Verdachtsjournalismus aus der Perspektive der Rechtsprechung

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Marc Liesching

Skandale oder Fehler von Menschen öffentlich zu machen, war schon immer ein Kerngeschäft der Medien. Das reicht von kleineren Vergehen über verbale sexuelle Anzüglichkeiten bis zur Vergewaltigung. Meist handelt es sich bei den Beschuldigten um Personen des öffentlichen Lebens: Politiker, Musiker, Sportler oder Schauspieler und Regisseure. In letzter Zeit häufen sich Vorwürfe, jemand habe bei der Doktorarbeit nicht sauber gearbeitet. Kann man also, wenn man einen Prominenten nicht leiden kann, auf gut Glück ein Gutachten von Plagiatsjägern einholen, in der Hoffnung, dadurch Verfehlungen bei der Verfassung der Doktorarbeit zu finden und das dann veröffentlichen? Viele solcher Fälle landen später vor Gericht. Über die rechtlichen Grenzen des Verdachtsjournalismus sprach mediendiskurs mit Dr. Marc Liesching, Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig.

Online seit 14.06.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/verdachtsjournalismus-aus-der-perspektive-der-rechtsprechung-beitrag-772/

 

 

Warum sind Menschen, die Fehler machen, für die Medien so interessant?

Das hängt sicher auch mit dem wirtschaftlichen Druck auf Presseorgane zusammen, die nicht mit 8,2 Mrd. Euro öffentlichen Rundfunkbeiträgen gesegnet sind und stattdessen vor allem von Werbeeinnahmen leben, deren Höhe von Klickzahlen oder hohen Auflagen abhängen. Und da stellt sich die Frage: Wie evoziere ich als Sender oder Zeitschrift eine möglichst hohe Aufmerksamkeit? Und dafür eignen sich traditionell Skandalthemen, die möglichst personifiziert sind. Wir kennen das aus der Nachrichtenwerttheorie: Faktoren wie Personifizierung, Sensationalismus, Überraschung etc., wie sie bei Verfehlungen von Prominenten zusammenkommen, generieren ein hohes Interesse und viel Aufmerksamkeit.

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) hat im Rahmen der Berichterstattung über die Vorwürfe gegen den Frontmann und Sänger der Band Rammstein, Till Lindemann, einen Brief der Anwälte Lindemanns, die bekannte Kanzlei Schertz Bergmann, kritisiert. Die Anwälte haben gedroht, dass Journalisten mit Klagen rechnen müssen, wenn sie nicht absolut rechtskonform über die Vorwürfe berichten – das sei eine Drohung.

Till Lindemann ist allein wegen der weltweiten Bekanntheit seiner Band eine Person der Zeitgeschichte. Und da ist schon ein öffentliches Interesse auch am Verhalten der Band vorhanden, vor allem auch bei den Konzertbesuchern. Aber was das Beschwerdeschreiben des Journalistenverbands angeht: Wenn ein Rechtsanwalt ankündigt, dass er die Mittel des Rechtsstaates nutzt und die Rechtmäßigkeit der Berichterstattung gerichtlich überprüfen lassen wird, halte ich das nicht für illegitim. Und: Das Landgericht Hamburg hat den Anwälten und ihren Anträgen ja zu einem Gutteil recht gegeben. Vor diesem Hintergrund kann man ihnen nicht vorwerfen, dass sie vorher ankündigen: Wir lassen das gerichtlich überprüfen. Aus ethischer Perspektive muss man ja auch sehen, dass eine solche Berichterstattung schon zu einer Existenzbedrohung führen kann, wirtschaftlich oder auch mental gesundheitlich, bei Lindemann vielleicht nicht, aber bei vielen anderen schon.
 


