True.Crime.Story

Ein medienpädagogisches Projekt zur Bewertung von AV-Inhalten durch Jugendliche

Achim Lauber, Lena Schmidt, Carla Zech

Das medienpädagogische Projekt „True.Crime.Story“ ist als Begleitforschung zum professionellen Handeln von Jugendschützer*innen angelegt und zielt darauf, die Selbsteinschätzung Jugendlicher im Alter von 12 bis 15 Jahren und ihren Blick auf das Gefährdungspotenzial von AV-Inhalten, die unter dem Label „True Crime“ gefasst werden, in den Fachdiskurs zum Kinder- und Jugendmedienschutz einzubringen. „True.Crime.Story“ wurde von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) beauftragt und vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis umgesetzt.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 74-77

Vollständiger Beitrag als:

Schutzorientierte Maßnahmen im Kinder- und Jugendmedienschutz sind zielführend, wenn sie möglichst optimal an die Medienaneignung von Kindern und Jugendlichen und an ihre Bewältigungsstrategien angepasst sind. Die in der UN-Kinderrechtskonvention geforderte systematische und strukturelle Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der gesetzgeberischen Konkretisierung des Schutzauftrags kann auch als Impuls für die Einrichtungen des Kinder- und Jugendmedienschutzes verstanden werden, die Perspektiven der Zielgruppen stärker in die Bewertung von Medieninhalten und die Vergabe von Altersfreigaben einzubeziehen. Sofern die unmittelbare Mitwirkung von Minderjährigen in Prüfgremien rechtlich und ethisch nicht vertretbar ist, können ihre Sichtweisen in den Fachdiskurs mittelbar über Forschungsergebnisse eingebracht werden (vgl. Brüggen u. a. 2022, S. 6).
 

Forschungswerkstätten – Forschungsfragen und medienpraktische Methoden

Ziel des Projekts ist es, die Perspektiven von Jugendlichen in Bezug auf das Gefährdungspotenzial von True-Crime-Sendungen empirisch zu erfassen, medienpädagogisch einzuordnen und die Ergebnisse als Videos aufzubereiten. Die Erhebung der authentischen Aussagen Heranwachsender im Alter von 12 bis 15 Jahren erfolgte im Rahmen von vier ganztägigen Forschungswerkstätten in Berlin, an denen insgesamt 27 Jugendliche teilnahmen, davon neun Mädchen und 18 Jungen. Die Werkstätten wurden mit medienpraktischen Methoden umgesetzt, die den Teilnehmenden Spaß machen sollten und die gleichermaßen an den Forschungsinteressen orientiert waren und den Teilnehmenden Gelegenheit zum Austausch, zur Reflexion und zur Artikulation geben sollten. Es wurden teilstandardisierte Erhebungsverfahren sowie Gruppendiskussionen und kreative Methoden vorbereitet. Elemente wie ein offenes Brainstorming, strukturierte Gallery Walks oder die Bewertung von Sendungsausschnitten dienten der Sondierung, Meinungsbildung und eigenen Positionierung zum Gefährdungspotenzial von True-Crime-Formaten. Kreative Methoden wie die Gestaltung von Opfer-/Täterfiguren oder die Entwicklung eigener Filmplots mit Adobe Spark unterstützten die Motivation der Jugendlichen und gaben ihnen erweiterte Artikulationsmöglichkeiten. Zur Vertiefung thematischer Schwerpunkte wurden ergänzende Interviews mit einzelnen Jugendlichen geführt.

Die leitenden Fragen des Projekts gliedern sich in einen allgemeinen Teil, der die Perspektive Jugendlicher auf den Kinder- und Jugendmedienschutz erhebt, und einen spezifischen Teil, der sich auf aktuelle Krimi- und True-Crime-Formate bezieht. Zum Kinder- und Jugendmedienschutz sollte erarbeitet werden, welche Kenntnisse und Erwartungen Jugendliche haben, besonders in Bezug auf Schutzmaßnahmen, die ihre Altersgruppe betreffen. Die Forschungsfragen zu True-Crime-Formaten bezogen sich auf die Unterscheidung von Fiktion und Realität sowie auf die Bedeutung des Realitätsgehalts von True Crime für das Ängstigungspotenzial der Sendungen. Weitere Fragen bezogen sich auf die Täter- und Opferrollen und die Bewertung der Darstellungen und Zuschreibungen in Bezug auf Geschlecht und Gender in diesen Kontexten. Die von Jugendlichen formulierten Wirkungsannahmen wurden in Bezug auf ihre eigene sowie auf jüngere Altersgruppen reflektiert.

