Verdachtsjournalismus 2: Das Flugblatt des bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger

Der Vorfall ist 35 Jahre her, gewinnt aber angesichts der bayerischen Landtagswahl in sechs Wochen Brisanz: Hubert Aiwanger, bayerischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident, wird mit einem antisemitischen Flugblatt in Verbindung gebracht, das in seiner Schultasche gefunden wurde, als er 17 Jahre alt war. Nun behauptet er, sein Bruder habe es verfasst und er hätte nur zufällig „ein oder wenige Exemplare“ (Henkel 2023) in seiner Schultasche gehabt. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat darüber berichtet und wird nun beschuldigt, Verdachtsjournalismus zu betreiben.

Online seit 05.09.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/verdachtsjournalismus-2-das-flugblatt-des-bayerischen-wirtschaftsministers-hubert-aiwanger-beitrag-1122/

 

 

Am 25. August 2023 berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) über das Flugblatt des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger: Es stammt aus dem Schuljahr 1987/88 am Burghardt Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg. Das Gymnasium nahm an einem Erinnerungswettbewerb zur deutschen Geschichte teil. Aiwanger ging damals in die elfte Klasse, und er soll in dem Kontext ein eigenes Preisausschreiben mit antisemitischen Fantasien erfunden haben. (Vgl. Auer et al.)

Das Flugblatt ist überschrieben mit „BUNDESWETTBEWERB: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“. Teilnahmeberechtigt sei jeder, „der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält.” Die Bewerber sollten sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch melden. Der erste Preis sei ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz”, der zweite Preis „[e]in lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab.“ Dritter Preis: „[e]in kostenloser Genickschuß.“ (Flugblatt in Auer et al. 2023) In dem Stil geht es weiter.
 

Informant will durch die Veröffentlichung aufklären

Die „Süddeutsche Zeitung“ ist durch einen Informanten auf dieses Flugblatt aufmerksam geworden. Dieser hatte den Text zunächst als eine Jugendsünde eingestuft, entschied sich vor dem Hintergrund verschiedener Wahlkampfauftritte Aiwangers dann allerdings dazu, das Flugblatt öffentlich zu machen und schickte es der SZ. Es ist nicht das erste Mal, dass Aiwanger mit bedenklichen und rechtspopulistischen Äußerungen auffällt. Im vergangenen Juni polemisierte er bei einer Demonstration gegen das Heizungsgesetz, „die ‚schweigende Mehrheit‘ müsse sich ‚die Demokratie zurückholen‘. Dafür ist er von Anhängern gefeiert und von anderen – auch aus der eigenen Partei und vom Koalitionspartner CSU – scharf kritisiert worden. Aiwanger selbst sah keinen Fehltritt bei sich. Er zieht seit Monaten mit der Botschaft durch die Bierzelte, dass er sich nicht den Mund verbieten lasse.“ (Auer et al. 2023)

Aufgrund des Hinweises recherchierte die Zeitung, um, so gut es ging, den Wahrheitsgehalt der Aussage des Informanten und den Inhalt des Flugblattes zu überprüfen: „Die SZ hat mit rund zwei Dutzend Personen gesprochen, die Hubert Aiwanger aus dessen Schulzeit kennen, mit früheren Lehrkräften, früheren Klassenkameraden. Mehrere dieser Personen sagen, Aiwanger sei als Urheber dieses antisemitischen Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden. Ein Lehrer, der damals dem Disziplinarausschuss angehörte, sagte der SZ, dieser habe ‚Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblattes entdeckt worden waren‘. Ein anderer sagte, Aiwanger habe seine Urheberschaft nicht bestritten. Ein schwerer Verdacht, den der Sprecher des Freie-Wähler-Vorsitzenden auf Nachfrage bestreitet. Er könne ‚weitergeben, dass Hubert Aiwanger so etwas nicht produziert hat‘, teilt der Sprecher mit. Und sollte die SZ über das Flugblatt berichten, kündigt er an, dass sich Aiwanger juristisch ‚gegen diese Schmutzkampagne‘ wehren werde.“ (Ebd.)
 