Große Aufreger bringen Aufmerksamkeit und Auflagen. Wenn sich das dann hinterher als nicht richtig herausstellt, ist es keine große Meldung, weil das weniger Aufmerksamkeit generiert.“



Alexandra Föderl-Schmid, Vize-Chefredakteurin der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“), wurde vorgeworfen, sie habe bei ihrer Doktorarbeit nicht sauber gearbeitet und Passagen ohne Kennzeichnung übernommen. Über Wochen war das Thema in allen Medien. Nun hat Anfang April die Universität Salzburg und am 16. Mai auch eine von der „SZ“ eingesetzte Kommission klargestellt: Es gab kleine Fehler, die Arbeit sei aber insgesamt in Ordnung, die Doktorwürde wird nicht entzogen. Dazu gibt es nur eine kurze Meldung. Müsste man nicht zumindest in ähnlicher Intensität über die Entlastung informieren wie bei den Beschuldigungen?

Große Aufreger bringen Aufmerksamkeit und Auflagen. Wenn sich das dann hinterher als nicht richtig herausstellt, ist es keine große Meldung, weil das weniger Aufmerksamkeit generiert. Aber die Stigmatisierungswirkung der Berichterstattung ist ja nicht nur ein ethisches Thema, das benennt auch der Bundesgerichtshof (BGH) ganz klar: Wenn noch nicht sicher ist, ob sich am Ende der Vorwurf tatsächlich bestätigt und sich Verfehlungen oder Schuld allein auf Mutmaßungen stützen, liegt die Messlatte sehr hoch, weil die Stigmatisierung enorm ist. Und: Bei Rezipienten bleibt ungeachtet der Unschuldsvermutung immer etwas hängen, auch wenn sich hinterher der Verdacht nicht bestätigt. Und das gilt für die Verdachtsberichterstattung in besonderem Maße. Der BGH betont immer sehr klar die Bedeutung des Persönlichkeitsrechts. Auch, wenn die Vorwürfe wahr sein mögen, muss man sensibel abwägen, ob man dann mit der Namensnennung über solche Personen berichten darf.

Wenn sich beim „Spiegel“ eine Frau mit dem Vorwurf meldet, ihr Chef habe sie mit der Aussicht auf beruflichen Aufstieg zum Sex überredet oder sie sogar gegen ihren expliziten Willen  unangemessen angefasst oder gar vergewaltigt: Worauf muss ein Journalist achten, wenn er das veröffentlicht?

Meistens entstehen solche Verdachtsmomente auf der Grundlage von Zeugenaussagen von Opfern, die ihre Aussagen eidesstattlich versichern. Und rechtlich ist die Presse dann grundsätzlich befugt, bei einem angenommenen öffentlichen Interesse hierüber zu berichten: Die Wahrnehmung berechtigter Interessen ist geschützt durch Artikel 5 Grundgesetz. Aber man darf nicht einfach ins Blaue hinein diese Verdachtsmomente veröffentlichen, sondern sie müssen auf hinreichende Beweistatsachen gestützt sein, so nennt es der BGH. Und im Fall des „Spiegels“ mit Till Lindemann gab es Zeugenaussagen von Opfern. Das Gericht hat diese aber in vielen Punkten nicht als hinreichende Beweisgrundlage angesehen. Zum Beispiel wurde aus diesen Einzelaussagen zu sexuellen Übergriffen und aus der Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten in dem „Spiegel“-Artikel insinuiert, dass solche sexuellen Übergriffe bei Rammstein systematisch stattgefunden hätten. Diese Behauptung sah das Landgericht Hamburg als nicht hinreichend belegt: Wenn nur ein Opfer seine subjektiven Eindrücke schildert – was es gehört hat oder was vorgefallen sein mag –, dann kann man daraus nicht folgern, dass das systematisch immer so geschehen ist. Damit war der „Spiegel“ nach Ansicht der Kammer des LG Hamburg zu weit gegangen, das war nicht hinreichend durch Beweistatsachen gestützt.

Wann darf die Presse den Beschuldigten namentlich nennen und wann nicht?

Das hängt von seiner Prominenz und vom öffentlichen Interesse ab. Verschiedene Parameter müssen gegeneinander abgewogen werden. Aber: „Der Spiegel“ und die Presse können nicht immer sicher antizipieren, wie eine Pressekammer hinterher urteilt. Sie müssen also selbst abwägen und entscheiden: Ist das von öffentlichem Interesse und gehen wir damit jetzt raus? Das war damals auch im Fall Dieter Wedel eine riskante Entscheidung, als große Berichterstattungsorgane sich entschlossen hatten, die sexuellen Vorwürfe öffentlich zu machen. Bei solch heikler Beweislage kann man oft nicht absolut sicher vorhersagen, wie der Fall dann später juristisch entschieden wird.

