginnt. Wir sind nicht mehr richtig fähig, uns aufeinander einzulassen.

Der Begriff „negativ“ hat eine lange Geschichte in der Philosophie. Darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Einfach gesagt, beziehe ich mich auf zwei Konzepte aus der phänomenologischen Tradition. Das eine stammt von Jean-Paul Sartre, der unser Bewusstsein als unbestimmt versteht. Das heißt: In gewisser Weise haben wir keine konkreten Eigenschaften. Das Selbst bleibt unbestimmt. Deshalb ist es frei.

Tatsächlich bedeutet diese Unbestimmtheit, dass wir nicht wirklich wissen, was wir wollen, weil wir gar nicht wissen, wer wir sind. Und genau das ist die Voraussetzung für Freiheit. Diese Voraussetzung ist einerseits sehr gut, verursacht aber auch Angst.

Die zweite Tradition, ebenfalls aus der Phänomenologie, ist leicht anders und stammt von Martin Heidegger. Negativ ist, was geschieht, wenn das, was man normalerweise tut, zusammenbricht. Wenn etwas zusammenbricht, ist man gezwungen, plötzlich darauf zu achten, was man tut, obschon es vor ein paar Sekunden noch völlige Routine war und man sich dabei nichts gedacht hat. Für Martin Heidegger ist das ein kreativer Moment, eine Eruption, die Dinge zusammenbrechen lässt und uns dadurch zwingt, sie zu beachten.
Das meine ich mit „negativ“ – diesen Zusammenbruch. Wie wir wissen, können Beziehungen jeden Moment zusammenbrechen. Ob wir in ihnen drinstecken oder sie noch gar nicht begonnen haben. Dies zwingt uns, sie zu beachten.
Genau das tut die Klinische Psychologie. Sie zwingt uns, die ständig lauernde Gefahr zu sehen, nämlich dass unsere Beziehung scheitern könnte oder bereits zerbrochen ist, und wir versuchen zu verstehen, warum das passiert ist.
Diese zwei Bedeutungen von „negativ“ benutze ich in meinem Buch.
Und wie Sie richtig bemerkt haben, lautet einer meiner wichtigsten Befunde, dass die gleichen Kräfte, die es uns erschweren, Beziehungen einzugehen, auch aktiv sind, wenn langjährige Beziehungen zerbrechen.

Und diese Negativität der Beziehungen, die eben nichts damit zu tun hat, dass die Beziehungen schlecht wären, sondern dass sie so unglaublich brüchig geworden sind – Sie nennen Beispiele wie One­-Night­-Stands, Seitensprünge, Freundschaft plus, Cybersex –, wird begünstigt durch den Kapitalismus. Wie genau hängen die beiden zusammen?

Ein Zusammenhang geht auf die Zeit nach den 1960er-Jahren zurück, als die Sexualität freier wurde. Dadurch wurden Männer und Frauen ein wenig gleichberechtigter. Frauen konnten ihre Sexualität mehr genießen als zuvor, als sie mit Scham und Sünde behaftet war. Doch vor allem begann die visuelle Medienindustrie, also Kino, Werbung und das Fernsehen, den sexualisierten Körper von Männern und Frauen, aber insbesondere von Frauen, einzusetzen und zu verwerten. Hatte man bis zu den 1970er-Jahren selten Sexszenen zu Gesicht bekommen, stieg bereits in den 1970er-Jahren, aber vor allem in den 1980ern die Zahl der Sexszenen massiv.
Sexualität und sexualisierte Körper wurden immer mehr Bestandteil von Werbespots, von Kino- und Fernsehfilmen, weil Zuschauer davon angezogen werden. So wurde die Sexualität zu einer neuen Ware, die vom Kapitalismus massiv ausgebeutet wurde. Und zwar von der visuellen Medienindustrie, welche die sexualisierten Körper von Frauen gewinnbringend einsetzt.
Diese Hypersexualisierung der Beziehungen hat zahlreiche Auswirkungen auf die Möglichkeiten, emotionale Bindungen einzugehen.

Seit nunmehr 20 Jahren beschäftigt Sie das Verhältnis von Romantik und Kapitalismus. Was bringt Sie dazu, sich als Soziologin auf dieses Verhältnis zu fokussieren?

