Über Wahrheit
I Ein Gleichnis über Wahrheit
Es gibt ein altes, ursprünglich aus dem asiatischen Raum stammendes Gleichnis über Wahrheit, von dem verschiedene Fassungen kursieren. In einer Lesart liegt eine Gruppe von blinden Wissenschaftlern unter der Sonne und denkt darüber nach, was Wahrheit ist. Es vergeht einige Zeit, dann taucht ein Elefant auf, der mit seiner Körpermasse den Denkern das Licht wegnimmt.
Die Wissenschaftler zögern nicht und beginnen mit der Untersuchung des Tieres, ohne zu ahnen, dass es sich um einen Elefanten handelt. Jeder Wissenschaftler begutachtet ein anderes Körperteil: einer das Bein, ein anderer den Rüssel, wobei sich jeder von ihnen damit begnügt, einen Teil des Tieres zu ertasten, ohne sich zu fragen, ob es da noch mehr gibt. Sie kommen, wenig erstaunlich, zu sehr unterschiedlichen Auffassungen darüber, worum es sich handeln könnte. Ein Wissenschaftler hält das untersuchte Objekt für einen Berg, der andere für einen Baumstamm, der dritte, der sich den Rüssel geschnappt hat, meint, es sei ein Feuerwehrschlauch. Die Gruppe streitet, wer im Recht sei. Dem Elefanten wird das rasch zu laut, das Tier verschwindet – und mit ihm der Schatten, den es warf. Von der Wärme der Sonnenstrahlen beglückt, kehren die Wissenschaftler auf ihre Liegestühle zurück.
Als kurze Zeit später der Zirkusdirektor auftaucht und aufgeregt fragt, ob die Wissenschaftler einen Elefanten gesehen hätten, verneinen sie allesamt: Ein Elefant sei ihnen nicht begegnet. Und sie versichern, dass dies absolut wahr sei. Denn sie haben überhaupt keinen Zweifel an ihren Wahrheitsansprüchen und zeigen kein Interesse daran, die Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Der Elefant ist zweifellos ein Sinnbild für die Realität; die Blindheit der Wissenschaftler eine Metapher für unsere begrenzte Sichtweise und für die Unmöglichkeit, Wahrheit rein subjektiv bestimmen zu können. Individuelle Perspektiven sind zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung der Erkenntnis.
Die Wissenschaftler haben zwar Gewissheit, denn sie sind – rein subjektiv – zweifellos von einer Sache überzeugt, und dies ganz unabhängig davon, wie diese Überzeugung zustande kam: Sie halten ihre Deutung für wahr. Verschiedene Erfahrungshorizonte und soziokulturelle Einflüsse mögen dieses Für-wahr-Halten bestärkt haben. Doch erst, wenn subjektive Gewissheit Gründe für das eigene Überzeugtsein angeben kann und diese Gründe auch von anderen nachvollzogen und akzeptiert werden können, wird Gewissheit zu einem objektiv teilbaren Sachverhalt und als solcher zu einem wesentlichen Merkmal von Wissen (aber selbst dann ist nicht sicher, dass diese Gründe nicht auch blinde Flecken haben, die noch nicht erkannt sind).
Sie führen keinen wissenschaftlichen Diskurs, sondern sonnen sich selbstgerecht im eigenen Für-wahr-Halten.
Nun wissen wir zumindest seit Niklas Luhmann, dass wir alles, was wir wissen, aus den Medien wissen, die uns – heute mehr denn je – zugleich dieses Wissen vernebeln, weil sie uns ein Zuviel an Wissen präsentieren. Deshalb kommt es darauf an, subjektive Gewissheit am anderen zu prüfen – durch sprachliche Mitteilung, Kommunikation, Argumentation. Dies bleibt bei den Wissenschaftlern im obigen Beispiel leider aus. Sie führen keinen wissenschaftlichen Diskurs, sondern sonnen sich selbstgerecht im eigenen Für-wahr-Halten, ohne ihre Behauptungen, dass x = y sei, in irgendeiner Form zu verteidigen.
Hanabusa Itchō: Blind Monks Examining an Elephant (Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., ID cph.3g08725)
II Tod der Wahrheit?
Man könnte an dieser Stelle fragen, ob sich in diesen Zeiten, die immer unsicherer zu werden drohen (auch unübersichtlicher, zerrissener, brüchiger), überhaupt noch an einer Idee von Wahrheit festhalten lässt. Hat das Streben der Subjekte nach Wissen nicht zusehends an Kraft eingebüßt? Und ist intersubjektiv vermittelte Erkenntnis nicht im Kurs gesunken? Das scheint so und hängt wohl auch damit zusammen, dass Wissen wesentlich komplexer, das Streben danach insofern mühseliger geworden ist.
Schauen wir nochmals auf die Gruppe der Wissenschaftler: Auch das Verhältnis der Wissenschaft zum Wissen ist durchaus ambivalent. Denn Wissenschaft braucht grundsätzlich das Nichtwissen und Ungewissheiten, um überhaupt die Arbeit aufnehmen zu können. Andererseits soll genau dieses Nichtwissen durch wissenschaftliche Forschung überwunden werden, wobei jede mühsam errungene Gewissheit wiederum neues Nichtwissen bzw. neue Ungewissheiten freisetzt und die Suche nach Antworten auf ungeklärte Sachverhalte von vorn beginnen lässt. Allerdings bedarf es immer auch bestimmter Gewissheiten, mithilfe derer die Suche nach Antworten begonnen werden kann: Wer absolut keine Gewissheiten besitzt, weiß nicht einmal mehr, wonach er eigentlich sucht.
Wissen, das wir suchen, findet sich zwischen diesen beiden radikalen Positionen: jener, die unreflektiert von der eigenen Meinung überzeugt ist und keine Begründung benötigt („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“), und jener, die dauernd alles in Zweifel zieht („Lügenpresse“), ohne zu irgendeinem Ergebnis mit Substanz zu gelangen.
Frei erfundene Behauptungen werden als Nachrichten, als Wahrheiten, als neue Gewissheit präsentiert und erregen virtuelle Fieberschübe, …
Michiko Kakutani meint, wir seien dem „Tod der Wahrheit“ inzwischen sehr nahe (Kakutani 2019). Für die klassische Idee von Wahrheit als etwas zeitlos und dogmatisch Feststehendes – als Sonne, Gott oder Unverborgenheit – mag das zutreffen. Andererseits haben wir diese Idee ja nie aufgegeben, wie an den unzähligen Ansprüchen auf Wahrheit, die neuerdings erhoben werden, unschwer zu erkennen ist. Gleichwohl sind Gewissheiten zunehmend fragwürdig geworden. Es ist vor allem diese ambivalente Situation, die für viele Menschen eine Belastung ist, denn wachsende Ungewissheit ist gewiss schwer zu ertragen.
Eine Folge ist das, was der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (2018) die „große Gereiztheit“ nennt: das Denken in Fettdruck, die Kommentare in Majuskeln, versetzt mit einer Unmenge Ausrufezeichen und teils skurrilen Wahrheitsansprüchen.
Die Gereiztheit hängt auch damit zusammen, dass die digitalen Medien das Wesen von Öffentlichkeit verändern: Diskursfilter und Informationskontrollen sind weggebrochen, jeder Besitzer eines Smartphones wird zum neuen Sender – und dies bedeutet: Ungewissheit, wohin man auch schaut. Ein Universum frei umherwirbelnder, beliebig kombinierbarer Daten und Zeichen.
Frei erfundene Behauptungen werden als Nachrichten, als Wahrheiten, als neue Gewissheit präsentiert und erregen virtuelle Fieberschübe, die eine Sehnsucht nach verloren gegangener Gewissheit zum Ausdruck bringen. Wenn offenkundig falsche Behauptungen für wahr gehalten werden, hat das weitreichende Konsequenzen: politische Blasenbildungen und kollektiver Realitätsverlust – die Aufmerksamkeit (getriggert durch Klickköder) übersteigt die Substanz der Angelegenheit. Der Elefant der Realität bläht sich zu einem riesigen Ballon auf; und ein einziger Nadelstich bringt ihn sogleich wieder zum Platzen.
Übrig bleiben unzählige, simultan präsente Parallelöffentlichkeiten: Fernsehbilder, Nachrichtenticker, Mails, Facebook-News, Twitter- und Eilmeldungen. Es ist ein einziges diffuses Geraune ohne seriöse Belege.
III Ein Rettungsversuch
„Man muss die Bedingungen der Situation und den besonderen Kontext kennen, die Quellenlage prüfen und sich in der Hermeneutik […] schulen, um zu entscheiden, ob die Normverletzung gerechtfertigt und die Entrüstung angebracht ist“, sagt Pörksen (ebd., S. 184 f.).
Es geht hierbei um publizistische Selbstkontrolle, die durch die Orientierung an der Wahrheit geleitet ist. Es geht darum, zu recherchieren, skeptisch zu sein (auch gegenüber sich selbst), Informationen infrage zu stellen, Urteile mit Bedacht zu fällen. Es geht darum, Argumentationen einzuüben, andere Perspektiven einzunehmen und Kompromisse zu suchen. Denn Pluralität ist das Gesetz der Erde (wie schon Hannah Arendt wusste).
Es geht schließlich auch darum, ein Gespür für Relevanz und Nuancen zu entwickeln, Informationen wieder zu gewichten, aufmerksam und konzentriert zu sein. Ein Sinn für Angemessenheit, gepaart mit Reflexionsvermögen und Problembewusstsein sind in diesem Zusammenhang entscheidende Aspekte der (Medien‑)Bildung. Ergehen wir uns aber nicht in Wahrheitsobsessionen. Man muss Ambivalenzen aushalten können!
Eine solche Bildung wäre die Antwort auf eine hochkomplexe Welt, in der eindeutige und absolut gesicherte Sachverhalte kaum möglich sind. Wenn man jedoch offen für die Argumente anderer bleibt und bereit ist, Ungewissheiten auszuhalten, wird es wesentlich leichter, mit dieser Situation zurechtzukommen.
Nimmt man Ungewissheiten im wissenschaftlichen Diskurs ernst, stellt sich mithin die Frage nach einem methodischen Vorgehen, das auf die Ungewissheit produzierende Reflexivität der Moderne angemessen zu reagieren imstande ist. Meines Erachtens gelingt dies nur dann, wenn man die Bedingungen der Möglichkeit intersubjektiv gültiger Argumentationen offenlegt. Das bedeutet, zu zeigen, inwieweit Antworten auf durch Ungewissheit verursachte Problemlagen immer nach diskursiver Rechtfertigung und verantwortungsgetränktem Handeln verlangen. Es bedeutet letztlich, dass wir uns einer Sinnverständigung über Wahrheitsansprüche stellen müssen.
Es gilt, Verantwortung für subjektive Urteile zu übernehmen – und zwar gegenüber den anderen, die möglicherweise anderer Auffassung sind.
Was also nottut, ist eine Reflexion der eigenen Geltungsansprüche. Wir müssen Begründungen für unser Für-wahr-Halten liefern können und zur Rechtfertigung bereit sein. Es gilt, Verantwortung für subjektive Urteile zu übernehmen – und zwar gegenüber den anderen, die möglicherweise anderer Auffassung sind.
Es geht also darum, Rede und Antwort zu stehen und sich zu rechtfertigen. Meinungen, Behauptungen sind wichtig, aber sie sind nicht hinreichend. Denn sie bilden noch kein Urteil und sind für Erkenntnisprozesse insofern nur von untergeordneter Bedeutung. Sie sind eine Vorstufe des Wissens. Erst Urteilsfähigkeit als der ureigene Sinn der Verantwortung, der autonomes, über den eigenen Tellerrand hinausschauendes menschliches Handeln impliziert, ist ein ernst zu nehmender Kandidat sinngetränkter Wahrheitsansprüche. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass jemand für sein Handeln (dies impliziert auch die Rede) sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber allen denkbaren anderen Rechenschaft ablegen und Gründe seines Handelns angeben kann. Wer hierzu nicht bereit ist, verspielt die Chance, als Dialogpartner ernst genommen zu werden.
Und was ist am Ende mit der Verantwortung des Publikums, der User, der Öffentlichkeit? Sie besteht in kritischer Recherche, wohldosierter Skepsis, der Infragestellung des Selbstverständlichen, der Diskursorientierung und der Fähigkeit, abzuwägen: Konstruktive Kritik und Dialogbereitschaft helfen am ehesten zu verstehen, was ein Elefant ist – und was dieser mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun hat.