Der Wetterexperte und Journalist Jörg Kachelmann ist von einer Freundin angezeigt worden. Sie warf ihm vor, sie vergewaltigt zu haben. Er war sehr prominent, und entsprechend wurde darüber berichtet. Dabei wurde sein ganzes Privat- und Sexleben öffentlich verhandelt. Am Ende wurde er in einem Prozess freigesprochen: Die Vorwürfe könnten stimmen, aber die Beweise reichen für eine Verurteilung nicht aus. Fazit: Kachelmann kämpft immer noch um die Wiederherstellung seiner Reputation.

In einem Rechtsstaat muss die Schuld bewiesen werden. Solange das nicht der Fall ist, gehen wir von der Unschuld aus: Im Zweifel für den Angeklagten, in dubio pro reo, es bleibt ein Zweifel und dann kann man die Person nicht verurteilen. Es ist nicht der Freispruch erster Klasse, bei dem die Unschuld erwiesen ist, sondern es steht manchmal am Ende Aussage gegen Aussage. Das ist genau das Dilemma, das wir auch bei der Verdachtsberichterstattung haben, weil sie immer mit Handlungs- und Schuldzuweisungen zusammenhängt. Wir haben meistens Anschuldigungen durch Zeugen oder durch dritte Personen, die behaupten, dass etwas so gewesen ist, und der Beschuldigte ist davon betroffen. Und wenn der oder die Betroffene den Vorwurf abstreitet, muss die Presse entscheiden, ob und in welchem Umfang darüber öffentlich berichtet wird.

Aber auch im Fall des ehemaligen Talkshow-Moderators Andreas Türck war die Berichterstattung wohl rechtlich in Ordnung, weil sie sich ja auf Zeugenaussagen und auf den daraus folgenden Gerichtsprozess bezogen hat.

Ja, das ist in Ordnung. Wenn die Verdachtsberichterstattung so abläuft: Es gibt einen Verdacht, es gibt Ermittlungen, es gibt Zeugen, ein Prozess ist wahrscheinlich und man spricht von einem mutmaßlichen Täter. Die Journalistinnen und Journalisten wissen es auch nicht genau, solange es nur Verdachtsberichterstattung ist. Und sie stellen sich die Frage: Soll man alles unter dem Deckel halten, bis es nach Jahren ein rechtskräftiges Urteil gibt? Oder besteht nicht vorher schon ein Berichterstattungsinteresse?

Wenn man durch Skandalisierung Aufmerksamkeit erreichen will und die Gesellschaft die Empörung nicht teilt, kann man auch in eine Falle tappen: Die „SZ“ wollte Hubert Aiwanger durch die Veröffentlichung seiner rechtsradikalen Jugendsünden in seiner Popularität schaden, aber die Wähler haben sich der Empörung nicht angeschlossen.

Man wird unterscheiden müssen, ob es in einer Berichterstattung um persönliche Verfehlungen geht, die vor allem eine Stigmatisierungswirkung entwickeln, oder ob sich eine politische Berichterstattung kritisch mit einer bestimmten Partei, zum Beispiel der AfD, auseinandersetzt. Bei der Berichterstattung über das Geheimtreffen rechtsgerichteter Personen in Potsdam, die die Remigration planten und das von Correctiv recherchiert wurde, ist es natürlich Gift für die beabsichtigte Empörung der Rezipienten, wenn im Nachhinein in einer gerichtlichen Auseinandersetzung Beteiligte an diesem Treffen Recht bekommen und die Redaktion von Correctiv ihre Beiträge mehrfach ändert. Die einen sagen: Na gut, das ist halt Journalismus, der muss dynamisch sein und mit wachsenden Erkenntnissen und neuen Tatsachen die Berichterstattung anpassen. Andere sagen aber: Das sind diese Systemmedien, die der AfD etwas unterschieben wollen und dadurch die AfD in der Opferrolle sehen. Zum Beispiel haben Herrn Aiwanger die „SZ“-Vorwürfe mit Blick auf den Ausgang der Landtagswahl möglicherweise mehr genutzt als geschadet. Trump insinuiert die Gerichtsprozesse gegen ihn und die Berichterstattung als „Hexenjagd“ – und seine Anhängerschaft wird dies wohl auch so sehen. Deutung und Framing sind da oft machtvoller als die Tatsachen selbst.
 


