„Unterm Strich weiß man immer, es geht hier um etwas!“

Barbara Felsmann im Gespräch mit Gudrun Sommer

In diesem Jahr feiert doxs! – dokumentarfilme für kinder und jugendliche sein 15. Jubiläum. Aus diesem Grund sprach tv diskurs mit der Festivalleiterin Gudrun Sommer über die Bedeutung von doxs!, seine Entwicklung und seine Ziele.

Online seit 07.11.2016: https://mediendiskurs.online/beitrag/unterm-strich-weiss-man-immer-es-geht-hier-um-etwas/

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Wie ist dieses kleine, aber feine Festival, das alljährlich im November im Rahmen der Duisburger Filmwoche stattfindet, entstanden?

Eine Kollegin von der Auswahlkommission der Duisburger Filmwoche hatte damals begeistert von dem holländischen Kids & Docs Workshop erzählt und in die Runde getragen: Lasst uns das doch auch machen! Erfreulicherweise kam hinzu, dass die damalige Referatsleiterin im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kultur, Theda Kluth, von der Idee sehr angetan war und das Projekt unterstützt hat – übrigens in einer Zeit, die gerade nicht für kulturelle Neugründungen bekannt war. Ich selbst war damals auch in der Auswahlkommission und fand die Idee interessant. Deshalb habe ich mich bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. Zusammen mit ein, zwei Kolleginnen haben wir das Projekt dann ins Leben gerufen und dabei ganz klein angefangen. Zunächst haben wir einfach ein paar Filme gezeigt – in insgesamt fünf Programmen.

Man muss dazu sagen, dass uns noch kein eigener Kinosaal zur Verfügung stand, den gab es ja noch gar nicht im Duisburger filmforum. So starteten unsere Veranstaltungen frühmorgens, bevor die Vorführungen der Filmwoche begannen. Dann wurde zum Glück der kleine Kinosaal gebaut. Damit hatten wir unser eigenes Kino und konnten mehr Veranstaltungen und mehr Programm anbieten.

Hieß die Reihe von Anfang an doxs!?

Nein, die ersten zwei Jahre nannten wir sie einfach nur Kinderkino Camilla und Toni. Nach zwei Jahren haben wir begonnen, das Festival systematischer zu denken. Wir hatten uns überlegt, dass dieses Festival mehr als nur ein Kinoangebot sein sollte. Dazu sollte es einen Bereich geben, der das ganze Jahr über in der Schule stattfindet. Es sollten Tourneeprogramme durchgeführt und Fortbildungen im weitesten Sinn für Filmemacher angeboten werden. Und in dem Zusammenhang, als wir dieses Konzept entwickelt haben, ist der Name doxs! entstanden. Er diente auch dazu, die einzelnen Bereiche voneinander abzugrenzen: doxs! kino für das Festival, doxs! schule für die Schulaktivitäten, doxs! on tour für das Tourneeprogramm.

Als Ihr Festival entstand, sah es mit dem Kinderdokumentarfilm in Deutschland nicht besonders rosig aus. Welche Art von Dokumentarfilmen wollten Sie zeigen und in welchem Umfeld haben Sie sich da bewegt?

Wir haben ja unser Programm vor dem Hintergrund, dass wir zu einem etablierten Dokumentarfilmfestival gehörten, gemacht. Als ich damals meine Hände hochstreckte und sagte: „Mich interessiert das“, da hatte ich mich vorher nicht wahnsinnig viel mit Kinderfilm beschäftigt. Ich hab mich dem Thema „Kinderdokumentarfilm“ zugewandt mit dem Hintergrund, jahrelang Dokumentarfilme für Erwachsene gesichtet zu haben. Das bedeutet: Wir haben uns eher filmisch-dokumentarisch genähert und nicht unbedingt mit dem profunden Wissen über Kinderfilm und -fernsehen. Unser Anspruch war ein ästhetischer, es ging uns um den visuell erzählenden Dokumentarfilm, nicht so sehr um Reportagen oder das, was im Fernsehen so gern als Dokumentationen gehandelt wird. Wir waren bei der Auswahl der Filme sehr von unseren Erfahrungen geprägt, die wir in der Filmwoche gemacht hatten, hatten aber viel weniger Auswahl. Gerade in den ersten Jahren. Deshalb musste das doxs!-Programm – im Gegensatz zur Duisburger Filmwoche, die ja nur deutschsprachige Produktionen präsentiert – international oder zumindest europäisch sein.

Was für Filme konnte man bei Ihnen sehen?

Von Anfang an ging es uns um Lebenswelt-Themen und nicht so sehr um Kompetenzthemen. Uns waren Filme wichtig, die zeigen, wie Kinder in anderen Situationen, in anderen Kulturen, in anderen familiären Zusammenhängen klarkommen. So haben wir z.B. als deutsche Produktion auch kleine Einspieler aus der Sendung mit der Maus gezeigt, nämlich Porträts von Kindern, die ihre Religion vorstellen oder die in Patchworkfamilien aufwachsen. Das waren Produktionen von Calle Overweg.