Die Aufbereitung der Ergebnisse aus den Forschungswerkstätten mit Jugendlichen erfolgte in Form von 3- bis 5-minütigen Videos. Im Zentrum der Videos stehen Zitate aus den Einzelinterviews mit den Jugendlichen. Diese Interviewpassagen wurden so ausgewählt, dass sie die Meinung der Teilnehmenden und der vorangegangenen Reflexionsprozesse exemplarisch repräsentieren. Weitere Ergebnisse der Forschungswerkstätten wurden in verdichteter Form vom Forschungsteam als Voiceover eingesprochen. Auswertung und Darstellung der Ergebnisse sind orientiert an Kategorien, die auch im Rahmen der Prüfpraxis von True-Crime-Formaten relevant sind: Format, Charaktere und Beziehungsstrukturen, Gewalt und Verängstigung sowie Kinder- und Jugendmedienschutz. Die folgenden Abschnitte geben einen kurzen Einblick in die Ergebnisse.
 

Faszination von True-Crime-Formaten
 

Da ist ein Teil von Entertainment drin – wie bei normalen Serien oder Filmen. Aber ich finde es auch spannend, die Geschichten zu hören, und mich reizt das auch, dass ich weiß: Das ist echt passiert.“

Eigentlich finde ich Mord immer sehr interessant und am liebsten mag ich es, wenn beide Sichten geschildert werden, also vom Opfer und vom Täter, sodass man sozusagen beiden in den Kopf gucken kann.“

Zum Schwerpunktthema „Format“ stand die Frage im Fokus, wie Jugendliche das Genre und im Speziellen audiovisuelle True-Crime-Sendungen wahrnehmen. Auch wenn True Crime nicht bei allen Beteiligten gleich beliebt war, sind die Formate den Jugendlichen präsent. Für die Nutzung sind Portale wie Netflix und Amazon Prime, aber auch YouTube zentral. Der Fernseher ist im familiären Rahmen bedeutsam, wird aber weniger genutzt und kaum aktiv eingeschaltet.

Ja, wenn echte Kameraaufnahmen benutzt werden oder echte Tatwaffen oder die Opfer und Blut usw. gezeigt wird, so was ist noch mal spannender und gruseliger für einen, weil man sich mehr darunter vorstellen kann. Wenn es irgendwelche Schauspieler nachgespielt haben, dann wäre es mehr wie ein Krimi. Aber True Crime ist echte Begebenheit und das ist das Tolle, Spannende und Gruselige daran.“

Teilweise begründen die Jugendlichen ihre Unterscheidungen zwischen Fakt oder Fiktion eher oberflächlich. Es werden Beispiele genannt, die vermuten lassen, dass ihnen nicht vollständig bewusst ist, dass ein realistischer Eindruck auch filmisch hergestellt werden kann. Entscheidend für die Qualität der Sendung, so meinen manche, sei das vermeintlich echte Videomaterial, wie z. B. Amateuraufnahmen, Aufzeichnungen von Überwachungskameras, Mitschnitte von Polizeiverhören und Gerichtsverhandlungen sowie Fotos vom Tatort und Beweismaterial. Grundsätzlich wurde vor allem eines deutlich: Der gefühlte Realitätsbezug der Geschichte ist sowohl für das Spannungs- als auch das Ängstigungspotenzial enorm wichtig.
 

Augenmerk auf Charakteren und Beziehungen
 

[... ] dass der vielleicht schon als Kind so Anzeichen hat, z. B. gar keine Freunde hat oder gemobbt wurde. Oder dass der Mensch sich ausgeschlossen fühlt und denkt, er muss jetzt irgendwas machen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aufmerksamkeitsmangel haben die vielleicht auch.“

In True-Crime-Sendungen steht bei den Jugendlichen der Täter bzw. die Täterin im Fokus ihres Interesses. Ihnen fällt auf, dass oft Männer in der Rolle des Täters gezeigt werden und Frauen in der Rolle des Opfers. Sie finden das realistisch und naheliegend und versuchen dabei, die Stereotype, die ihnen in den Formaten begegnen, logisch zu erklären. Damit reproduzieren sie geschlechterspezifische Stereotype, die in True-Crime-Sendungen verbreitet sind. Dass Männer eher in der Lage sind, zu töten, finden beispielsweise mehrere Teilnehmende naheliegend, da Männer überlegen in körperlicher Größe und Stärke seien.