Ich würde es so sagen: Die Modernität, die Natur der Moderne, also was es heißt, modern zu sein, eine kapitalistische Wirtschaft zu haben und in einer Gesellschaft zu leben, in der die Individuen allein, außerhalb von Gemeinschaften leben, das sind wichtige Fragen in der Soziologie. Und da die Liebe traditionell vor allem mit weiblichen Ängsten assoziiert und die Soziologie von Männern dominiert wird, gehört die Liebe weniger zu ihren Themen.
Daher ist eines der Ziele meiner – wie Sie zu Recht sagten – langjährigen Studien, aufzuzeigen, dass ein Thema oder Gefühl, das universell, persönlich und individuell zu sein scheint, von kollektiven Veränderungen und vor allem vom Kapitalismus geprägt ist.

Die Welt der Gefühle und die Welt der Wirtschaft stehen also aus traditioneller Sicht im Gegensatz zueinander.

Aber ich denke, diese Sicht hängt mehr mit dem zusammen, was wir aufgrund unserer Ideologie glauben möchten und weniger mit empirisch belegten Fakten.
So haben sich z.B. Frauen und Männer bei der Partnerwahl immer finanzielle Überlegungen gemacht. Und das tun sie auch heute noch, ob sie es zugeben oder nicht. Geld, Status oder Bildung sind Dinge, die eine wichtige Rolle spielen, wenn wir uns verlieben, wenn wir dem Menschen begegnen, mit dem wir leben möchten. Das ist interessant. Die Frage für mich war: Wenn die Familie nicht mehr für die Partnerschaftsvermittlung und die Heirat zuständig ist und wenn die Familie auch nicht mehr der Ort ist, an dem Menschen wirtschaftlich gesehen ihr bedeutendstes Betätigungsfeld haben, weil sie außer Haus in einem kapitalistischen Marktsystem arbeiten, was passiert dann mit den romantischen Gefühlen?
Und vor allem: Was passiert mit den romantischen Gefühlen, wenn die romantische Liebe das Hauptthema der großen Verbrauchermärkte wird, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt?

Sie haben dafür auch den schönen Begriff der Emodities geprägt, also mit Emotionen aufgeladene Güter und Waren, die wir kaufen können. Zwar will man uns weismachen, dass wir Gefühle, Liebe, Zuwendung kaufen könnten. Aber eigentlich sind es immer nur Waren, die wir gegen Geld erstehen können. Die Frage ist schlussendlich: Können wir uns auch einen Partner oder Zweisamkeit kaufen, z.B. mit einem Sexroboter? Ist das eine gute Idee?

Wahrscheinlich nicht. Aber ich weiß nicht, ob es darum geht, ob es eine gute oder eine schlechte Idee ist. Es fragt sich vielmehr, ob Roboter aus unserem Leben wegzudenken sind oder nicht. Und ich denke, sie lassen sich nicht mehr wegdenken. Wir bewegen uns auf eine Gesellschaft zu, in der Roboter eine immer stärkere emotionale Rolle in unserem Leben spielen.
Stellen Sie sich vor, wir können eine genügend komplexe Software entwickeln, die bis zu einem hohen Grad das menschliche Gehirn und eine große Vielfalt an Gefühlsreaktionen auf unser Handeln imitiert.
 

Da gibt es keinen Grund, warum wir diese hybriden Wesen nicht irgendwo zwischen Lebewesen und Objekten einordnen sollten, ähnlich wie Haustiere, die für uns etwas zwischen Menschen und Tieren darstellen. Genau das versteht man unter Posthumanismus. Darum geht es, wenn wir mit Maschinen zusammenleben. Wir interagieren mehr und mehr mit hybriden Wesen.

Die Welt ist von der Sexualität tief durchdrungen, Stichwort: Pornofication. Und gleichzeitig haben die Menschen weniger Sex als früher. Am ausgeprägtesten ist das in Japan, wo 40 % der Menschen zwischen 20 und 30 Jahren angeben, sie hätten noch nie Sex mit einer realen Person gehabt, aber mit Sexrobotern. Und sie konsumieren Mangas und Pornos. Gibt es auch daran nichts Bedauernswertes?