Man wird unterscheiden müssen, ob es in einer Berichterstattung um persönliche Verfehlungen geht, die vor allem eine Stigmatisierungswirkung entwickeln, oder ob sich eine politische Berichterstattung kritisch mit einer bestimmten Partei, zum Beispiel der AfD, auseinandersetzt.“



Besonders häufig steht der Vorwurf von sexuellen Übergriffen im Raum, oft handfeste Übergriffe, aber auch als Kompliment verpackte sexuelle Anzüglichkeiten. Ich denke da an die Dirndl-Affäre von Rainer Brüderle vor der Bundestagswahl 2013.

Nach der Rechtsprechung des BGH gelten gesteigerte Sorgfaltspflichten für professionelle Medien noch stärker als für Bürger, die darüber in sozialen Medien berichten. Solche öffentlichen Behauptungen setzen auf jeden Fall eine Recherchepflicht voraus. Neben dieser Recherchepflicht hat der BGH 2022 betont, dass bei einer solchen Veröffentlichung dem Angeschuldigten im Rahmen der journalistischen Recherche die Gelegenheit zur Stellungnahme geboten werden muss. Und wenn eine Stellungnahme nicht so schnell zu erreichen ist, darf der Vorwurf so lange nicht veröffentlicht werden. Die Anforderungen sind aus meiner Sicht zu Recht sehr hoch. Aber, wie der Fall Brüderle und die MeToo-Debatte insgesamt zeigen, ist die Verdachtsberichterstattung nicht nur für die von falschen Vorwürfen Betroffenen relevant. Sie hat möglicherweise auch eine gesellschaftliche Pflegewirkung: Es werden die Grenzen und die Risiken klar, wenn sich Menschen in dieser oder jener Weise übergriffig verhalten.

Aber man muss – gerade auch mit Blick auf Brüderle – zwischen der Schwere der Vergehen unterscheiden: Geht es im Extremfall um Straftatbestände, die man jemandem vorwirft, oder geht es „nur“ um eine moralische Verfehlung? Freilich kann auch Letztere enorme Auswirkungen haben. Denken Sie an das Laschet-Lachen im Ahrtal. Bei Kondolenzbesuchen für die 180 Toten bei der Flutkatastrophe wird Armin Laschet dabei gefilmt, wie er herzhaft lacht. Die Veröffentlichung dieses Videos und der daraus entnommen Bilder sorgte für Empörung: Wie kann man angesichts eines solch traurigen Anlasses lachen. Nach der Framing-Forschung kann man vermuten, dass dieses eine Standbild mit dem Schlumpf-Lachen Laschet seinen Wahlsieg gekostet haben könnte. Das zeigt: Die Berichterstattung muss einen moralischen Vorwurf noch nicht einmal artikulieren, das Bild sagt alles, da braucht man keine Beweise. Und es reicht, einen Frame zu kolportieren, um der Bevölkerung eine moralische Wertung nahezulegen: Laschets Lachen ist pietätlos, dort, wo 180 Menschen gestorben sind. Den wähle ich nicht. Was wäre das für ein Kanzler?

Kommen wir mal zu der zunehmenden Skandalisierung von zum Teil abgeschriebenen Doktorarbeiten. Der erste bekannte Fall war der von Karl-Theodor zu Guttenberg.

Ja, die Staatsanwaltschaft in Hof hat bei mehreren Passagen der Dissertation strafrechtlich relevante Urheberrechtsverletzungen festgestellt, sie stellte dann das Strafverfahren gegen eine Bußgeldauflage von 20.000 Euro an eine gemeinnützige Institution ein.