Das, was ich so geschaut habe, da ging es um eine Frau und einen Mann, die sich getrennt haben. Das hat dem Mann nicht gefallen – und er hat sich an der ganzen Familie gerächt und sie als Einzige verschont, um sie leiden zu lassen.“

Die Thematisierung von Liebe und Hass war häufig Teil der Auseinandersetzung mit Beziehungsstrukturen innerhalb von True-Crime-Sendungen. Die Jugendlichen waren sich einig, dass Morde, die innerhalb von Liebes- oder Familienbeziehungen stattfinden, meistens schwerer für sie zu verarbeiten sind. Die Auseinandersetzung mit Gewalttaten innerhalb der Familie ist für einige Studienteilnehmende besonders belastend, weil es ihnen verdeutlicht, wie Gefühle sich umkehren und Menschen sich ändern können. Anderen Jugendlichen hilft es hingegen, sich von dem Gesehenen zu distanzieren, weil sie sich in der eigenen Familie besonders sicher fühlen.

Es ist so dieser Unterschied, wie auf einmal aus Liebe Hass wird, sodass man in der Lage ist, einen Menschen, den man geliebt hat, umzubringen – das interessiert mich wirklich sehr.“

Ich finde Beziehungsgeschichten besonders gruselig und spannend bei True Crime, weil dein Freund, deine Freundin, dein Familienmitglied mehr mit dir zu tun hat. Du würdest es nicht von deinem Partner erwarten, von deinem Freund erwarten – und das macht es so spannend und auch noch gruseliger. Stell dir vor, mein bester Freund bringt mich um! Das wäre viel schlimmer für mich, als würde das irgendein Unbekannter machen.“


Mit Gewalt und Verängstigung umgehen
 

Krimis verbindet man ja mit Mord – und bei Mord gehört eben Blut dazu. Das ist auch im echten Leben so. Es kann nicht sein, dass jemand angeschossen wird und nichts passiert und er stirbt einfach so.“

[...] oder ich mache den Ton aus, weil ich den Film gerne weitersehen möchte, aber die Stelle halt nicht. Und dann schau ich entweder ohne Ton – oder ich tu so, als würde ich Wasser holen. Das ist so mein Trick meistens, wenn andere dabei sind. Nicht, weil ich mich schäme, Angst zu haben, sondern weil ich rausgehe, und das hilft mir dann, das zu verarbeiten. Das mache ich jedes Mal – ich denke mir Strategien aus, wie ich aus der Situation rauskomme, und das hilft mir sehr.“

Die Darstellung von Gewalt gehört für Jugendliche zum Format und wird als spannend und realitätsnah empfunden. Die Jugendlichen hatten keine Schwierigkeiten, über das Thema „Angst“ im True-Crime-Kontext zu sprechen. Es wird allerdings deutlich, dass ihnen insbesondere Szenarien zusetzen, mit denen sie sich identifizieren können. In diesem Kontext wird oft Gewalt an Kindern genannt, was zeigt, dass sie sich unter bestimmten Umständen noch als Kinder wahrnehmen, die geschützt werden sollen. Geschlechtsspezifische Taten, insbesondere Gewalt gegen Frauen, machen weibliche Teilnehmende zum Thema.

Wenn es um Kinder geht, also wenn Kinder sterben, also getötet werden oder vergewaltigt werden und dann sterben, finde ich das sehr schlimm, weil ich dann nicht die Leute sehe, sondern meine eigene Familie. Und wenn da ein Kind liegt, das ertränkt wurde, dann sehe ich da meinen Bruder drin.“

Da ich selbst noch ein Kind bin und auch eine Frau, mache ich mir auch ständig Sorgen darüber. Was ist, wenn mir das passiert, was wird dann passieren, wie kann man entkommen? – Darüber macht man sich schon Gedanken, auch unbewusst.“

Thematisiert wird von den Jugendlichen im Kontext mit Angst vor allem psychische Gewalt. Sie ist subtil in der Darstellung und wirkt unberechenbar. Solche Gewaltakte, die nicht explizit dargestellt werden, gehen mit Spannungserleben einher und regen die Fantasie der Jugendlichen an, sich Schlimmes vorzustellen. Sie sind allerdings auch sehr aufmerksame Rezipient*innen und prüfen das Gesehene auf dessen Glaubwürdigkeit: Wenn eine Szene nicht plausibel ist, löst sie auch keine Angst aus.

Ich habe nicht so Angst vor Gewalt. Also schon, aber ich spiele auch Ballerspiele und so was. Ich habe mehr Angst vor psychischen Störungen, weil man eben nicht weiß, was passieren wird. Er könnte dich von hinten abstechen, du weißt nicht, was sein nächster Schritt ist.“

Jugendliche identifizieren sich besonders über ihr Alter und Geschlecht mit den Opfern. Doch auch Handlungsorte bieten Platz für Angsterzeugung. Besonders gruselig sind Settings, die den Jugendlichen aus dem Alltag vertraut sind. Hierzu zählen private Wohnungen, öffentliche Verkehrsmittel, Wälder und schulische Gebäude.

Es ist manchmal schon sehr unheimlich, weil man weiß, dass es in echt passiert ist – hier an diesem Ort, wo ich gerade stehe. Zum Beispiel in der U-Bahn-Station ist auch mal was passiert. Und da läuft man lang und dann denkt man gleich daran. Ist schon gruselig.“


Jugendmedienschutz ist wichtig
 

Diese Altersfreigabe ist ja nicht umsonst da. Also, natürlich ist es bei jedem anders, wie man es verträgt, aber wenn da jetzt ein Film ab 16 ist – mit 14 würde ich mich vielleicht schon trauen, den zu gucken, aber wenn da ‚18‘ steht, würde ich mich eher zurückhalten und den nicht gucken. Vielleicht was anderes gucken, was freundlicher ist.“

Jugendmedienschutz ist für Jugendliche ein wichtiges Thema bei True-Crime-Formaten. Die Jugendlichen glauben, dass unangemessene Inhalte Gefahren für empfindliche Kinder bergen. Dazu zählen Verängstigung, Misstrauen gegenüber Menschen, Albträume und Gewaltverherrlichung. Die Jugendlichen bewerten den Kinder- und Jugendmedienschutz insgesamt als notwendige und wichtige Einrichtung. Gerade in Bezug auf Kinder, die jünger als sie selbst sind, sind sie sehr sensibel. Viele haben jüngere Geschwister oder können sich noch sehr gut in die Zeit hineinversetzen, als sie selbst jünger waren.

Die Jugendlichen kennen vor allem solche Maßnahmen des Kinder- und Jugendmedienschutzes, die ihnen selbst in ihrem Medienalltag als sichtbare Elemente begegnen. Das sind z. B. die Altersfreigaben mit den bekannten Symbolen oder die Ankündigungen ungeeigneter Inhalte, die Jugendliche aus dem Fernsehen, aber auch von Streamern wie Amazon Prime kennen.

Na ja, also ich finde es gut, dass man das einteilt in ‚16‘ und ‚18‘ und so, aber z. T. passt das nicht so. Manchmal ist es zu übertrieben – und manchmal ist es halt zu wenig.“

Manchmal gucke ich mir Filme ab 12 oder 6 an, wo solche Inhalte vorkommen, wo ich so denke: Warum ist das jetzt ab 6 Jahre? Mit 14 Jahren triggert mich das, ich weiß nicht, was das da soll.“

Während im Blick der Jugendlichen auf jüngere Kinder der Schutzgedanke im Vordergrund steht, nehmen sie für sich selbst in Anspruch, selbstständiger entscheiden zu können, was gut für sie ist. Sie setzen sich mit Maßnahmen, die ihnen bekannt sind, auseinander und bewerten sie individuell, d. h. mit Bezug zum Medieninhalt und zur Selbsteinschätzung ihrer eigenen Resilienz. So finden sie häufig die Altersfreigaben von bestimmten Medieninhalten entweder zu streng oder zu locker. Mit dem Entwicklungsschritt, selbstständiger für sich selbst und den eigenen Medienumgang entscheiden zu wollen, geht auch der Wunsch nach mehr Teilhabe, Sichtbarkeit und Transparenz im Jugendmedienschutz einher. In den Forschungswerkstätten wünschten sich einige Jugendliche Triggerwarnungen, durch die man selbst einschätzen könne, ob man das, was in den Formaten gezeigt wird, schauen möchte. Solche Lösungen finden sie gut, weil sie die Eigenverantwortung Jugendlicher stärken.
 

Literatur:

Brüggen, N./Dreyer, S./Gebel, C./Lauber, A./Materna, G./Müller, R./ Schober, M./Stecher, S.: Gefährdungsatlas. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln. Bonn 20222 (Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz [Hrsg.])

Achim Lauber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis.

Lena Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis.

Carla Zech ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung des JFF– Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis.