Tief verbunden

Parasoziale Interaktionen in immersiven Medien

Daniel Pietschmann

Dr. Daniel Pietschmann forscht und lehrt als Institutskoordinator am Institut für Medienforschung an der Technischen Universität Chemnitz. Sein Forschungsfokus liegt auf Medienwirkungen interaktiver Medien.

Parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Medienfiguren sind bereits seit 60 Jahren Thema in der Forschung. Derzeit erhält es vor allem bei sozialen und interaktiven Medien eine große Aufmerksamkeit. Doch mit 360-Grad-Storytelling und den ersten Blicken auf das Metaverse stellt sich die Frage, wie parasoziale Beziehungen in den neuen immersiven Medien der Zukunft aussehen werden.

Online seit 01.08.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/tief-verbunden-beitrag-772/

 

 

Herzlichen Glückwunsch, Gute Zeiten, schlechte Zeiten (GZSZ)! Die deutsche Daily Soap wurde erstmals im Mai 1992 im Fernsehen ausgestrahlt und feierte damit kürzlich ihren 30. Geburtstag. Die Serie begleitet auch heute noch die Protagonisten bei den Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens und zeichnet unterschiedliche Lebens- und Liebesformen vor. Der Reiz serieller Narration und die Unterhaltung der Zuschauer gehen in den meisten Fällen darauf zurück, mit den lieb gewonnenen Medienfiguren mitzufiebern. Das funktioniert umso besser, wenn Zuschauer die Figuren gut kennen und das Gefühl haben, mit ihnen schon viel erlebt zu haben.

In der Wissenschaft wird diese einseitige soziale Illusion von Vertrautheit mit Medienfiguren unter dem Begriff der parasozialen Interaktion (PSI) bzw. Beziehung (PSB) gefasst. Rezipienten fühlen sich persönlich angesprochen und interagieren mit den Medienfiguren auf emotionaler und kognitiver Ebene.

Durch wiederholte mediale „Begegnungen“ wie bei Daily Soaps können sich parasoziale Beziehungen entwickeln, die zu einem gewissen Grad realen Freundschaften oder romantischen Beziehungen ähneln.

Immersive Technologien ermöglichen es, Medienfiguren noch intensiver zu erleben. Durch Avatare können Rezipienten selbst in die Medienwelten eintauchen, durch künstliche Intelligenz (KI) verhalten sich Medienfiguren immer menschenähnlicher. Die technische Entwicklung ist dabei rasant und die Kosten für immersive Technologien sinken, sodass gängige VR-Brillen für Konsumenten bereits weniger als ein neuer Fernseher kosten. Wie werden parasoziale Interaktionen auf Basis dieser Technik in Zukunft aussehen?
 

Parasoziale Interaktionen und parasoziale Beziehungen in modernen Medien

Die Betrachtung von PSI geht auf das lineare Fernsehen zurück: Starke audiovisuelle Reize durch das Medium, Darstellung von sozialen Alltagssituationen, direkte Ansprache durch Moderatoren oder auch Rezeptionssituationen in der Freizeit unterstützen die Bildung einer Beziehung zu Medienfiguren. Mit Streamingdiensten sind passende Medieninhalte im nicht linearen Fernsehen jederzeit verfügbar. Das Binge-Watching ganzer Serienstaffeln etwa begünstigt die Entstehung parasozialer Beziehungen immens.

Abseits der traditionellen Massenmedien stehen heute primär soziale Medien im Fokus der PSI-Forschung.

Auf Onlineplattformen wie TikTok, Instagram, YouTube oder Twitch erreichen reale, fiktive und virtuelle Persönlichkeiten ein großes Publikum. Diese Influencer erscheinen deutlich authentischer und unmittelbarer als traditionelle Fernsehfiguren. Sie teilen persönliche Informationen, adressieren ihr Publikum oft sehr direkt und lassen es an ihrem (vermeintlichen) Alltag teilhaben. Damit wird ein starker Ersatz für soziale Interaktion geschaffen, der intensive parasoziale Reaktionen hervorrufen kann. In der Wissenschaft wird zwar diskutiert, ob Interaktionen in den sozialen Medien aufgrund der Möglichkeit des Rückkanals (Influencer können direkten Kontakt mit Rezipienten aufnehmen) überhaupt noch parasozial sind. Jedoch ist die Kommunikation in den meisten Fällen tatsächlich eher einseitig, sodass man hier durchaus von regulären PSI/PSB sprechen kann.

Neue Entwicklungen hin zum Virtuellen verwischen das bisherige Verständnis von PSI, da das Phänomen selbst bei künstlichen Figuren (z. B. Cartoons, Anime-Figuren oder computergenerierten Figuren) und über verschiedene Medientypen hinweg auftritt (z. B. Film/Fernsehen, Radio/Musik, Printmedien, Videospiele).

Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit zu den Rezipienten begünstigt den Effekt. Das kann sowohl durch eine visuelle Ähnlichkeit oder eine Ähnlichkeit des wahrgenommenen Verhaltens erreicht werden (Anthropomorphisierung). Hier kommen moderne künstliche Intelligenzen ins Spiel, die sich menschenähnlich verhalten und z. B. als virtuelle Influencer, Service Agents oder körperlose Chatbots auftreten.
 

Immersive Medien

Unter immersiven Medien versteht man Medienangebote, in denen Rezipienten mithilfe von technischen Hilfsmitteln sprichwörtlich in eine virtuelle Erfahrung eintauchen können. Die mediale Vermittlung dieser Erfahrungen tritt in den Hintergrund. Unterschiedliche Ausprägungen immersiver Medien liegen als Mischformen zwischen realer und virtueller Umgebung (Reality, Augmented Reality, Augmented Virtuality und schließlich Virtual Reality), die zusammengefasst als Mixed Reality (MR bzw. XR) bezeichnet werden.

Ziel dabei ist es, möglichst den kompletten Wahrnehmungsapparat der Rezipienten anzusprechen, um das Gefühl zu vermitteln, man sei tatsächlich Teil der virtuellen Umgebung bzw. die virtuellen Objekte seien Teil der realen Umgebung.

Der Eindruck, sich tatsächlich innerhalb dieser virtuellen Umgebung zu befinden, wird als Präsenzempfinden bezeichnet. Dabei ist es unerheblich, ob man in der virtuellen Umgebung auch eine Verkörperung durch einen Avatar erhält. Präsenz etabliert sich automatisch in der realen Welt, da man den eigenen Körper in Relation zur Umgebung wahrnimmt und durch multisensorische Hinweisreize (etwa perspektivische Informationen) einen dreidimensionalen Eindruck des umgebenden Raumes gewinnt. Solange die wahrgenommenen Informationen sich nicht widersprechen und dem folgen, was wir von Räumlichkeit erwarten, funktioniert das auch für virtuelle Umgebungen. So reicht bereits ein Computerbildschirm mit räumlichen Informationen aus, um Raumstrukturen zu erkennen und eine virtuelle Welt wahrzunehmen.

Wenn sich die Aufmerksamkeit nun ganz auf die virtuelle Umgebung konzentriert und die physische Umgebung herum nicht mehr bewusst wahrgenommen wird, dann ist man im virtuellen Raum präsent.

Diese Empfindung bedeutet im Prinzip, dass unser Gehirn die virtuellen Reize genauso wie die realen Reize verarbeitet. Da die Künstlichkeit der Reize keinen Unterschied macht, verhalten wir uns unbewusst prinzipiell genauso wie in der realen Welt. Das gilt für die Wahrnehmung und auch für soziale Konventionen, z. B. im Umgang mit anderen Menschen.

Immersive Technologien können das Präsenzerleben begünstigen. Durch eine VR-Brille erhält man bessere Eindrücke der virtuellen Umgebung und ablenkende Reize aus der Realität werden ausgeblendet. Rezipienten erleben soziale oder parasoziale Interaktionen unvermittelter und damit realitätsnäher. Immersive Medien können entsprechend sehr starke PSI auslösen, wenn die Erfahrung störungsfrei abläuft.

Die Idealvorstellung unvermittelter VR-Technik wird im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs oft romantisiert und mit Science-Fiction-Darstellungen von virtuellen Realitäten wie dem Holodeck von Star Trek: The Next Generation verglichen. Tatsächlich ist die aktuelle immersive Technik noch lange nicht so fehlerfrei. Eine allgemeine technische Lösung, mit der alle vorstellbaren immersiven Medienerfahrungen umgesetzt werden können, existiert nicht. Meist ist eine spezifische Installation für eine spezifische Medienerfahrung erforderlich, um alle gewünschten Parameter (z. B. Haptik, Akustik, Interaktionstiefe) genau darauf abzustimmen. So erfordert ein virtuelles Lauftraining entweder einen sehr großen Raum oder ein Laufband, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Ein virtuelles Sportgerätetraining benötigt haptisch korrekt anmutende Trainingsgeräte. Ein virtuelles Geschäftstreffen ist vielleicht bereits gut durch eine VR-Brille mit Mikrofon und Kopfhörern umzusetzen. In diesem Sinne sollten immersive Medien nicht als „magische Technologie“ verstanden werden, da sich hier zunächst Medienkonventionen zur Minimierung von technischen Problemen und zur Maximierung von Präsenzeffekten etablieren müssen.
 