Schwierige Recherche

Bei der Recherche in Niederbayern wehren viele ab, Aiwanger kann sich dort vieler Sympathisanten gewiss sein. Dennoch gebe es nicht wenige, die redeten, schreibt die SZ: „Man kann das nicht alles wiedergeben, nicht alles überprüfen, jeder hat seine eigenen Erinnerungen. Und aus all den Erinnerungen ergibt sich ein Bild, das Hubert Aiwanger als einen jungen Mann zeigt, der mindestens eine Faszination gehabt haben soll für Hitler, für das ‚Dritte Reich‘. Kann es sein, dass ein halbes Dutzend Leute das alles nur erzählt, um Aiwanger zu schaden?“ (Ebd.)

Mehrere Personen erinnern sich, dass es damals einen Disziplinarausschuss in der Schule gegeben habe, der sich mit dem Flugblatt befasst habe. Aiwanger sei als Urheber zur Verantwortung gezogen worden und er habe zur Strafe ein Referat über die NS-Zeit aufgebrummt bekommen. (Vgl. ebd.) Inzwischen behauptet Aiwanger, nicht er, sondern sein Bruder sei der Autor gewesen. Er habe es nur dabeigehabt, möglicherweise, um es zu verteilen.
 

25 Fragen und Antworten mit Fragezeichen

Die Veröffentlichung der Vorwürfe trifft die bayerische Landesregierung sechs Wochen vor den Landtagswahlen. Ministerpräsident Söder ist auf Aiwanger, der bei seinen Freien Wählern unumstritten ist, angewiesen. Andere Koalitionsmöglichkeiten wird es wohl kaum geben, zumal Söder die Grünen als Koalitionspartner kategorisch ausgeschlossen hat. Er hat Aiwanger 25 Fragen gestellt, die dieser am Freitag, den 1. September abends, schriftlich beantwortet hat. Am Sonntag, dem 3. September, lud Söder kurzfristig zu einer Pressekonferenz ein und erklärte, die Sachlage würde eine Entlassung nicht rechtfertigen: „Söder begründete das Ergebnis seiner Abwägung damit, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Aiwanger das kritisierte Flugblatt verfasst oder verbreitet habe. Zugleich liege der Vorfall 35 Jahre zurück, und seither sei nichts Vergleichbares bekannt geworden. Aiwanger habe in seiner Jugend wohl schwere Fehler gemacht und das auch zugestanden. Er habe sich dafür ‚entschuldigt, davon distanziert und auch Reue gezeigt.‘ Aiwangers Entschuldigung sei ‚spät‘, aber ‚nicht zu spät‘ gekommen. Die Entschuldigung sei richtig und notwendig gewesen.“ (Kammler 2023)
 

Aiwanger nennt Veröffentlichung „schmutziges Machwerk“

Der Fragebogen wurde inzwischen veröffentlicht und lässt mehr Fragen offen, als er beantwortet (vgl. tagesschau 2023). Auch dass Aiwanger tatsächlich Reue empfindet, ist eher zweifelhaft: „Kurz nach Söders Pressekonferenz äußerte sich Aiwanger bei einem Wahlkampfauftritt in einem Bierzelt in Grasbrunn erneut zu den Vorgängen. ‚Das war ein schmutziges Machwerk‘, sagte er. ‚Die Freien Wähler sollten geschwächt werden.‘ Doch die Partei sei durch die Vorwürfe ‚gestärkt worden‘, fügte er hinzu. Seine Gegner seien mit ihrer ‚Schmutzkampagne‘ gescheitert. ‚Ich freue mich, dass wir politisch weiterarbeiten können und in diesem Sinne arbeite ich für Bayern weiter‘. Parallel schrieb Aiwanger auf der Plattform X, ehemals Twitter: ‚Jetzt bestätigt sich, was ich von Anfang an gesagt habe: Es gibt keinen Grund, mich zu entlassen, die Kampagne gegen mich ist gescheitert.‘“ (Kammler 2023) Das heißt praktisch: Aiwanger sieht bei sich selbst keine Schuld, die Vorwürfe seien vielmehr das Machwerk einer gegen ihn gerichteten Verdachtspresse.
 

Ist das Verdachtsjournalismus?

Gegen die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ im Fall Aiwanger gab es mehrere Beschwerden beim Deutschen Presserat: „Die Beschwerdeführenden kritisieren den Angaben zufolge sehr allgemein ihr Missfallen an der Form der Verdachtsberichtserstattung. Einige bezweifeln demnach auch, dass es überhaupt ein öffentliches Interesse an den Vorwürfen gegen den bayerischen Wirtschaftsminister und stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) gibt. Der Presserat werde die Beschwerdeführer daher bitten, ihre Kritik an der Berichterstattung zu konkretisieren und mitzuteilen, welche Darstellungen ihrer Ansicht nach gegen den Pressekodex verstoßen, sagte Presseratssprecherin Sonja Volkmann-Schluck dem Evangelischen Pressedienst (epd): ‚Erst dann können wir prüfen, ob wir ein Verfahren gegen die ‹Süddeutsche Zeitung› einleiten.‘“ (rks 2023)

Prof. Karl-Nikolaus Peifer, Leiter des Instituts für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität zu Köln, hält die Veröffentlichung der SZ für unproblematisch: „Im juristischen Sinne handelt es sich in diesem Fall nicht um Verdachtsberichterstattung. Die Voraussetzungen, die daran geknüpft sind, dienen dem Schutz der Unschuldsvermutung in einem laufenden Strafverfahren. In dem Komplex Aiwanger besteht allerdings nicht einmal die Möglichkeit für ein Ermittlungs- oder Strafverfahren – der Vorwurf ist längst verjährt. Damit sind die Maßstäbe für den Verlag etwas niedriger. Aber natürlich muss die Berichterstattung trotzdem kritisch betrachtet werden, immerhin ist sie für Aiwanger immens reputationsschädlich.“ (Platz 2023)

Auch den Erfolg einer Beschwerde beim Presserat hält Peifer für unwahrscheinlich: „Der Pressekodex sieht etwa eine sorgfältige Recherche vor. Gerade bei diesem schwerwiegenden Vorwurf müssten mehrere Menschen befragt worden sein. Die Äußerung einer einzigen Person reicht nicht. Demzufolge, was im Ausgangsbericht zu lesen war, hat die SZ das getan. In der weiteren Berichterstattung merkt man zudem, dass es tatsächlich sehr viele Menschen gibt, die etwas zu dem Thema zu sagen haben. Diejenigen, die die Informationen lieferten, müssten besonders kritisch und nachdrücklich befragt worden sein. Sich auf Gerüchte oder nebenher Gesagtes zu verlassen, wäre fahrlässig gewesen. Besonders wichtig ist es auch, dass Herr Aiwanger vor der Veröffentlichung die Möglichkeit zur Stellungnahme hatte. Das ist hier geschehen, denn das führte ja zu seinem ersten Dementi. Bei der Recherche kann ich bisher also keine grobe Verletzung erkennen.“ (Ebd.) Dass die SZ die Namen der Zeugen aus Aiwangers Umfeld nicht preisgibt, ist aus Peifers Sicht kein Problem, denn die Presse muss Informanten schützen, wenn diese es wollen. (Vgl. ebd.)
 

Quellen:

Auer, K. / Beck, S. / Glas, A. / Osel, J. und Ott, K.: Das Auschwitz-Pamphlet. In: Süddeutsche Zeitung, 25.08.2023. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)

Henkel, S.: Aiwanger zu Vorwürfen. „Das bin nicht ich“. In: tagesschau.de, 01.09.2023. Abrufbar unter: www.tagesschau.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)

Kammler, J.: Flugblatt-Affäre in Bayern. Söder hält an seinem Vize Aiwanger fest. In: tagesschau.de, 03.09.2023. Abrufbar unter: www.tagesschau.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)

Platz, S. im Gespräch mit Peifer, K.-N.: Jurist über Aiwanger-Berichte. „Dann hätte man den Uralt-Vorwurf nicht drucken dürfen“. In: ntv.de, 02.09.2023. Abrufbar unter: www.n-tv.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)

rks: Sechs Beschwerden über Aiwanger-Berichterstattung beim Presserat. In: epd medien, 29.08.2023. Abrufbar unter: epd.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)

tagesschau: Flugblatt-Affäre. Wie Aiwanger die 25 Fragen beantwortete. In: tagesschau.de, 03.09.2023. Abrufbar unter: www.tagesschau.de (letzter Zugriff: 04.09.2023)