Danach ist es modern geworden, Doktorarbeiten von Prominenten auf Plagiatsvorwürfe untersuchen zu lassen, etwa die von Annette Schavan, von Franziska Giffey und kürzlich von der Berliner Verkehrssenatorin Manja Schreiner. Der Österreicher Stefan Weber ist auf Plagiatsaufdeckungen spezialisiert, und hat zumindest im Falle von Alexandra Föderl-Schmid dafür 2.000 Euro von Julian Reichelt erhalten, dem eher konservativen Chefredakteur des Nachrichtenportals Nius, der den liberalen Kurs der „SZ“ wohl nicht mag. Weber sah den Vorwurf als berechtigt an. Reichelt hat Webers Urteil ohne eigene Prüfung übernommen und der Beschuldigten keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Hat er damit nicht gegen die vom BGH aufgetragene Sorgfaltspflicht verstoßen?

Wenn eine Verdachtsberichterstattung in Bezug auf urheberrechtswidrige Plagiate veröffentlicht wird, dann muss eine entsprechende Recherche und eine Stellungnahme des oder der Betroffenen vorliegen. Nun könnte man vielleicht argumentieren, Vorwürfe sexualisierter Gewalt seien ein viel schwerwiegenderer Vorwurf als ein Plagiat, deshalb könnte man hier darauf verzichten. Aber gerade, wenn die betroffene Person aus der Politik oder auch aus dem Journalismus kommt, dann hängt damit die Frage zusammen, ob sie täuscht, ob man ihr vertrauen und ob sie sorgfältig arbeiten kann. Und deshalb hat ein solcher Vorwurf durchaus ein enormes Gewicht. Und entsprechend halte ich die Anforderungen an eine Verdachtsberichterstattung in solchen Fällen für vergleichbar mit denen, die wir vorhin besprochen haben. Als ich noch in meiner Münchner Kanzlei gearbeitet habe, haben wir uns in vielen Plagiatsfällen die Doktorarbeit bestellt und sie genau angeschaut. Und die Verfehlungen in den einzelnen Doktorarbeiten sind gravierend unterschiedlich. Es gibt ganz klare Plagiate, es gibt aber auch Fälle, in denen es kleinere Fehler sind, die eher nicht zur Entziehung des Doktortitels ausreichen. Und hier hat man das Dilemma, dass man die Betroffenen vernichtet oder stigmatisiert, und wenn sich später herausstellt, dass sie ihren Titel behalten dürfen, ist es manchmal zu spät – die Karriere ist dann zu Ende oder massiv beschädigt.
 


Bei Rezipienten bleibt ungeachtet der Unschuldsvermutung immer etwas hängen, auch wenn sich hinterher der Verdacht nicht bestätigt. Und das gilt für die Verdachtsberichterstattung in besonderem Maße.“



Hängt es auch von der Schwere des Vorwurfs ab, ob ein öffentlicher Verdacht gerechtfertigt ist?

Wenn jemand sexuell übergriffig ist oder für Russland spioniert, dann ist die Schwere der Tat eine andere als bei Bagatellfällen und eine Veröffentlichung ist eher zu rechtfertigen. Der BGH sagt das auch ausdrücklich in seiner Verdachtsberichterstattungsrechtsprechung: Wenn die Delinquenz schwerer ist als die übliche Kriminalität, dann hat das Gewicht und legitimiert eher eine Verdachtsberichterstattung.

Jan Böhmermann hat im Oktober 2022 Arne Schönbohm, damals Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, vorgeworfen, mit ehemaligen Agenten des KGB aus Russland zu kooperieren – er sei ein Sicherheitsrisiko. Außerdem suggeriert Böhmermann, Schönbohm sei nur an diesen Job gekommen, weil er der Sohn von Jörg Schönbohm ist, dem ehemaligen Innenminister von Brandenburg. Er wurde daraufhin von Innenministerin Nancy Faeser in ein anderes Amt versetzt. Um die Anschuldigungen offiziell klären zu lassen, hatte Schönbohm selbst ein Disziplinarverfahren gegen sich gefordert, was aber aus Mangel an Anhaltspunkten erst gar nicht eröffnet wurde. Wenn man so etwas Schwerwiegendes behauptet, muss man da nicht handfeste Hinweise haben?

