„Träumend im Gras …“

Rausch und Verantwortung

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), über die Balance zwischen Rausch und Eigenverantwortung.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 1-1

Vollständiger Beitrag als:

Rausch ist zwiespältig. Man denkt an Enthemmung, Euphorie oder Ekstase, an gesteigerte Kreativität, Spiritualität oder Erkenntnisgewinn – aber auch an mögliche negative Folgen, an Kontrollverlust und Katerstimmung, Krankheit oder Sucht. Dem Rausch ist das Risiko immanent. Und weil sich Menschen seit jeher berauschen, gibt es in jeder Kultur auch Bräuche und Rituale, die Rauscherlebnisse zulassen, aber gleichzeitig einhegen. Rausch und Nüchternheit gehören in unserer Gesellschaft zusammen und werden am ehesten miteinander, im sogenannten „gesunden Mittelmaß“ akzeptiert.

Ein angemessenes Verhältnis zwischen rauschhaftem Erleben und Eigenverantwortung zu finden, stellt Kinder und Jugendliche vor besondere Herausforderungen. Mit zunehmendem Alter wachsen Experimentierfreude und Risikobereitschaft sowie der Wunsch nach intensiven Erlebnissen, nach Individualität und Grenzerfahrung – jenseits der Mittelmäßigkeit. In Medien finden Heranwachsende eine Vielzahl von Möglichkeiten, an diese Bedürfnisse anzuknüpfen und in die Welt des Rausches einzutauchen.

Im Fiktionalen wird die Dualität des Rausches oft mit dramatischer Fallhöhe inszeniert, indem auf sehr großes Glück der tiefe Abstieg folgt. Menschen berauschen sich an Gold oder mit Substanzen und verfallen materiellen Werten, dem Alkohol oder Opioiden. Andere berauschen sich an Höhe oder Tiefe, an Rivalität oder Leidenschaft, verfallen in Sinnes-, Rache- oder Blutrausch. Die Botschaft ist meist klar: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Trotzdem besitzen Szenen des Rausches oft eine starke suggestive Kraft. Wenn Christiane F. zu Heroes von David Bowie Hand in Hand mit ihrem Freund durch das nächtliche Europa Center läuft, vermittelt die Szene vor allem ein großes und erhabenes Gefühl – obwohl das drohende Unheil bereits spürbar ist. Hinzu treten eine Vielzahl indifferenter, verharmlosender oder glorifizierender Darstellungen von rauschhaftem Verhalten, von Ballermann-Reportagen über Musikvideos mit fröhlich Kiffenden oder Koksenden bis hin zur Ausstellung der eigenen Sinnesvernebelung in sozialen Medien. Und schließlich kann die Mediennutzung selbst zu einem rauschhaften Erlebnis mit Suchtpotenzial werden, wie exzessive Nutzungsmuster und mediale Erschöpfungszustände zeigen.

Für den Kinder- und Jugendmedienschutz ergeben sich damit neue Aufgaben. Neben der Altersbeschränkung von Inhalten sind konstruktive Lösungsansätze für die Prävention gefragt, die über einfache Verbote hinausgehen. Dazu gehören die Aufklärung über suchtfördernde Marketingstrategien oder Plattform-Algorithmen ebenso wie Überlegungen zur Funktion und Bedeutung von Rausch und Grenzerfahrung im Jugendalter. Wichtig ist auch die Selbstreflexion der Erwachsenen, weil Prävention nur greift, wenn sie auch glaubwürdig ist. Rausch ist irrational und risikoreich. Als Gegenentwurf zur Nüchternheit des Alltags in einer rationalen und leistungsorientierten Welt ist Rausch aber auch attraktiv und faszinierend. Conny Kramer, der Protagonist aus Juliane Werdings Schlager von 1972, liegt „träumend im Gras“ und sieht „ein Meer von Licht und Farben“ – bevor er an einer Überdosis stirbt. Die richtige Balance zwischen Rausch und Eigenverantwortung zu finden, ist eine Herausforderung, die die Gesellschaft immer schon umtrieb und der sie sich auch heute einmal mehr stellen muss.

Ihre
Claudia Mikat