Was hat sich in den 15 Jahren in Bezug auf die Filmauswahl verändert?

Natürlich haben wir unsere Techniken verfeinert, wir suchen und finden einfach immer besser. Unsere Kontakte in Europa sind über die Jahre gewachsen, und ich habe auch den Eindruck, dass in Deutschland mehr produziert wird als in den anfänglichen Jahren. Auf jeden Fall passiert eine Menge im Bereich „Jugend“. Was von den Hochschulen kommt, ist sehr unterschiedlich. Da gibt es starke Jahre, aber es gibt trotzdem keine Trends, auf die man bauen kann.

Das Problem ist manchmal auch, dass die Filmemacher sich nicht immer im Klaren darüber sind, dass ihre Filme sich auch für ein junges Publikum eignen. Da sind wir inzwischen aufmerksamer geworden und recherchieren in vielen Richtungen.

So haben wir z.B. in diesem Jahr eine WDR-Produktion im Programm, die in der Redaktion Hier und heute für erwachsene Zuschauer entstanden ist. Aber der Film Nordstadtkinder – Lutwi ist so sehr auf Augenhöhe mit seinem 11-jährigen Protagonisten erzählt, dass man ihn wunderbar 10-Jährigen präsentieren kann.

Welche Neuerungen sind im Laufe der Zeit bei doxs! hinzugekommen?

Eine kleine, aber wichtige Grundsatzentscheidung war 2004, mit dem Dokumentarfilm in die Schule zu gehen. Ich kann mich noch gut an die ersten beiden Schulprojekte erinnern. Wir hatten überhaupt keine Erfahrung damit, aber dann hat dieses kleine, feine Projekt langfristig sehr viel verändert. Denn uns ist klar geworden, dass wir in die Schulen gehen müssen, um unser Publikum und um die dortigen Rahmenbedingungen zu verstehen. Nur so können wir ein Angebot machen, das Lehrer tatsächlich anspricht.

Der nächste große Schritt war die Einladung vom Goethe-Institut zu unserem fünfjährigen Bestehen, die DVD Junge Helden zu kuratieren. Kinderdokumentarfilm war damals noch ein unbekanntes Terrain im Gegensatz zu heute, und das Goethe-Institut hatte uns die Möglichkeit gegeben, 26 Filme anzukaufen und in der deutschen sowie in vier anderen Sprachen zu untertiteln. Diese Edition hat dem Thema „Kinderdokumentarfilm“ in Deutschland einen ungeheuren Schub gegeben. Nach doxs! schule kam doxs! on tour; und das nächste wichtige Projekt war dann 2007 dok you mit der Dokumentarfilminitiative und dem WDR zusammen, wo es um den Bereich „Filmemacher-Qualifizierung“ ging. Das war ein Riesenmeilenstein in vielerlei Hinsicht: in erster Linie deshalb, weil es uns gelungen war, den WDR zu solch einer Kooperation zu bewegen; zum anderen auch aufgrund der Idee, Filmproduktion für Kinder dokumentarisch mit der Zielgruppe zusammen in irgendeiner Form zu denken, und drittens, weil innerhalb dieses Projekts die ersten nicht formatierten Kinderdokumentarfilme in Deutschland entstanden sind. Die Filme sind alle Einzelstücke und zeigen, dass so etwas im Fernsehen möglich ist. Im Endeffekt war dies auch das Vorgängerprojekt zu der doku.klasse, die vor drei Jahren ins Leben gerufen wurde und sich an eine ältere Zielgruppe wendet.

Worin besteht der Unterschied zwischen dok you und der doku.klasse?

Die große Idee über diesen beiden Projekten ist, die dokumentarische Produktion zu verknüpfen mit partizipatorischen Überlegungen, nämlich wie man das Publikum in die Produktion einbeziehen kann. Üblicherweise erhält der Regisseur einen Auftrag für eine Stoffidee, oder er sucht sich seine Protagonisten für ein bestimmtes Fernsehformat. Wir wollten das Verhältnis zwischen den Filmemachern und seinen Protagonisten wie auch der Zielgruppe enger gestalten. Dabei haben wir das jeweilige Projekt an die Möglichkeiten, die das Alter mit sich bringt, angepasst.

Bei dok you wurde der Filmemacher in eine Schule eingeladen, hat dort mit Kindern intensiv zum Thema seines Films gearbeitet, dabei eventuell Protagonisten für den Film entdeckt, und dann wurde der fertige Film hinterher in der Auswertung wieder eingebettet in pädagogische Zusammenhänge.

Die doku.klasse ermöglicht Filmemachern im Rahmen von eintägigen Workshops, mit Jugendlichen im Alter von 17 bis 21 Jahren in einen kreativen Dialog über ihre Projekte, die sie bei ZDF/3sat für die Reihe Ab 18! eingereicht haben, zu treten. Der Austausch zwischen Filmemachern und Jugendlichen beginnt bereits bei der Stoffentwicklung und zieht sich hin bis zum fertigen Film.

Und zum zehnten Jubiläum wurde mit der GROSSEN KLAPPE der erste Filmpreis in Europa für Kinder- und Jugenddokumentarfilm verliehen, der vor allem die politische Bedeutung des dokumentarischen Filmschaffens würdigt.

Genau, der Preis wurde und wird von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gestiftet. Das hat dem Festival noch einmal eine ganz andere Öffentlichkeit gegeben.

Ja, und dem Preisträgerfilm, oder?

Natürlich. Denn wir haben auch von Anfang an die GROSSE KLAPPE verknüpft mit einer Auswertung für Bildungskonzepte, über eine Kooperation mit „Methode Film“, die eine Auswahl der nominierten Filme und in der Regel auch den Preisträgerfilm ankauft, medienpädagogisch aufarbeitet und in Schulen im deutschsprachigen Raum vertreibt. Auch hier wurde – entsprechend unserem Profil – die Komponente der schulischen Vermittlung und Bildung wieder mitgedacht.

Ab wann gab es ein Programm für Jugendliche?

Das hat sich so nach und nach eingeschlichen, aber auf jeden Fall seit wir einen Wettbewerb haben. Davor war ja das Programm maßgeblich auf bestimmte Länderschwerpunkte fokussiert; und da hing es immer ein bisschen davon ab, was die einzelnen Länder hinsichtlich der Altersgruppen anbieten konnten. Aber mit der Einführung des Wettbewerbs war dann klar, dass wir Beiträge in der Altersgruppe von 10 bis 18 Jahren präsentieren. Da haben wir dann ganz anders die Fühler nach einem dezidierten Jugendprogramm ausgestreckt.

Wie werden die Filme bei Ihnen präsentiert?

Jeder Film wird als ein für sich eigenständiges, wertvolles Werk präsentiert. Das ist mir ganz wichtig. Wir versuchen also, jedem Film eine besondere Aufmerksamkeit zu geben, und diskutieren aus diesem Grund nach dem Film direkt, egal ob er drei Minuten dauert oder 25 Minuten oder 80. Ansonsten versuchen wir, vor allem die Kurzfilme in einen Programmblockkontext zu setzen, der aus unserer Sicht ästhetisch und/oder inhaltlich überzeugend ist.

Sie laden auch Gäste ein?

Ja, sofern das im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten liegt, schätzen wir das Gespräch mit den Filmemachern sehr. Zum Glück werden wir dabei großzügig von Botschaften unterstützt. Bei einigen Filmen würden wir sogar überlegen, ob wir ihn überhaupt zeigen, wenn der Filmemacher nicht kommt. Beispielsweise weil das Thema politisch so brisant ist, wie in diesem Jahr bei der Produktion Black Sheep aus Großbritannien. Da war es mir schon ein Anliegen, dass der Filmemacher Christian Cerami zum Festival anreist und mit dem Publikum über seine Arbeit diskutiert.

Publikumsgespräche werden bei Ihnen ja sehr ernsthaft und sorgfältig geführt.

Das haben wir von der Duisburger Filmwoche mitgebracht. Bei der Filmwoche habe ich es kennengelernt, dass jede Filmdiskussion hinterher ausgewertet und nachbesprochen wurde. Und das haben wir bei doxs! so übernommen. In den ersten drei, vier Jahren saßen wir nach jeder Vorführung zusammen und haben das Gespräch ausgewertet, haben Reflexion betrieben. Die Anstrengung sieht man jetzt sicher nicht mehr, aber wir haben uns sehr viele Gedanken über Filmgespräche gemacht.

Nun noch eine persönliche Frage: Wann haben Sie Ihre Begeisterung für den Dokumentarfilm entdeckt?

Das war bei meinem Studium, 1992 in Graz, bei einer Vorführung von Ulrich Seidls Mit Verlust ist zu rechnen. Das ging mich so an, dieser Film und dieses Publikumsgespräch mit dem Regisseur, das habe ich als etwas sehr Besonderes empfunden. Dann habe ich das erst einmal gar nicht so eingeordnet für mich, und erst bei der Duisburger Filmwoche habe ich festgestellt, dass Dokumentarfilm genau meins ist. Da war es mir dann sonnenklar.

Was fasziniert Sie am Dokumentarfilm?

Unterm Strich spüre ich beim Dokumentarfilm einfach immer, dass etwas auf dem Spiel steht. Egal wie die Ästhetik ist, mit der sich der Filmemacher dem Thema oder dem Protagonisten nähert, unterm Strich weiß man immer, es geht hier um etwas!

Und warum ist Dokumentarfilm für Kinder wichtig?

Aus genau dem gleichen Grund. Weil gerade in den letzten Jahren, wo sich medial so viel verändert und sich diese Sphären zwischen Fiktion und Realität verwischen, Kinder ein Gespür dafür bekommen müssen, wie sie das, was sie sehen, einzuordnen haben.

Gudrun Sommer leitet das Festival doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche.

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.