Ich denke, Wissenschaftler sollten es vermeiden, die Probanden ihrer Studien zu bewerten, zumindest wenn sie verstehen wollen, warum diese tun, was sie tun, und welche Gründe sie dafür verantwortlich machen.
Als Wissenschaftlerin ziehe ich es z.B. vor, zu ergründen, warum eine Person Trump wählt, anstatt sie deswegen zu verurteilen. Wenn wir etwas in der Wissenschaft erreichen und in der Gesellschaft bewirken wollen, müssen wir zuerst einmal verstehen, was Menschen tun. Das heißt nicht, dass ich – wenn ich hoffentlich besser verstehe, wie es um die Werte und Praktiken in der Gesellschaft bestellt ist – mir nicht auch ein Urteil erlaube.
Was z.B. die Pornifizierung der Gesellschaft betrifft, wird unter Feministinnen intensiv diskutiert, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist. Viele Sex befürwortende Feministinnen finden, dass Kolleginnen, welche die Sexualisierung des weiblichen Körpers unterbinden möchten, eine Form von Puritanismus vertreten.
Diesbezüglich beziehe ich Stellung. Und zwar unabhängig davon, ob ich finde, viel Sex sei gut oder schlecht. Diese Frage stelle ich gar nicht, denn es ist nicht meine Aufgabe, sie zu beantworten. Aber ich stelle fest, dass die Sexualität von der kapitalistischen Industrie vereinnahmt worden ist und dass der weibliche Körper von der Medienindustrie massiv ausgebeutet wird. Die Kriterien für diese Ausbeutung stammen fast immer von Männern. Tragischerweise kann man Folgendes beobachten: Während die Frauen meinen, sie hätten sich selber befreit, unterwerfen sie sich dem männlichen Blick und der Kontrolle der Männer in der Medienindustrie.  

Das ist der eine Punkt. Der andere, auf den ich noch einmal zurückkommen möchte, ist: Warum genau haben Menschen weniger Sex? Es gibt viele Artikel und Studien, die aufzeigen, dass sich das Sexualverhalten auch von jungen Menschen an der Pornoindustrie ausrichtet.

Eine äußerst interessante Studie, die vom „Atlantic Magazine“ veröffentlicht wurde, fand tatsächlich heraus, dass die jüngeren Menschen etwas weniger Sex haben als die leicht älteren, die in den 1990er-Jahren geboren wurden.
Einen der Gründe, wenn nicht sogar den Hauptgrund, sehe ich in der Tatsache, dass es viel schwieriger ist, die Regeln für das Entstehen von Beziehungen zu erkennen. Am meisten wird Sex in stabilen Beziehungen praktiziert, obwohl Gelegenheitssex immer beliebter wird. Analysiert man die sexuellen Aktivitäten im gesamten Leben von Menschen, haben Männer und Frauen am meisten Sex in stabilen Partnerschaften. Wenn es aber immer schwieriger wird, stabile Beziehungen einzugehen, haben Menschen auch weniger Sex, weil Beziehungen für die meisten der gewohnte Rahmen dafür sind. Dadurch landen wir in einem interessanten Paradox.

In einer Kultur, die Körper und Begegnungen hypersexualisiert, wird weniger Sex praktiziert, denn diese Kultur erschwert es, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten, was verunsichernd wirkt. Diese Unsicherheit ist ein beherrschendes Element moderner Beziehungen geworden.

Sie sagen, die romantische Liebe hat es möglich gemacht, den Partner frei zu wählen und ihn auch als eine einzigartige Person zu wählen, währenddessen die Technologie das Umgekehrte mit uns anstellt: Jeder wird vergleich­ und austauschbar – und damit geht seine Einzigartigkeit verloren.

Nun, die traditionelle romantische Liebe gründet praktisch per Definition darauf, jemanden als einzigartige Person zu wählen. Wenn Sie nun in einer Gesellschaft leben, in der Sie mit relativ wenigen Menschen in Kontakt kommen, ist es relativ leicht, diese eine Person zu erkennen. Aber die Internettechnologie verändert die Begegnungsmöglichkeiten grundlegend. Denn aus einer Situation der Knappheit geraten wir nicht in einen Überfluss, sondern in einen Hyperüberfluss. Deshalb hat die Datingplattform Tinder die Regel eingeführt, dass man nach hundert Likes zwölf Stunden lang gesperrt wird. Man kann also nur hundert Likes pro Tag machen.
Stellen Sie sich das mal vor! Bewusst können wir so viele Informationen gar nicht aufnehmen. Unser Gehirn ist nicht gerüstet für eine so große Auswahl an möglichen Frauen und Männern, die ähnlich attraktiv und interessant sind, die viel herumgereist sind und sich uns vor den ägyptischen Pyramiden oder einer schönen Insel zeigen. Die vielen Objekte werden für uns ununterscheidbar.

Wie bewerten Sie Datingplattformen wie Tinder?

Die Leute machen gute und schlechte Erfahrungen mit Tinder – oder auch gar keine. Viele sagen auch, sie würden endlos swipen, chatten und sich mit jemandem verabreden, aber am Schluss dann doch niemanden wirklich treffen. Oder sie sagen, man müsse 200 Mal swipen, um zwei Dates zu haben. Für einige funktioniert es, für andere nicht. Es ist daher sehr schwer zu sagen, ob es wirklich etwas bringt.
Wenn wir Tinder und ähnliche Apps nach den Resultaten bewerten, wissen wir nicht, wie sie funktionieren und warum sie so abhängig machen. Was sie aber sicher vermitteln, ist Hoffnung. Ich würde also sagen, die Ware, die sie verkaufen, ist Hoffnung. Auch wenn Sie zwei Jahre lang keinen Erfolg hatten, bringt die Hoffnung Sie dazu, weiterzumachen. Darüber hinaus wird Dating zum Spiel umfunktioniert. So warben die Konzeptverantwortlichen ursprünglich für Tinder als Spielplattform und als soziales Netzwerk. Sie verwandelten also das Daten in etwas viel Diffuseres und Amorphes, in eine Plattform, auf der man andere Menschen trifft, eine Art soziales Netzwerk bildet und spielt.
Dadurch verändert sich der Zugang zur romantischen Liebe vollständig. Die Plattform ermöglicht es den Menschen, ihre Freiheit zu erkunden. Aber oft ist es eine Freiheit, die dich mit leeren Händen dastehen lässt.  

Wenn Sie sagen, die Währung ist Hoffnung, worauf hoffen dann die Menschen?

Sie hoffen, der Liebe ihres Lebens zu begegnen, dieser einen Person, die anders ist in diesem Meer von Möglichkeiten.

Einerseits haben sich also unsere Lebensverhältnisse so verändert, dass es mehrheitlich negative Beziehungen gibt, Beziehungen, die gar nicht richtig anfangen. Diese Beziehungen beruhen auf einem großen Hedonismus. Es geht darum, das zu bekommen, was man sich erhofft, und weniger darum, sich auf das Gegenüber einzulassen. Und trotzdem hoffen wir auf die große Liebe?

In unserer Kultur gibt es verschiedene Tendenzen. Moderne Kulturen sind höchst widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit definiert, was es heißt, ein moderner Mensch zu sein. Wir erstreben Stabilität und Sicherheit, gleichzeitig wollen wir Abwechslung, Freiheit und Autonomie. Diese beiden Gegensätze treiben uns und auch die Wirtschaft an. Es ist das Bestreben, diese Widersprüche zu vereinen.
Die Utopie der romantischen Liebe ist also nicht aus der modernen Kultur verschwunden. Im Gegenteil. Noch nie war unsere Gesellschaft so besessen davon. Denn das Paar ersetzt Gemeinschaft und Familie. Wenn heutzutage Menschen erwachsen werden, setzt man sie einer sehr kompetitiven und unsicheren Gesellschaft mit einer höchst unsicheren Zukunft aus. Zudem ist es für Einzelpersonen schwieriger geworden, wirtschaftlich über die Runden zu kommen.
Es gibt also sehr viele gute psychologische, emotionale und wirtschaftliche Gründe, aus der Paarbeziehung die Einheit zu machen, in der Menschen leben wollen – vor allem, um eine stabile emotionale Basis für Anerkennung und Wertschätzung zu haben. Doch gleichzeitig gibt es viele Kräfte, die dieses Ideal der großen, wahren Liebe untergraben. Deshalb suchen wir Psychologen auf und konsumieren Ratgeber oder Pornografie. All diese Spannungen und Widersprüche führen zu einem enormen Konsum.

Das moderne Individuum ist speziell von dieser Zerrissenheit geprägt. War das Individuum davor ähnlich zerrissen?

Wahrscheinlich war es weniger zerrissen. Der deutsche Soziologe Max Weber definiert die Moderne folgendermaßen: Alle Bereiche des Soziallebens – die Wirtschaft, das Rechtssystem, die Familie, die Religion – sind immer mehr voneinander getrennt, während sie zuvor der Religion untergeordnet wurden. Denn die Religion organisierte früher viele Lebensbereiche. Sind diese Lebensbereiche einmal voneinander getrennt, ist die Gefahr, dass sie miteinander in Konflikt geraten, viel größer. Das ist das eine. Zudem basiert auch der Kapitalismus selber auf einem gewaltigen Widerspruch. Einerseits haben wir hochproduktive und disziplinierte Individuen, die fähig sind, den eigenen Körper zu vergessen und zwölf Stunden zu arbeiten, um immer mehr Geld zu verdienen. Sie sind also hochrational, produktiv und diszipliniert. Andererseits müssen dieselben Individuen auch konsumieren und sind mit ihren Vergnügungen, mit dem Bedürfnis nach Erholung und Authentizität und mit ihren Gefühlen beschäftigt. Dieses Hin-und-hergerissen-Sein zwischen Kontrolle und Sich-gehen-Lassen ist das schwierige Los des modernen Individuums. Und dieser Widerspruch wird vom Kapitalismus gefördert.

Ich frage mich, wenn ich Ihnen zuhöre, ob es in diesen ganzen Entwicklungen nichts gibt, bei dem Sie sagen würden: Da läuft etwas eindeutig schief!

Ich denke, falsch ist, dass es zwei Forderungen gibt: einerseits zu produzieren und andererseits sich zu reproduzieren, also sich fortzupflanzen. Die Gesellschaft muss sich fortpflanzen – per Definition. Traditionell haben das vor allem die Frauen übernommen. Sie sind der Aufforderung, sich fortpflanzen zu müssen, gefolgt.

Der Kapitalismus untergräbt die Fortpflanzung. Das müssen wir verstehen, und es ist auch vielen Menschen bewusst. Wir haben einen Konflikt zwischen Produktion und Reproduktion.

Denn immer mehr Menschen leben allein und wollen allein leben. Immer weniger Menschen möchten Kinder haben. All dies führt zu einer Fortpflanzungskrise. Für diese Krise sind nicht Frauenbewegungen, der Feminismus oder die Freiheit verantwortlich, sondern die Lebensbedingungen im späten Kapitalismus.

Aber die Weltbevölkerung nimmt doch weiter zu.

Die Weltbevölkerung wächst, aber nicht in den am meisten kapitalisierten westlichen Ländern. Im Gegenteil. In Japan ist die Reproduktionsrate gesunken, auch in Italien, in Deutschland und in den skandinavischen Ländern. Wir erleben also eine Reproduktionskrise.

Ich würde gern noch über ein relativ neues Phänomen sprechen, nämlich dass auch Männer unter dieser neuen Liebesordnung leiden. Es gibt Männer, die organisieren sich im Internet als sogenannte Incels [„involuntary celibate“ – unfreiwilliges Zölibat, Anm. d. Red.]. Das ist eine Gruppe von Männern – auf die Michel Houellebecq vielleicht als Erster aufmerksam gemacht hat –, die in einer übersexualisierten Welt das Gefühl haben, zu kurz zu kommen, die keine Partnerin finden und sich vehement aggressiv sexistisch im Netz organisieren und fordern, dass die Frauen zur Monogamie gezwungen werden, damit jeder Mann eine Frau abbekommt. Sind auch diese Männer ein Stück weit Opfer des Kapitalismus?

Zuerst einmal sind solche Auswüchse eine Auswirkung der veränderten patriarchalen Strukturen. Wir haben heute verschiedene, wenn Sie so wollen, Herrschaftssysteme, die miteinander konkurrieren. Das Patriarchat wird von den Frauen bekämpft. Und während die meisten Männer früher leicht Zugang zum weiblichen Körper hatten, ist es heute viel schwieriger. Unfreiwillig enthaltsame Männer reagieren so auf die geringfügige Veränderung der männlichen Privilegien und die erschwerten Zugangsmöglichkeiten zum weiblichen Körper. Der Kapitalismus ist zudem dafür verantwortlich, dass sich heterosexuelle Frauen und Männer wie auf einem Markt begegnen. Er hat heterosexuelle Beziehungen kommerzialisiert.
Märkte werden durch Angebot und Nachfrage reguliert, nicht durch Familien oder Gemeinschaften, welche versuchen, Paare zu bilden. Im sexuellen Neoliberalismus trägt der Markt dazu bei, dass gewisse Menschen weniger erfolgreich oder gefragt sind. Da sie außen vor bleiben, reagieren sie auf diese Kommerzialisierung der sexuellen Beziehungen und den Verlust männlicher Privilegien.

Wenn wir vielleicht zuletzt zur romantischen Liebe zurückkehren. Warum lohnt sich die Suche nach dem einen Partner oder zumindest nach einer stabilen Beziehung, wenn die Liebe wehtut, wenn die Liebe endet?

Zuerst einmal sagte ich nie, dass es sich lohnt. Ich denke, es lohnt sich, bedeutungsvolle Beziehungen einzugehen. Damit meine ich nicht unbedingt romantische oder sexuelle Beziehungen. Wenn ich etwas mit meinen Studien erreichen will, dann eine Erweiterung unserer Sichtweise und dass wir unser Konzept einer bedeutungsvollen Beziehung erweitern können. Sie kann von einer Freundschaft inspiriert sein, von der Sorge um unsere Mitmenschen oder der Liebe für Kinder. In gewisser Hinsicht gefällt mir die religiöse Sicht der Liebe, die christliche Liebe zu Menschen.

… die Nächstenliebe …

Nicht die Liebe zu einem abstrakten Gegenüber wie im Christentum, sondern die Liebe zu einer konkreten Person, die nicht unbedingt ein Sexual- oder Liebespartner sein muss. Ich wünsche mir, dass wir unser Vorstellungsvermögen ausweiten und in unserem Leben viel mehr Möglichkeiten sehen, um bedeutsame Bande zu knüpfen, anstatt nur die romantische Liebe zu finden.

Die Idee der romantischen Liebe ist ein sehr enger Weg für die menschliche Entwicklung, für die Entwicklung von Brüderschaft oder Schwesternschaft.

Ist das der Grund, warum Sie das Buch Ihren Familienmitgliedern widmen?

Die Familie ist heute die einzige nicht kapitalistische Einrichtung, da man sie sich nicht aussucht. Deshalb ist die Familie für mich so interessant geworden. Denn in einer Welt, in der Sie in jeglicher Hinsicht bestimmen, wer Sie sind, auch was Ihren Körper, Ihre Sexualität, Ihren Haarschnitt, Ihre Essensvorlieben usw. betrifft, ist die Familie das Einzige, das Sie nicht wählen. Sie ist daher ein Ort, wo man unglaublich viel lernt und wachsen kann. Denn in der Familie muss man schlichtweg mit dem leben, was einem gegeben worden ist.
Das finde ich interessant. Deshalb nenne ich die Familie einen unmodernen Ort. Sie ist – wenn Sie so wollen – das einzige Überbleibsel der traditionellen Gesellschaft in unserer modernen Gesellschaft.

Anmerkung:

* Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Livegespräch, das die Journalistin Barbara Bleisch mit Eva Illouz in der Fernsehsendung Sternstunde Philosophie am 17. März 2019 in Berlin geführt hat (anzusehen im YouTube-Kanal von SRF Kultur).

Dr. Eva Illouz ist Soziologin und lehrt als Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie der École des hautes études en sciences sociales in Paris.

Barbara Bleisch ist Philosophin und moderiert die „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Außerdem ist sie feste Kolumnistin beim „Tages-Anzeiger“ und Dozentin für Ethik in verschiedenen universitären Weiterbildungsstudiengängen.