Immersive Interaktionsformen mit Medienfiguren

Immersive Videos sind in der Regel Aufnahmen mit Spezialkameras, die eine komplette Szene in 360 Grad erfassen. Das erlaubt Rezipienten mit VR-Brillen, sich frei am Aufnahmepunkt umzuschauen. Die Szene ist nicht interaktiv, da Nutzer sich nicht bewegen können. Dafür können jedoch reale Umgebungen und Personen gefilmt werden. Rezipienten befinden sich mitten in der Szene. Die freie Perspektive resultiert aus einer höheren Form der Selbstwirksamkeit, das Gezeigte wird durch das Präsenzerleben intensiver erlebt. Das machen sich etwa persuasive Dokumentationen zunutze, um mithilfe von emotionaler Gestaltung Themen wie Klimaschutz (z. B. This is Climate Change, 2018), Flüchtlingskrisen (z. B. Clouds Over Sidra, 2015) oder Krieg (z. B. The Fight for Falluja, 2016) erlebbar zu machen.

Klassische Regeln für Storytelling müssen dafür erweitert werden, da Konventionen für Stilmittel und die Aufmerksamkeitsökonomie neu gedacht werden müssen. Passieren zu viele Dinge gleichzeitig, verpassen Rezipienten möglicherweise Inhalte, die hinter ihnen ablaufen.

Medienfiguren können in immersiven Videos sehr starke parasoziale Interaktionen auslösen. Eine tatsächliche Interaktion ist aber wie beim klassischen Fernsehen nicht möglich.

In Mixed-Reality-Umgebungen kommen keine Videos, sondern computergenerierte Bilder zum Einsatz. Sie werden auf die Perspektive jedes Nutzers in Echtzeit abgestimmt und sind damit interaktiv. Rezipienten können sich in der Regel nicht nur umschauen, sondern sich auch durch die Szene bewegen und mit Objekten oder Medienfiguren interagieren. Die Verkörperung (Embodiment) der Rezipienten innerhalb der Umgebung kann unterschiedlich sein. So werden in VR-Umgebungen mehr oder weniger komplexe Avatare eingesetzt, die durch die Rezipienten gesteuert werden. Diese reichen von simplen Darstellungen durch geometrische Formen über Cartoon-Figuren bis hin zu fotorealistischen Abbildungen der realen Nutzer – je nach Anwendungszweck. Reicht es etwa in einer virtuellen Umgebung ohne andere Mitnutzer aus, nur die Hände der Rezipienten aus der Egoperspektive anzuzeigen, bildet ein Vollkörper-Avatar in Mehrbenutzer-Umgebungen die von anderen wahrgenommene Identität des Rezipienten ab.

Mit unterschiedlichen Effekten der Avatar-Nutzung beschäftigt sich die Wissenschaft schon seit geraumer Zeit. Die komplexe Beziehung von Nutzern zu ihren Avataren kann dabei durchaus auch parasoziale Züge annehmen. Am Beispiel von avatarbasierten Onlinespielen konnte gezeigt werden, dass die Beziehung Identifikationsprozesse, emotionales Investment, Autonomievorstellungen und spielbezogene Eigenschaften vereint. Während der Avatar von einigen Spielern nur als aufgabenrelevantes Werkzeug verstanden wird, sehen andere in ihm eine reine Repräsentation ihrer selbst. Wieder andere verwenden ihren Avatar in einer Art symbiotischen Beziehung, um Identitätsrollen auszuleben, oder sie verstehen den Avatar als eigenes soziales Wesen, an dessen Erlebnissen sie teilhaben. Diese Sichtweise lässt sich klar als PSB verstehen und kann leicht auf Avatare in immersiven Medien übertragen werden.
 

360° VR Video The Fight for Falluja (The New York Times, 11.08.2016)



Parasoziale Interaktionen in immersiven Umgebungen

Für parasoziale Interaktionen mit Medienfiguren spielt zunächst eine Rolle, ob andere dargestellte Figuren überhaupt als soziale Wesen wahrgenommen werden. Da in Mixed-Reality-Umgebungen sowohl Avatare – von anderen Nutzern gesteuerte Figuren – als auch Agenten – von künstlicher Intelligenz gesteuerte Figuren – verwendet werden, ist die Wahrnehmung als soziales Wesen für das Verhalten essenziell.

Das Konzept der sozialen Präsenz wird in medienvermittelter Kommunikation verwendet, um die Wahrnehmung zu beschreiben, eine gemeinsame soziale Situation zu erleben. Nehmen wir Medienfiguren nur als Objekte wahr, verhalten wir uns ihnen gegenüber auch nicht sozial. Das passiert etwa, wenn eine Interaktion mit Medienfiguren nicht so funktioniert wie erwartet.