Das Format ZDF Magazin Royale ist eine Mischung aus Satire und Journalismus. Das ist eine günstige Zwitterstellung: Es ist einerseits journalistisch-investigativ und führte in der Vergangenheit zur Offenlegung mancher Skandale. Aber es ist auch Satire und überspitzt, persifliert. Wenn ich journalistisch-investigativ mit dem Anspruch der Wahrheit daherkomme, dann muss ich mich, auch wenn das Format satirisch ist, an die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung halten, sonst begehe ich unter Umständen eine Persönlichkeitsrechtsverletzung. Besonders gut verträgt sich das mit satirischer Überzeichnung nicht immer.

Schönbohm will nun gegen Böhmermann, das ZDF und gegen die Bundesinnenministerin gerichtlich vorgehen. Das ZDF hat er auf Unterlassung und 100.000 Euro Schadensersatz verklagt. Das ZDF hat die Forderung zurückgewiesen.

Da muss man die Details kennen, um einzuschätzen, ob die journalistische Sorgfaltspflicht eingehalten wurde. Ich weiß nicht, welche Recherchetiefe erreicht worden ist. Aber sehr wahrscheinlich gelten die Grundsätze des BGH zur journalistischen Sorgfalt bei Verdachtsberichterstattung auch hier. Und wenn sorgfältig recherchiert wurde und Böhmermann sich an die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung gehalten hat, dann würde Schönbohm möglicherweise auch unterliegen.

Allgemein ist aus meiner Sicht wissenswert: Es gibt seit November 2020 grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die Landesmedienanstalten aufsichtsrechtlich einschreiten können, wenn journalistisch-redaktionell gestaltete Internetangebote die journalistische Sorgfalt (§ 19 Medienstaatsvertrag) nicht einhalten. Wir haben also einmal die Strafverfolgung, dann zweitens den zivilrechtlichen Klageweg der Betroffenen, und jetzt gibt es theoretisch auch die Möglichkeit eines Aufsichtsverfahrens der Landesmedienanstalten, allerdings wohl nicht gegen das ZDF, weil die Zuständigkeit (§ 105 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 MStV) auf Aufsichtsmaßnahmen gegen „private“ bundesweite Anbieter beschränkt ist.

Schönbohm beruft sich vor allem darauf, dass selbst im Verfahren des Ministeriums keine Hinweise auf die von Böhmermann verbreiteten Vorwürfe gefunden wurden. Nancy Faeser hat nach der negativen Prüfung wohl noch einmal bei den Ermittlern angerufen und sie aufgefordert, weiterzusuchen. Aber es wurde auch beim zweiten Mal nichts gefunden.

Verdachtsberichterstattung rechtfertigt zunächst keine Verdachtskündigung und keine Verdachtsversetzung. Das war nach meiner Wahrnehmung ein zu impulsives politisches Handeln. Politikerinnen und Politiker, die ein Ministeramt übernehmen, sind Leiter einer obersten Behörde mit Verantwortung für ihr Personal und können nach meiner persönlichen Einschätzung nicht so frei agieren wie an irgendeinem politischen Stammtisch.

Böhmermann hat nun in einem anderen Fall selbst geklagt. Ein Imker aus Sachsen hat eine Honigsorte hergestellt und mit einer Bienenpartnerschaft verbunden, angeblich, um die bedrohten Bienen zu unterstützen. Böhmermann hatte daraus den Vorwurf abgeleitet, das sei Greenwashing, denn diese Bienen seien überhaupt nicht gefährdet. Der Bienenzüchter reagierte mit Humor und kreierte einen „Beewashing-Honey“, den er mit dem Gesicht des „selbst ernannten Bienenexperten“ Böhmermann bewarb. Böhmermann sah sich in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt und klagte. Der Imker bekam eine Abmahnung, die er nicht befolgte, und der Fall landete vor dem Landgericht Dresden: Böhmermann verlor. Danach ging er in Berufung, und der Imker sagt nun, er könne sich ein Berufungsverfahren nicht leisten und bittet um Spenden.

Wenn Menschen in dieser Sendung wenig zimperlich durch den Kakao gezogen werden, finde ich diese Art Satire als Reaktion ganz pfiffig. Dass man dann derart reagiert, verstehe ich persönlich nicht, und ich halte es für nachvollziehbar, dass Böhmermann den Prozess verloren hat – ohne die Details freilich zu kennen. Aber der Imker trägt nun das weitere Prozesskostenrisiko. Böhmermann gibt sich im Rahmen des Sendeformates sehr sozial und insinuiert ein Fluidum der Aufdeckung des Bösen. Dann gegen einen armen Imker vorzugehen, passt nach meiner Einschätzung nicht so recht ins Bild.

Nach dem Strafrecht gilt bis zum Gerichtsurteil die Unschuldsvermutung. Noch einmal zurück zum Fall Till Lindemann: Wäre er ein normaler Bürger, hätte sein Name veröffentlicht werden dürfen?

Wenn Till Lindemann nicht Sänger der Gruppe Rammstein und damit von öffentlichem Interesse und eine Person der Zeitgeschichte wäre, sondern einfach mein Nachbar, dann kann zwar berichtet werden, dass es einen solchen Fall gibt und dazu ermittelt wird, aber es darf eher nicht der Name des im Verdacht stehenden, mutmaßlichen Täters genannt werden. Ob man den Betroffenen namentlich nennen darf, ist freilich eine Einzelfallabwägung. Auch wenn es sich um eine herausragende Tat handelt, darf der Name in der Regel nicht genannt werden. Aber auch hier gibt es Ausnahmen in Extremfällen. Wenn die Delinquenz sehr herausragend groß ist und erhebliches öffentliches Interesse gegeben ist, kann auch eine namentliche Nennung von Normalbürgern in der Berichterstattung in Ordnung sein. Aber die Anforderungen, den Namen bei Normalbürgern zu veröffentlichen, sind andere als bei sehr prominenten Personen wie Till Lindemann. Man muss im Einzelfall abwägen zwischen den Persönlichkeitsrechten, die durch die Veröffentlichung verletzt werden, und dem Interesse der Öffentlichkeit. Allerdings kann man nicht immer vorhersehen, wie die Richter dies im Einzelfall gewichten und am Ende entscheiden.
 


Wenn Till Lindemann nicht Sänger der Gruppe Rammstein und damit von öffentlichem Interesse und eine Person der Zeitgeschichte wäre, sondern einfach mein Nachbar, dann kann zwar berichtet werden, dass es einen solchen Fall gibt und dazu ermittelt wird, aber es darf eher nicht der Name des im Verdacht stehenden, mutmaßlichen Täters genannt werden.“



Wenn jemand Opfer von Verdachtsjournalismus wird und dagegen vorgehen will: Was würden Sie ihm raten?

Wenn die Tatsachenbehauptungen nicht wahr sind, dann sollte man grundsätzlich dagegen vorgehen. Vor allem dann, wenn die Berichterstattung eine Tatbegehung ohne hinreichende Beweistatsachen insinuiert. Es geht um den eigenen Leumund, es geht um die Reputation, die Glaubwürdigkeit. Man weiß als Betroffener in aller Regel, ob die Behauptung wahr ist oder nicht, und das wäre für mich die entscheidende Demarkationslinie. Viele Vorwürfe sind freilich schwer nachweisbar, da steht Aussage gegen Aussage. Journalisten wie Richter können letztlich nicht in die Köpfe der betroffenen mutmaßlichen Täter und potenziellen Opfer hineinschauen. Sicher wird auch erfolgreich viel bestritten, was tatsächlich vorgefallen ist. So war es immer und wird es wohl auch künftig sein. Auch wenn dies im Einzelfall unzulänglich erscheinen mag: Zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und seinen Prinzipien wie der Unschuldsvermutung oder wie jene, die vom BGH zur Verdachtsberichterstattung entwickelt worden sind, sehe ich keine gerechtere Alternative.

Dr. Marc Liesching ist Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Fakultät Informatik und Medien der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK).

Prof. Joachim von Gottberg war bis Dezember 2023 Chefredakteur der Fachzeitschrift „mediendiskurs“ und ist aktuell Chefredakteur der Zeitschrift „Jugend Medien Schutz-Report“.