Über die Erfindung von Wahrheit

Faketionales Erzählen aus literaturwissenschaftlicher Sicht

Thomas Strässle

Prof. Dr. Thomas Strässle ist Literaturwissenschaftler, lehrt an der Universität Zürich und leitet an der Hochschule der Künste Bern das spartenübergreifende Y Institut. Außerdem ist er Präsident der Max Frisch-Stiftung an der ETH Zürich und Mitglied der Kritikerrunde im „Literaturclub“ vom Schweizer Fernsehen SRF.

Fakten können in literarischen Texten einen sehr unterschiedlichen Status haben: Mal handelt es sich um Wirklichkeitsfetzen, die in einen literarischen Text hineinmontiert werden – wie die Annoncen, Artikel, Plakate, Prospekte, Reklamen, Statistiken und Wetterberichte, die Alfred Döblin in seinen Roman Berlin Alexanderplatz aufgenommen hat –, mal handelt es sich um historisch genau identifizierbare Orte, Personen oder Ereignisse, die ein literarischer Text als Referenzpunkte in der Wirklichkeit wählt – wie der Sturm auf die Danziger Polnische Post im September 1939 in der Blechtrommel von Günter Grass –, mal handelt es sich um ein Faktum, das einzig durch den Akt seiner erzählerischen Setzung zu einer literarischen Tatsache wird – wie etwa, dass Böhmen nach William Shakespeare und Ingeborg Bachmann am Meer liegt. Fakten sind immer gemacht, das verrät schon die etymologische Wurzel, ganz im Unterschied zu Daten, die bekanntlich „gegeben“ sind.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 4-9

Vollständiger Beitrag als:

Für den Umgang mit Fakten und Fiktionen in der Literatur ist die Erzähltheorie zuständig. Sie ist eine hoch spezialisierte Disziplin innerhalb der Literaturwissenschaft und verfügt über ein riesiges Reservoir an Begriffen, um die vielen Formen des Erzählens zu beschreiben. Es ist eine etwas unzugängliche Terminologie: Je nachdem, ob der Erzähler mehr weiß als die Figur oder genauso viel oder weniger, unterscheidet man zwischen diversen Arten der Fokalisierung; je nachdem, ob der Erzähler Teil der erzählten Welt ist oder nicht oder gar mit der Hauptfigur identisch, spricht man von einem homodiegetischen, einem heterodiegetischen oder einem autodiegetischen Erzählen (griechisch „diégesis“ = „Erzählung“); und auch die Erzählebenen (Rahmen- und Binnenerzählungen) lassen sich ausdifferenzieren: in intradiegetische, extradiegetische oder metadiegetische Ebenen. Etc.

Umso erstaunlicher, wie schwer sich die Erzähltheorie damit tut, zwischen einer faktualen und einer fiktionalen Erzählung zu unterscheiden, beispielsweise zwischen einer Reportage und einer Novelle. Das liegt auch daran, dass sie sich lange Zeit nicht dafür interessiert hat. Die fiktionale Erzählung galt ihr bis in die 1990er‑Jahre hinein in all ihren Ausformungen und Verästelungen als Erzählung par excellence, unbesehen der Tatsache, dass auch juristische, medizinische, ökonomische, politische, journalistische etc. Texte Wirklichkeitserzählungen sind und nach narratologisch analysierbaren Mustern funktionieren. Oder einfacher gesagt: Die Erzähltheorie hat über literarisch lange Zeit das nicht literarische Erzählen vernachlässigt.

Worin sich genau eine faktuale von einer fiktionalen Erzählung unterscheidet, ist bis heute letztlich unklar. Es ist nicht einmal erwiesen, inwieweit diese Unterscheidung überhaupt zulässig ist oder, noch radikaler, ob es diesen Unterschied überhaupt gibt. Man kann sich die Sache auch vom Leib halten wie die Poststrukturalisten, die das Faktum zu einem diskursiven Konstrukt und also letztlich zu einem Modus der Fiktion erklärt haben. Alles ist Text oder Simulation: Unter diesen Voraussetzungen macht es wenig Sinn, zwischen einer faktualen und einer fiktionalen Erzählung überhaupt unterscheiden zu wollen.