Wenn ein Rezipient beispielsweise eine Medienfigur anspricht, diese aber nicht oder nur mit durchschaubaren Standardantworten reagiert, dann wird sie nicht als (gleichwertiges) soziales Wesen wahrgenommen und entsprechend eher als Objekt behandelt.

Reagiert sie, wie man es von einem anderen Menschen erwarten würde, dann wird sie auch dann als soziales Wesen behandelt, wenn sie nur grobe visuelle Ähnlichkeiten aufweist. Die Erwartungen an die soziale Interaktion unterscheiden sich dabei je nach spezifischem Kontext der Mixed-Reality-Anwendung. Reicht bei der eingeschränkten Interaktivität von immersiven Videos die rein visuelle Darstellung von gefilmten Personen aus, werden an interaktive VR-Anwendungen höhere Ansprüche gestellt.

Der Blick auf parasoziale Interaktionen in Mixed-Reality-Umgebungen zeigt die Grenzen des Konzepts. Einerseits findet eine direkte Interaktion mit anderen Avataren oder Agenten statt, sodass die dem Konzept zugrunde liegende Einseitigkeit der Kommunikation eigentlich nicht mehr besteht. Aus parasozialen werden tatsächliche soziale Interaktionen. Andererseits zählt für die Bildung von PSI/PSB vor allem die individuelle Wahrnehmung der Medienfiguren. Durch die vielfältigen Rollen, die sowohl der eigene Avatar, durch andere Menschen gesteuerte Avatare als auch computergesteuerte Agenten annehmen können, werden Verhaltensweisen interpretiert und Eigenschaften auf die Medienfiguren projiziert. Diese können von unterschiedlichen Nutzern ganz verschieden ausgelegt, aber im weiteren Sinne ebenfalls als einseitig und damit als parasozial verstanden werden.

Das gilt insbesondere für künstliche Intelligenzen. Soziale Interaktionen mit KI werden heute noch nicht als gleichberechtigt, sondern als einseitig empfunden. In der Forschung zu Conversational Agents (z. B. Google Assistant) wurden parasoziale Beziehungen bereits bei Kindern beobachtet. Auch wenn diese Agenten heute nur durch ihre Stimme verkörpert werden, können in Zukunft virtuelle Körper in immersiven Medien hinzukommen und diesen Effekt verstärken.

Letztlich bleibt festzuhalten, dass PSI/PSB mit interaktiven und immersiven Medien sowie künstlichen Intelligenzen vielschichtiger und komplizierter werden. Nach wie vor sind sie ein zentraler Mechanismus, um Unterhaltung mit Medienfiguren zu verstehen. Sollte GZSZ in Zukunft als immersives Videoformat umgesetzt werden, lässt sich über die neue Qualität der PSB nur spekulieren.
 

Weiterführende Literatur:

Grundlegend:

Liebers, N./Schramm, H.: 60 Jahre Forschung zu parasozialen Interaktionen und Beziehungen. Steckbriefe von 250 Studien. Baden-Baden 2017. Abrufbar unter: https://doi.org/10.5771/9783845276519

Murray, J. H.: Virtual/reality: how to tell the difference. In: Journal of Visual Culture, 1/2020/19, S. 11 – 27. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1177/1470412920906253

Scarborough, J. K./Bailenson, J. N.: Avatar Psychology. In: M. Grimshaw (Hrsg.): The Oxford Handbook of Virtuality. New York 2014, S. 129 – 144

 

Spezifisch:

Bowman, N. D./Banks, J.: Player-Avatar Identification, Relationships, and Interaction: Entertainment Through Asocial, Parasocial, and Fully Social Processes. In: P. Vorderer/C. Klimmt (Hrsg.): The Oxford Handbook of Entertainment Theory. New York 2021, S. 691 – 716

Cummings, J. J./Tsay-Vogel, M./Cahill, T. J./Zhang, L.: Effects of immersive storytelling on affective, cognitive, and associative empathy: The mediating role of presence. In: New Media & Society, 2/2021. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1177/1461444820986816

Hoffman, A./Owen, D./Calvert, S. L.: Parent reports of children’s parasocial relationships with conversational agents: Trusted voices in children’s lives. In: Human Behavior and Emerging Technologies, 3/2021/4, S. 606 – 617. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1002/hbe2.271

Stein, J.-P./Breves, P. L./Anders, N.:Parasocial interactions with real and virtual influencers: The role of perceived similarity and human-likeness. In: New Media & Society, Juni 2022, S. 1–21. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1177/14614448221102900