Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung

Bernd Schorb, Anja Bensinger-Stolze, Fred Schell, Birgita Dusse, Wolfgang Antritter (Hrsg.)

München 2022: kopaed
Rezensent/-in: Bernward Hoffmann

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 103-104

Vollständiger Beitrag als:

Pädagogik im 21. Jahrhundert

Der Sammelband wurde im Rahmen des Bundesforums „Bildung in der digitalen Welt“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erarbeitet. Er bietet keine zufällige Ansammlung von Autorenbeiträgen, sondern folgt einer klaren Konzeption. Alle 20 Autor­Innen nehmen Bezug auf die aktuelleren Positionspapiere der Kultusministerkonferenz (KMK) ab „Bildung in der digitalen Welt“ (2016) und auf die überraschend zahlreichen Positionen der GEW zu Digitalisierung und Bildung; und in allen Beiträgen findet sich eine Argumentation für den Primat des Pädagogischen in einer Kultur der Digitalität, in der es quasi keine medienfreien Räume mehr gibt; sie kritisieren einen eher technologischen oder rein funktionalen Blick auf Digitalisierung im Bildungswesen.

Immer wieder tauchen zentrale Fragen auf: Welche Macht und Rolle hat die Digitalwirtschaft? Was passiert mit den Daten der Lernenden und folglich ihrer Selbstbestimmung und Souveränität? Wie begegnen Gesellschaft und Politik den Gefahren einer zunehmenden sozialen Spaltung durch Digitalisierung? Welche Chancen zur Mitgestaltung bleiben den BürgerInnen?

Der Band ist klar gegliedert. Er bietet nach einem guten einleitenden Überblick zwei eher theoretische Grundlagenbeiträge zum Verständnis von Medienpädagogik. Es folgen drei Beiträge zu „Lehren und Lernen im Kontext der Digitalisierung“ mit einem Plädoyer für die Theorie des „expansiven Lernens“ und jeweils einem spezifischen Blick auf die Medienkompetenzen der Lernenden und der Lehrenden. Die zweite Hälfte des Buches ist mit Beiträgen zur Praxis gefüllt. Herausforderungen der Digitalisierung für Kita, Primarstufe, Schule, Schulsozialarbeit, Hochschule, berufliche Aus- und Weiterbildung, Erwachsenenbildung und für ältere Menschen werden aktuell, exemplarisch und sehr praxisnah diskutiert.

Durch die Pandemie erhielt die Nutzung digitaler Technik im Bildungsbereich einen Zwangsschub; pädagogische Kommunikation und Lernen über Distanz wurden quasi selbstverständlich, verlangen aber von den Lernenden ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbstständigkeit. Gegen den Begriff einer digitalen Kompetenz bemühen sich alle Beiträge um ein differenziertes Verständnis von Medienkompetenz. So geht es etwa Horst Niesyto um eine Stärkung der medienkritischen Perspektive auf einen digitalen Kapitalismus mit einer neuen Konzentration von Kapital, Wissen und Macht. Ein antagonistisches Denken in Richtig und Falsch müsse dabei überwunden werden. Niesyto zeigt die Nähe von kapitalistischen und digitalen Strukturprinzipien auf und benennt konkret eine Reihe von Problemfeldern, u. a. „soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen“ und „weitere Beschleunigung und Fragmentierung von Alltag und Kommunikation“ (S. 26). Auch in anderen Beiträgen wird als wichtiger Kritikpunkt benannt, dass sich die IT-Wirtschaft immer mehr im Bildungsbereich breitmachen kann. Die GEW hat sich mehrfach kritisch zu „Aktivitäten der Digitalindustrie im Bildungsbereich“ geäußert.

Auch die Vermessung von Bildung durch Learning Analytics muss kritisch gesehen werden. Man kann daraus wichtige Erkenntnisse zum (Lern‑)Verhalten von Menschen gewinnen. Aber dies kann und darf nur unter Beachtung der Selbstständigkeit und Souveränität der Subjekte (Schorb/Schell, S. 48) geschehen. Gegen eine technologische Engführung einer sogenannten „digitalen Bildung“ müssen vor allem „die symbolisch-kommunikativen Dimensionen von Bildungsprozessen betont“ (S. 29) werden.

Eine Position, wie sie im Beitrag von Schorb/Schell anklingt, dass digital gesteuertes Lernen in der Schule für reproduzierbares Grundwissen genutzt werden könnte und so Freiräume für eine pädagogische Konzentration auf soziale und emotionale Lernkontexte in reformpädagogischem Verständnis entstehen könnten (vgl. S. 47 f.), ist zu diskutieren; kann man diese Bereiche wirklich sinnvoll voneinander trennen? Auch die in der Medienpädagogik verbreitete Konzentration auf ein „starkes“ Subjekt ist zu differenzieren. Für eine Demokratisierung von Lernprozessen, eine Beteiligung der Lernenden plädieren viele Beiträge; aber eine absolute Verlagerung der Verantwortung für Lernerfolge auf das Individuum verstärke eher die Ungleichheit in der Bildung. Und das widerspricht einer zentralen GEW-Forderung: Die in der Pandemie gewachsene digitale Spaltung muss überwunden werden.

Dem Anspruch des Titels, „Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts“ zu liefern, wird das Buch durchaus gerecht, wenn man den Fokus der GEW-Positionen einkalkuliert. Ein wichtiges Problemfeld aber wird nur im abschließenden Ausblick des Buches angetippt: Die Chancen der Digitalisierung im Bildungsbereich bewegen sich häufig in rechtlichen Grau­zonen, was Praktiker verunsichert. Die Frage, bis wohin pädagogische Institutionen „nicht öffentlich“ sind und was laut Urheberrechtsgesetz und Datenschutzgesetzen erlaubt bzw. illegal ist, bleibt sehr komplex und steht vielfach im Widerspruch zur alltäglichen Nutzung der Medien (vgl. S. 195).

Prof. i. R. Dr. Bernward Hoffmann