* * *

Doch ist das Problem damit nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Es hat sich in jüngster Zeit noch verschärft durch die Konjunktur der Fakes, die Wirklichkeitserzählungen eigener Gattung sind. Alle Welt spricht von Fake News, immer in Bezug auf die Fakten, die sie verletzen, weniger in Bezug auf die fiktionalen Techniken, die sie anwenden. Mit Letzteren hat die Literaturwissenschaft eine lange Erfahrung. Sie muss aber andere Perspektiven einnehmen, als sie es meist tut, will sie das faketionale neben dem faktualen und dem fiktionalen Erzählen als narratologisches Problem reflektieren – im Sinne eines Erzählens, das in trügerischer, wenn nicht gar betrügerischer Absicht mit Fakten und Fiktionen spielt. Es soll im Folgenden darum gehen, diese Perspektiven zu benennen und kurz zu umreißen.
 

1. Intention

Der Begriff der Intention ist in der Literaturwissenschaft verpönt. Zu sehr klingt er nach der klassisch-allzu-klassischen Frage: „Was will uns der Autor/die Autorin damit sagen?“ Mit dieser Frage will niemand etwas zu tun haben – und sie ist gegenüber literarischen Texten auch ganz unangemessen. Will man indes das Phänomen Fake erzähltheoretisch analysieren, kommt man um den Begriff der Intention nicht herum.

Ein Fehler kann einem unterlaufen, ebenso ein Missgeschick oder ein Versehen, und sogar eine Lüge kann aus dem Moment heraus entstehen, ohne dass sie vorbereitet gewesen wäre oder damit ein bestimmter Plan verfolgt würde, der seine Ziele kennt. Ein Fake hingegen kann einem nicht unterlaufen. Er ist immer Absicht. Er bedingt einen Vorsatz, der sich über seine Ziele im Klaren ist oder zumindest eine Stoßrichtung hat. Der Fake will etwas erreichen, er will eine Wirkung erzielen.

Mögen Kunstwerke ihre Motivation im Unbewussten haben: Der Fake ist ein Akt der Bewusstheit, der auf seine vorsätzlichen Techniken und Strategien hin analysierbar ist. Was die Absichten und was die Ziele sind, kann freilich von Fake zu Fake verschieden sein.
 

2. Wissen/Nichtwissen

Der Fake ist ein interessantes wissenstheoretisches Problem. Sein Kalkül liegt in einem ausgeklügelten Zusammenspiel von Wissen und Nichtwissen. Auf den ersten Blick scheinen die Verhältnisse klar geregelt und die Bestände ungleich verteilt: Wissen aufseiten der Produzenten und Nichtwissen aufseiten der Rezipienten.

Wer einen Fake herstellt, tut es nicht nur willentlich, sondern auch wissentlich. Er muss die Kontexte genau kennen, in denen er sich bewegt: die Fakten, auf die er sich bezieht, die Adressaten, an die er sich richtet, die Formate, derer er sich bedient, die Foren, auf die er sich begibt. Tut er dies nicht, ist der Fake zum Scheitern verurteilt: „Um willentlich falsche Ansichten in die Welt zu setzen, muss man zumindest einige korrekte Ansichten besitzen in der Angelegenheit, über die falsche Ansichten verbreitet werden sollen, da andernfalls das Ergebnis der willentlichen Täuschung planlos sein wird“, wie der Narratologe Jean-Marie Schaeffer festhält.
 


Wer einen Fake herstellt, tut es nicht nur willentlich, sondern auch wissentlich..



Wenn also die Produktion von Fakes ein gewisses Maß an Wissen voraussetzt, so geschieht sie immer auch wider besseres Wissen. Sie ist eine bewusste Verletzung der eigenen Wissensbestände zugunsten eines Falschwissens, das über das eigene Wissen triumphieren soll.

Umgekehrt kann das Nichtwissen aufseiten der Rezipienten nicht vollständig sein. Völliges Nichtwissen besäße kein Sensorium, um einen Fake überhaupt rezipieren zu können. Es braucht ein Wissen im Nichtwissen, an dem er ansetzen kann, um seine Macht zu entfalten. Dieses „Wissen“ kann auch bloß eine diffuse Gemengelage aus Vermutung und Verdacht sein. Wem ein bestimmter Sachverhalt gänzlich unbekannt und unvertraut ist, lässt sich jedenfalls nicht wirkungsvoll darüber täuschen, sondern wird sich womöglich gar nicht dafür interessieren.

Es ist somit eine spezifische Dialektik von Wissen und Nichtwissen, der der Fake seine Dynamik verdankt: ein Wissen, das wider sich selbst handelt, und ein Nichtwissen, das Elemente von Wissen aufweist. In dieser Dialektik eröffnet sich eine Zone, in die der Fake hineinstößt und die er stets neu ausloten muss.
 

3. Plausibilität

Mathematische Sätze und logische Schlüsse sind auf Plausibilität nicht angewiesen. Sie müssen beweisbar sein. Wo jedoch der „Wahrheitswert“ von Aussagen nicht feststeht, sondern verhandelbar ist, kommen andere Kriterien ins Spiel. Eines davon ist die Plausibilität. Sie ist ein sehr geläufiger Begriff, von dem man sofort zu wissen glaubt, was damit gemeint sei. Und doch ist die Plausibilität in Philosophie und Wissenschaftstheorie seltsam unbestimmt: In den meisten Hand- und Wörterbüchern kommt sie zwischen Platonismus und Pluralismus gar nicht vor.

Die Plausibilität zielt auf Zustimmung, wenn nicht gar auf Beifall. Hier stammt das Wort auch her: über das französische „plausible“ vom lateinischen „plausibilis“, eigentlich „Beifall verdienend“, von lateinisch „plaudere“, „klatschen, Beifall spenden“. In der Plausibilität steckt der Applaus: Sie will Akklamation, von möglichst vielen Seiten. Was plausibel sein will, muss sich nach einem sozial hergestellten Konsens richten, nach der Meinung einer Mehrheit oder zumindest einer Gruppe mit dem Ziel, von dieser als einleuchtend und glaubhaft befunden zu werden – und im Idealfall sogar die allgemeine Zustimmung zu erlangen. Je weiter sich die Plausibilität von diesem Hintergrund entfernt, desto mehr läuft sie Gefahr, an Überzeugungskraft einzubüßen.

Die Plausibilität beruht nicht auf einem binären Code von wahr oder falsch. Sie spielt auf einer Skala von mehr oder weniger: Etwas kann plausibler sein oder nicht, von kaum plausibel bis überaus plausibel. Was außerhalb dieser Skala liegt, ist entweder abwegig, d. h. nicht plausibilisierbar, oder notwendig, d. h. nicht plausibilisierungsbedürftig. Am schwierigsten freilich ist es, das Ungereimte und Widersinnige zu plausibilisieren. Goethe schreibt in seinen Maximen und Reflexionen: „Wer die Menschen betrügen will, muss vor allen Dingen das Absurde plausibel machen.“ Und das bedeutet zugleich: Dieses Unterfangen ist zwar überaus anspruchsvoll, aber nicht von vornherein aussichtslos.

Wenn mathematische Sätze und logische Schlüsse die Kriterien Evidenz und Stringenz erfüllen müssen, so gehorchen Aussagen, die Plausibilität für sich in Anspruch nehmen wollen, den Kriterien von Konsens und Konsistenz: Konsens im Sinne der Anschlussfähigkeit an eine Mehrheitsmeinung bzw. der Mehrheitsfähigkeit und Konsistenz im Sinne der Stimmigkeit der dargestellten Zusammenhänge. Diese Kriterien gelten auch für die „Faketizität“, will sie bei ihren Adressaten die erwünschte Glaubwürdigkeit erzielen.
 

4. Publizität

Ein literarischer Text kann ein Soliloquium sein, ein Selbstgespräch ohne Adressaten außerhalb seiner selbst. Auch wenn dies der Extremfall ist, kommt er doch gelegentlich vor. So hat beispielsweise der rumänische Autor Mircea Cărtărescu 2015 bekannt: 

Für mich war meine Literatur stets das, was sie auch bleiben wird: ein langes inneres Tagebuch, ein ununterbrochener Dialog mit mir selbst. Ich habe immerzu Literatur geschrieben, und zwar nicht, um Bücher zu veröffentlichen, die Bücher sind lediglich das Endprodukt eines Prozesses der Selbst- und Welterkenntnis, sie sind die leeren, von dem weichen Tier, das sie einmal bewohnt hat, verlassenen Schalen.“


Der Fake ist diesbezüglich genau das Gegenteil. Als Dialog mit sich selbst ist er undenkbar. An Selbsterkenntnis liegt ihm nichts, an Selbstdarstellung hingegen alles. Er sucht die Öffentlichkeit und braucht ein Publikum – mehr noch: Er ist radikal und exklusiv auf seinen Adressatenbezug hin entworfen. Es geht ihm nicht um Ausdruck oder Einsicht, es geht ihm um den Eindruck, den er macht, und den Einfluss, den er nimmt.

Daraus speisen sich seine Energie und seine Dynamik. Er ist keine abgelebte Schale, sondern eine aufgehende Saat. Das ist zumindest seine Hoffnung. Der Fake besitzt einen eigentümlichen Drall zur Publizität, der sich nach den Parametern von Verbreitungsdynamik und Umlaufgeschwindigkeit bemessen lässt. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies im Digitalen. Hier findet er die idealen Voraussetzungen vor, um das Publikum in seinem Sinne zu adressieren: Dichte und Geschwindigkeit der Informationsverbreitung sollen die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung übersteuern. Nur, wo er es schafft, sein Publikum gezielt zu überfordern, kann der Fake seine Wirkung tun.
 

5. Suggestion

Die Suggestion ist ein uralter rhetorischer Trick, doch ist sie ein viel zu facettenreiches Phänomen, als dass sie sich auf einen einfachen Mechanismus reduzieren ließe. Ideengeschichtlich spielt sie auf den unterschiedlichsten Feldern: vom Hypnotismus über den Magnetismus bis zum Somnambulismus und hinein in die Psychologie. Dort wurde sie zu einem solchen Modewort, dass schon Sigmund Freud genervt feststellte, man dürfe „alles im Psychischen Unbequeme ‚Suggestion‘ heißen“. Die vielfältigen Verwendungsweisen des Begriffs haben indes einen gemeinsamen Nenner: das Moment der Beeinflussung – der Beeinflussung von Denken, Meinen, Fühlen, Vorstellen, Wollen und Handeln auf physiologischen, motorischen, sensorischen und sprachlichen Kanälen.

Die Suggestion ist ein weites Feld. Es lässt sich aber nach zwei Seiten begrenzen: Auf der einen Seite endet es beim Reflex und auf der anderen bei der Reflexion. Reflexe setzen ein Reiz-Reaktions-Schema voraus: Die Reaktion auf einen bestimmten Reiz erfolgt unwillkürlich, es besteht keine Wahl, sei der Reflex nun angeboren oder erworben. Die Reflexion hingegen bedingt eine Bewusstheit, die die Kontrolle über die Reaktion bewahrt.

Zwischen Reflex und Reflexion entfaltet die Suggestion ihr subtiles Spiel – wie eine Zauberin, die es schafft, dass man genau die Karte zieht, die sie gezogen haben will. Am mächtigsten ist sie, wenn es ihr gelingt, eine schon im Bewusstsein vorhandene und eine neu hinzukommende Vorstellung so miteinander zu verbinden, dass die oder der Betreffende es nicht merkt. Dazu bedient sie sich einer Vielzahl an Techniken und Mechanismen wie Mehrdeutigkeiten, Komplexitätssteigerungen oder Überraschungseffekten. Es gibt aber auch „weichere“ Faktoren, die die Suggestibilität einer Botschaft oder Nachricht erhöhen können, wie die Vertrauenswürdigkeit des Absenders oder Gemeinsamkeiten sprachlicher, sozialer, habitueller Art zwischen Sender und Empfänger.

Nur so ist es möglich, dass Urteile und Ansichten nicht auf der Basis eigener Schlussfolgerung und Überprüfung gebildet, sondern von anderen übernommen, von ihnen „eingeflößt“ und „eingeflüstert“ werden. Und es ist klar: In dieser Zone zwischen Reflex und Reflexion arbeitet auch der Fake.
 

6. Identifikation

Was Susan Sontag über das politische Foto sagt, lässt sich auch für den Fake behaupten: dass er „die öffentliche Meinung nicht beeinflussen wird, wenn der entsprechende Zusammenhang mit eigenen Empfindungen und Verhaltensweisen fehlt.“

Wem ein bestimmter Sachverhalt gänzlich unbekannt und unvertraut ist, lässt sich nicht wirkungsvoll darüber täuschen, sondern wird sich womöglich gar nicht dafür interessieren. Bloßes Interesse wird in vielen Fällen aber nicht ausreichen: Ein Fake erhält erst dann seine maximale Schlagkraft, wenn er das Publikum auch emotional zu adressieren und zu involvieren vermag – wobei emotional hier sehr weit zu verstehen ist und eigentlich nur meint, dass der Zusammenhang, von dem Susan Sontag spricht, die rein kognitive Ebene übersteigt.
 


Ein Fake erhält erst dann seine maximale Schlagkraft, wenn er das Publikum auch emotional zu adressieren und zu involvieren vermag.



Er setzt ein Interesse voraus und kann bis zur Identifikation reichen. Die Identifikation ist vor allem ein Begriff aus der Psychologie und der Psychoanalyse und bezeichnet dort einen Vorgang der Subjektkonstitution durch Assimilation. Sie reduziert die Distanz zwischen Sender und Empfänger. Der Sender muss dem Empfänger Identifikationsangebote machen, die es diesem erlauben, zu glauben, es gehe in der Botschaft zumindest auch um ihn selbst. Dies kann nach klassischer Rezeptionsästhetik auf unterschiedlichen Ebenen geschehen: auf der assoziativen Ebene durch ein Sich-Hineinversetzen in eine Rolle oder Figur, auf der admirativen Ebene durch Bewunderung, auf der sympathetischen durch Mitleid, auf der kathartischen durch Erschütterung und auf der ironischen durch Befremden.

Mit diesen Mitteln arbeitet die Literatur seit jeher, und es gehört gerade zu ihren größten Stärken, dass sie das Gefühl zu erzeugen vermag, es gehe in ihr nicht um ein beliebiges Ich, sondern auch um mein Ich – um das Ich derjenigen oder desjenigen, die oder der liest. Diesbezüglich hat ein guter Fake viel von der Literatur gelernt.
 

7. Merging

Das englische Verb „to merge“ bedeutet im Deutschen „abmischen“, „ineinander übergehen“, „miteinander verschmelzen“, „zusammenfließen“. Bei Verkehrsströmen beispielsweise können durch „merging“ mehrere Fahrstreifen so zusammengeführt werden, dass sich die Fahrzeuge abwechselnd und möglichst abstandslos in eine Spur einordnen, wobei im Idealfall der Verkehrsfluss dadurch nicht beeinträchtigt wird. Von „mergen“ spricht man insbesondere in der Softwaretechnik: Dort bezeichnet der Ausdruck die Zusammenführung verschiedener Datenbestände oder Dateiversionen, die aufeinander abgeglichen und auf einen gemeinsamen Stand gebracht werden müssen.

Allgemeiner gesprochen handelt es sich beim „Merging“ um ein Verfahren, das Informationen verschiedener Provenienz und Prozesshaftigkeit homogenisiert. Die Frage ist nur, inwieweit die zugrunde liegende Heterogenität in der vorliegenden Homogenität noch ersichtlich ist oder zumindest zurückverfolgbar bleibt. Der Merriam-Webster führt als eine Bedeutung von „merge“ an: „to blend gradually by stages that blur distinctions“ – in mehreren Schritten so vermischen, dass die Unterschiede verwischen.

„Blend and blur“, „vermischen und verwischen“: Das ist auch eine beliebte Technik aller, die eine Täuschungsabsicht verfolgen, indem sie Wissens- und Informationsbestände unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen Kontexten so miteinander vermengen, als würden sie gleichursprünglich zusammengehören. Entscheidend ist, dass die Übergänge zwischen den heterogenen Bestandteilen in schleifenden Schnitten unkenntlich gemacht werden und am Ende nicht mehr entscheidbar ist, was aus welcher Quelle kommt. Erst dann ergibt sich eine neue Textur, die sich wie ein einheitliches Gewebe liest und doch in Wahrheit ein Flickenteppich ist.

* * *

Die gegenwärtige Debatte über den Fake ist in erster Linie eine politische Debatte, keine philosophische oder ästhetische. Sie hat es mit einem Phänomen zu tun, das sich als manipulativer Überhang an Fiktionalität über die Faktizität beschreiben lässt. Solche Manipulationen können aus unterschiedlichsten Gründen und mit verschiedensten Zielen geschehen. Meist erfolgen sie aber aus unlauteren Absichten. Entsprechend trägt die Debatte auch moralische Züge: Der Fake gilt als eine Plage der Gegenwart, die mit allen Mitteln bekämpft und nach Möglichkeit wieder aus der Welt geschafft werden soll.

Was falsch ist, ist deswegen nicht auch böse. Was falsch ist, kann sogar nützlich, ja unentbehrlich sein, gerade auf der Suche nach der Wahrheit. Diesen verwegenen Gedanken hat der Philosoph Hans Vaihinger in seinem Grundlagenwerk Die Philosophie des Als Ob (1911) bis in die letzten Verästelungen durchdacht. Es handelt sich um eine philosophische Abhandlung von 800 Seiten, die aber schon in den Vorbemerkungen zur Einführung die leitende Fragestellung auf den Punkt bringt:

So sei denn auch hier gleich zum Eingang die Frage klar und scharf formuliert, welche in diesem Buche aufgeworfen wird: Wie kommt es, dass wir mit bewusstfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen?“


Das entscheidende Wort ist das ungewohnte Adjektiv „bewusstfalsch“. Es handelt sich also nicht um Fehler, denen unsere Vorstellungen unterliegen, ohne dass wir es merkten und wüssten. Es handelt sich vielmehr um Vorstellungen, mit denen wir operieren, obschon wir wissen, dass sie willkürlich und falsch sind. Und dennoch operieren wir mit ihnen glücklich und erfolgreich, mehr noch: Wir kämen ohne sie überhaupt nicht zum Ziel.

Das ist kein Phänomen, das sich auf bestimmte Felder eingrenzen ließe, sondern es ist ein allgemeines Prinzip der Fiktion: Es zeigt sich im theoretischen Bereich z. B. in der Vorstellung vom Atom, im praktischen Bereich in der Vorstellung von der Willensfreiheit und im religiösen Bereich in der Vorstellung von der Gnade. Sie alle sind logisch widerspruchsvoll, aber überaus ertragreich. Für Vaihinger steht jedenfalls fest: „Wir kommen im theoretischen, im praktischen und im religiösen Gebiet zum Richtigen auf Grundlage und mit Hilfe des Falschen.“ Damit gerät die Wahrheit in eine bedenkliche Nähe zu ihrem Gegenteil. Mehr noch: Sie ist sogar darauf angewiesen.

Fake, Fakt und Fiktion: Es versteht sich von selbst, dass ein zeitgenössischer Fake mit dem, was Vaihinger unter dem Begriff der Fiktion fasst, nicht gleichzusetzen ist. Doch teilt er mit ihr eine entscheidende Eigenschaft: dass er ein „bewusstfalsches“ Phänomen ist, zumindest aus der Perspektive derer, die ihn produzieren und mit ihm operieren, auch wenn sie damit nicht auf der Suche nach der Wahrheit sind, sondern ihre Wahrheit bzw. Interessen durchsetzen wollen. Vor allem aber lässt sich daraus die Frage ableiten, ob der Fake tatsächlich immer nur in Hinsicht darauf, inwieweit er gegen die Fakten verstößt, betrachtet werden muss – oder ob er nicht auch, ergänzend dazu, im Hinblick darauf analysiert werden kann, was er bei aller Falschheit an „Wissen“ zum Vorschein bringt und wie er konstruiert ist.
 


Fakes brauchen Echoräume. Etwas muss mitschwingen, sonst verhallen sie im luftleeren Raum.



Jeder Fake hat etwas „Bewusstfalsches“ an sich, sonst wäre er kein Fake. Doch wenn er eine Wirkung erzielt, hat er immer auch etwas anderes an sich, das weder richtig noch wahr sein muss, aber zumindest aufschlussreich, wenn nicht gar verräterisch. Der Fake besitzt ein epistemisches Moment: Er transportiert eine Form von „Wissen“ und lässt sich folglich auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Dies kann nicht nur im Sinne einer Berichtigung von Falschwissen geschehen, das sich anhand einer Faktenlage aufzeigen lässt, sondern auch im Sinne des „Wissens“, das in einen Fake investiert wurde und durch ihn aktiviert wird – und handelte es sich auf beiden Seiten auch nur um eine diffuse Gemengelage aus Vermutung und Verdacht oder gar aus Ressentiment und Hass.

Fakes brauchen Echoräume. Etwas muss mitschwingen, sonst verhallen sie im luftleeren Raum. Ein einzelner Spinner kann irgendetwas erzählen und verbreiten; wenn er damit auf keinen Echoraum stößt, wird ihn niemand hören – und es wird entsprechend auch keine Auswirkungen haben, was er sagt. Ein Fake hingegen, der Furore machen will, muss auf einen Resonanzboden fallen, um ein Erdbeben auslösen zu können.

Eine Perspektive, die nach den epistemischen Aspekten des Fakes als einer Form von Fiktion fragt, lässt sich in verschiedene Parameter unterteilen:

  • Wenn der Fake eine Intention bedingt, so lässt er sich befragen nach den Absichten derer, die ihn in die Welt gesetzt haben.
  • Wenn der Fake aus einer spezifischen Dialektik von Wissen und Nichtwissen resultiert, gibt er Aufschluss über die Ansichten derer, die ihn in die Welt gesetzt haben – und derer, die mit ihm erreicht werden sollen.
  • Wenn der Fake auf Verfahren wie Plausibilisierung, Suggestion und Merging setzt, lässt er sich nicht nur hinsichtlich der Faktenlage lesen, die er verletzt, sondern auch hinsichtlich der Techniken und Strategien, die er verwendet und verfolgt.
  • Und wenn ein Fake Publizität und Identifikation erzielt, lässt er sich befragen nach den Echoräumen, in denen er widerhallt.

Dass Faktenchecks unerlässlich sind, steht außer Frage. Auch soll es keineswegs darum gehen, „Verständnis“ für diejenigen zu schaffen, die mit Fakes bewusstfalsche Informationen verbreiten und damit politisch zwielichtige oder gar kriminelle Absichten verfolgen. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass Faktenchecks im Umgang mit Fakes nur Symptome bekämpfen: Sie versuchen, aus der Welt zu schaffen, was dort längst angekommen ist. Und es geht um die Einsicht, dass es in Ergänzung dazu eine zweite Perspektive braucht, die den Fokus auf die Faktizität um den Aspekt der Fiktionalität erweitert – in der Auffächerung, wie sie hier versucht wurde und die sich sicher noch ergänzen ließe.

Was verrät ein Fake? Es geht mit einem Wort darum, im Umgang mit Fakes das Verb „verraten“ in einem doppelten Sinne zu lesen. Was verrät ein Fake? im Sinne von: Welche Sachlage verletzt er, gegen welche Fakten verstößt er? Aber eben auch: Was verrät ein Fake? im Sinne von: Was gibt er preis über sich selbst sowie die Mechanismen und Strategien, denen er sich verdankt? Wenn der Fake zwei Seiten hat, so erfordert er auch den doppelten Blick.
 


Dieser Beitrag beruht auf Thomas Strässles Buch Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit.